Karl Lauterbach will gerichtlich klären lassen, ob man ihn im Bundestag irre nennen darf. Das einzige Problem: Niemand hat das getan. Das Verfahren verspricht hohen Unterhaltungswert.
Ein paar Tage ist es nun schon her, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach dem deutschen Publikum eine der wohl eigenwilligsten Anzeigen der Bundestagsgeschichte in Aussicht stellte. Er hat seine Ankündigung immer noch nicht zurückgezogen. Die Vorfreude ist groß, das kann was werden. Der Bundesminister, den sowieso sehr viele Menschen im Land für verrückt halten (ich vermute sogar, die Mehrheit derer, die sich für Politik interessieren), nicht wenige davon auch für „völlig irre“, der will jetzt die öffentliche Diskussion über seinen Geisteszustand von sich aus erst richtig anheizen. Sie sozusagen gerichtlich klären lassen, ein für allemal. Er hat deshalb Anzeige erstattet, er will den irren Prozess.
Lauterbach meint, in der Bundestagsdebatte über das neue Coronapaket von der AfD-Abgeordneten von Beatrix von Storch den Zwischenruf vernommen zu haben: „Sie sind ja völlig irre“. Und dabei habe sie, so Lauterbach, mit ihrem Zeigefinger auch noch kreisende Bewegungen an ihrer Kopfseite getätigt, ihm sozusagen den Vogel gezeigt. Deshalb wolle er die Fraktionsvize wegen Beleidigung anzeigen. Dabei stellt nun inzwischen sowohl das amtliche Bundestagsprotokoll als auch der an dem Tag amtierende Bundestagspräsident Wolfgang Kubicki (FDP) fest, von Storch habe gesagt: „Das ist doch völlig irre“. Das sei auf Lauterbachs Sätze, nicht auf seine Person bezogen gewesen. Deshalb, so Kubicki, habe er auch darauf verzichtet, von Storch zur Ordnung zu rufen.
Es entbehrt nicht an Unterhaltungswert, wie sich der für seine Überdrehtheit bekannte Minister wieder mal in eine missliche Lage gebracht hat. Vorher überlegen ist seine Sache offenbar nicht. Soll er seinen Vorstoß jetzt zurückziehen? Gegenüber einer AfD-Politikerin klein beigeben? Das wäre peinlich. Würde sie im Prozess allerdings obsiegen, wäre es umso peinlicher. Gemein wie sie ist, hat sie inzwischen Gegenanzeige gestellt. Wegen falscher Anschuldigungen. Das Bundestagsprotokoll (und FDP-Kubicki) geben ihr recht.
Lauterbachs Problem: Hat er nun also auch in einer ganz persönlichen Angelegenheit falschen Alarm gegeben, nachdem ihm dies politisch wegen seines Corona-Alarmismus längst von allen Seiten nachgesagt wird? „Karl Lauterbach ruft Feuer, um dann Feuerwehr zu spielen – obwohl er weiß, dass es gar nicht brennt“, amüsiert sich der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Tino Sorge. Und eben jener Kubicki gibt sich auf giftige Weise mitfühlend: „Der Mann isst kein Salz, der Mann isst keinen Zucker, trinkt keinen Alkohol, hat keine Freundin. Mein Gott, was hat der Mann vom Leben – außer Corona?“ Als FDP-Politiker hat er das gesagt, nicht als Bundestagsvizepräsident, aber eben auch als Ampel-Kollege. Experten, Betroffene, Politiker aller Coleur, Bürger schütteln längst den Kopf über Lauterbachs Corona-Apokalyptik.
„Völlig irre“, das soll eine Beleidigung sein? Im Bundestag?
So oder so: Die Sache hat deshalb Unterhaltungswert, weil sie amüsant ist, lächerlich. Es wäre schade, würde Lauterbach im Vorfeld zur Vernunft kommen und die Sache noch stoppen, nach einer Woche dürfen wir nun Hoffnung schöpfen. „Völlig irre“, das soll eine Beleidigung sein? Im Bundestag? „Sie sind ein Schwein. Wissen Sie das?“ musste sich der CDU-Abgeordnete Jürgen Wohlrabe vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner vorhalten, und obendrein noch als „Übelkrähe“ benennen lassen, auf unnachahmlich-wehnersche Weise kam so etwas stets für alle ansatzlos, ja oft genug auch anlasslos vor. Als sein Fraktionskollege Friedhelm Fahrtmann einmal den CSU-Abgeordneten Richard Jaeger so hart anging, dass ihn der Parlamentspräsident um Mäßigung bat, kam von Wehner ein: „Nur so kann man Ungeziefer abwehren, Herr Präsident“. Das Repertoire der Zwischenrufe des langjährigen SPD-Fraktionschefs „Strolch“, „Quatschkopf“, "Dreckschleuder“, „Schleimer“, „einstudierter Pharisäer“, alles in den Bundestagsprotokollen nachzulesen. Und in dem köstlichen Büchlein „Unglaublich, Herr Präsident. Ordnungsrufe Herbert Wehner“ von Schmidt Klaus und Ralf Floehr, das in den 1980er Jahren zunächst im Verlag "Lafleur" und anschließend bei Zweitausendeins erschien
Ordnungsrufe bekam Wehner für so etwas oft genug, 77 in seiner Bundestagskarriere, Strafanzeigen keine. Und obwohl er sicher Rekordhalter ist und bleibt, sowohl mit der Anzahl seiner Ordnungsrufe als auch mit dem Niveau seiner spontanen Interventionen, die Zwischenrufe im Bundestag generell sind im Laufe seiner 73-jährigen Geschichte mitunter starker Tobak. Die Grünen, bei der Unterstützung Lauterbachs (wenn er dabei bleibt) in seinem Vorgehen gegen die AfD-Abgeordnete – wie ich mal vermute – ganz vorn dabei, haben sicher alle davon gehört, dass ihr All-Time-Star Joschka Fischer einmal ausgerechnet dem Parlamentspräsidenten, dem zweithöchsten Repräsentanten der Republik, ein „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“ entgegenschleuderte, für das ganze Land hörbar. Strafanzeige? Fehlanzeige.
Auf die Idee einer solchen Strafanzeige muss man da auch erst einmal kommen. Vor allem, weil die Abgeordneten Immunität genießen bei ihren Worten, auch bei ihren Vorwürfen gegenüber Kollegen, aus gutem Grund. Die Redefreiheit ist ein hohes Gut im Parlament. Gewiss, die Immunität kann aufgehoben werden, mit der Mehrheit der Abgeordneten. Dies geschieht in aller Regel dann, wenn Abgeordnete in Skandale verwickelt sind, meist wenn es um Geld geht, ungerechtfertigte Vorteilsnahme, Untreue, Steuerhinterziehung. Wegen „völlig irre“? Das wäre eine neue Qualität, nicht nur wegen der inhaltlichen Harmlosigkeit der „Beleidigung“, sondern auch wegen der Art des Deliktes, nämlich einer inkriminierten Wortwahl. Schon gar wenn der Vorhalt nicht einer Person, sondern einer Aussage galt.
Und so darf man gespannt sein, ob das Parlament und alle Fraktionen außer der AfD sich dazu hergeben, sich für diese Mission Lauterbachs einzusetzen. Die Erfahrung bei der doch reichlich überzogenen Abgrenzung von der rechten Partei (ohne dass ich mich für sie einsetzen möchte, ich kritisiere hier allein den Umgang mit ihr) lassen hier vermuten, dass auch diese Gelegenheit genutzt wird, es ihr mal wieder zu zeigen, aus Prinzip, gegen Rechts zieht immer. Egal wie unflätig die eigenen Fraktionskollegen in der Parlamentsgeschichte selbst sich geschossen haben. Und egal, ob dies nicht doch manchen „bürgerlichen“ Zeitgenossen nachdenklich stimmt.
So werden wir wohl den Prozess um diese Schmonzette genießen dürfen. Und auch wenn dies so in der medialen Begleitung nicht zum Thema gemacht werden wird (und nach amtlicher Lage auch gar nicht Gegenstand des inkriminierten Zwischenrufs war): Die Frage, inwieweit unser Gesundheitsminister „völlig irre“ sei, dürfte bei jeder Berichterstattung im Raum stehen, unweigerlich. Er hat es so gewollt. Man darf im Sinne guter Unterhaltung in diesen schweren Tagen nur hoffen, dass der Fall durch alle möglichen Instanzen geht.
Eines muss Lauterbach klar sein: Die Tatsache, dass er den Prozess offensichtlich gegen alle Vernunft durchziehen will, ist jedenfalls kein Beweis dafür, dass er nicht irre ist.