Von Ulrich Schödlbauer.
Vor bald hundert Jahren postulierte der Soziologe Karl Mannheim: Die Zahl der Ideen ist endlich und im Grundsatz sind alle bekannt. Ihr angemessener Gebrauch besteht folglich darin, sich mit ihrer Hilfe möglichst vorteilhaft in der Öffentlichkeit zu positionieren und sie so für die eigene Klientel nutzbar zu machen.
Seit der Kausalzusammenhang von CO2-Ausstoß und Erderwärmung unter die politischen Ideen aufgerückt ist, trägt er für viele skeptisch eingestellte Mitmenschen den Stempel des Dogmas – verständlicherweise, da wissenschaftliche Hypothesen, vor allem so extremer Art, Widerlegungsgefahren unterliegen, vor denen sich die Politik fürchtet wie der Christenteufel vorm Weihwasser. Man muss schon dran glauben, wenn’s wirken soll – von dieser Art waren alle bisher von Staaten geschlossenen Klimaabkommen und ihre "Umsetzungen" in den Ländern, in denen es etwas daran zu verdienen gab.
Entsprechend tief sitzt der Schock, wenn ein offenkundig Ungläubiger just in einem Land an die Hebel der Macht gelangt, das soeben noch die größten Profite versprach. So tief sitzt der Schock, dass der Ungläubige selbst, gnädig gestimmt, seine Helfer landauf, landab verkünden lässt: Aber er glaubt doch ... irgendetwas.
Und dennoch ... sie ist und bleibt grundfalsch, die Rede von "Klimareligion" und "Klimakirche", auch wenn sich ein Dutzend Päpste oder mehr in den Domänen des Weltklimarats und seiner Zuträger tummeln und eine wachsende Zahl von Häretikern sich noch immer mehr als die Zunge verbrennt, sobald es zum Schwur kommt. Sie wäre allein deshalb falsch, weil dieser angeblichen Religion, bei aller Glaubensseligkeit und Pogrombereitschaft, das Entscheidende fehlt: das Sakrale. Mancher, der allenthalben "heilige Überzeugungen" am Werk sieht, mag da widersprechen. Doch ungemütlich wird es erst, sobald die wirklichen Kirchen sich einmischen, um über diesen Nebenpfad einen Fuß in die Tür der großen Politik zu bekommen und ihren Schäfchen einen neuen Steuerchip einzupflanzen.
Kein Dogma bleibt sakrosankt, so bald die Politik sich der Sache bemächtigt
Eine Idee, einmal ins politische Feld geworfen, ist kein Dogma. Eher lässt sie sich einem Spielball vergleichen, mit dem die verschiedenen Spieler, bei Strafe der Marginalisierung, ihr Glück zu versuchen verdammt sind. Deshalb ist nichts unpolitischer, als den Gegnern der CO2-Fraktion Interessenpolitik vorzuwerfen: Darum geht es schließlich. Wer das Angstbild Wärmetod auffährt, darf sich nicht allzu zimperlich zeigen, wenn die Gegenseite das Angstbild Deindustrialisierung zückt.
Auch die moralische Diskreditierung des Gegners verläuft nicht immer nach Wunsch: Wer Eliminierungswünsche streut, erntet rascher Hohn, Hass und Verachtung als ihm lieb sein kann. Wer antritt, den Planeten zu retten, der wird schnell darüber belehrt, dass er nicht allein auf der Welt ist. Wer mit falschen Statistiken operiert, muss sie sich lange vorhalten lassen, auch wenn er längst neuere, vielleicht nicht weniger falsche Statistiken in der Tasche trägt. Keine Meinung, kein Wissen, vorgeblich oder begründet, kein Dogma bleibt sakrosankt, sobald die Politik sich der Sache bemächtigt.
"Sie glauben also..."
"Nein, ich glaube nicht."
"Sie glauben also nicht, dass..."
"Irrtum. Ich glaube nicht, weil es hier nichts zu glauben gibt."
Die Differenz will nie in die Köpfe.
"An welche Theorie glauben Sie denn jetzt?"
Man beachte das "jetzt".
Erfolg – und die Klimaforschung ist, gemessen an ihrer politischen Durchsetzungskraft, ein extrem erfolgreicher Wissenschaftszweig mit allen sich daraus für seine Vertreter ergebenden Vorteilen – Erfolg allein macht aus einer Wissenschaft noch lange keine Religion. Er lässt nur Züge an ihr stärker hervortreten, die gewöhnlich den Wissenschaftlern allein und ein paar Bildungspolitikern bewusst sind. Ihre Kenntnis benötigt man aber, um zu begreifen, wie das Zusammenspiel mit der Politik funktioniert.
Hypothesen – nichts anderes produziert Wissenschaft – besäßen in der Mehrzahl der Fälle nur eine kurze Lebensdauer, wären alle notwendigen Kräfte des jeweiligen Fachs vom Zeitpunkt ihres Erscheinens an auf das gerichtet, was Karl Popper einst den Prozess der Falsifikation nannte: Also ihre Überprüfung, Kontextualisierung, Anpassung, Widerlegung, Preisgabe oder Neufassung unter veränderten Prämissen. Das Gegenteil ist der Fall.
Durch Totschlagargumente gegen jede Kritik abgeschirmt
Die notwendigen Kräfte sind immer gebunden. Sie konzentrieren sich auf den Normalbetrieb, also auf die Propagierung, Ausbeutung und Weiterentwicklung von Theorien, die es im sozialen Rennen nach oben geschafft haben. Standardtheorien sind ausgereifte Hypothesen, die durch ein Netz von Zusatzannahmen gegen Kritik gesichert, im Zweifelsfall immunisiert, soll heißen durch Totschlagargumente gegen jede Kritik abgeschirmt werden.
Standardtheorien, lässt man die Grundlagenforschung einmal beiseite, funktionieren in der Regel so ähnlich wie die heiligen Kühe der Politik, also jene allseits respektierten Positionen, von denen jede allein soviel Wählerstimmen bindet, dass, wer an ihnen kratzt, sich schneller isoliert und entsorgt sieht, als er seine Ansichten nachkorrigieren kann. Die Handlanger der Mächtigen, der Leiter und Leitungsstäbe der führenden Forschungsinstitute, der Vergabeinstitute, der Stiftungen etc. sind eilends zur Stelle, wenn es gilt, ein Unglück zu verhindern.
Standardtheorien heißen deshalb so, weil sie die zauberhafte Fähigkeit besitzen, bestimmte Hypothesen auf Dauer zu stellen und dadurch Karrieren, stabile Hierarchien und garantierte Mittelflüsse zu ›generieren‹. Konkurrierende Theorien können so bequem abgedrängt und für Jahre und Jahrzehnte ins soziale Abseits verschoben werden. Im Ernst: Wer, außer ein paar Außenseitern, würde sich intensiv mit ihnen beschäftigen? Vorsicht – Verlust an Lebenszeit! Die Folge ist, dass sie bei weitem nicht so ausgearbeitet sind wie diejenigen, gegen die sie antreten. Wen wundert’s, dass sie in der Regel alle möglichen Fragen offen lassen? Da die Beschäftigung mit ihnen sich ohnehin nicht lohnt, können sie daher bequem mit Standardargumenten abgewehrt werden, angesichts derer ihre Vertreter schon von weitem das Gähnen überkommt.
Aber das wissenschaftliche Ethos?
Was nützt das beste Ethos, wenn Sie mit Informationsmonopolen zu kämpfen haben, wenn Sie nicht oder nur verzögert an Datenmaterial kommen, wenn Sie empirische Aussagen nicht überprüfen, wenn Sie keine Mitarbeiter beschäftigen können, wenn der gewaltige Maschinenpark einer modernen Wissenschaftsdisziplin, wenn die notwendige Rechnerkapazität Ihnen nicht oder nur unzureichend zur Verfügung steht? Wenn Sie nicht zu Vorträgen eingeladen werden, wenn Ihre Aufsätze von führenden Organen verschmäht, von der Community ignoriert, von den Medien verhetzt werden? Wenn Ihre Bücher ungelesen in Bibliotheken verschimmeln?
Nichts nützt es Ihnen. Sie sind gezwungen, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Sehen Sie, so wird man Normalwissenschaftler: Man beschäftigt sich mit etwas anderem. Das Gros der Wissenschaftler eines Fachs beschäftigt sich mit etwas anderem – zu integer, um sich um die Platzhirsche zu drängen, zu besonnen, vielleicht auch zu ängstlich, um den Kampf mit einem Sechzehnender aufzunehmen, zu bequem und oft zu fürsorglich, um auf den eigenen Teil am Forschungskuchen zu verzichten, zu gewissenhaft, um sich an der Jagd nach zweifelhaften Trophäen zu beteiligen. Wissenschaft kennt viele ungeklärte Fragen, es bleibt immer zu tun, es fällt auch immer etwas dabei ab.
Eine hübsche, unter Laien weitgehend unbekannte Disziplin, gelegentlich Labortheorie genannt, ergründet seit langem, warum gewisse Forschungsansätze hartnäckig verfolgt, andere, obgleich vielversprechend, eingefroren oder sträflich vernachlässigt werden, warum die Arbeit an bestimmten Instituten automatisch bestimmte Verfahrensweisen und Grundüberzeugungen in wissenschaftliche Fragestellungen einschleust, warum Wissenschaftler in charakteristischen Lebenssituationen abrupt Forschungsthemen und -ansätze wechseln, unter welchen Voraussetzungen gegenüber Öffentlichkeit oder Auftraggebern an Lehrmeinungen festgehalten wird, die intern als widerlegt oder nicht mehr up to date gelten, warum Finanzierungsprobleme Forschungsansätze abschleifen oder bis zu Unkenntlichkeit verstümmeln. Das Ergebnis lautet stets gleich: Karriere, Reputation, "Prestige", Profitorientierung, Einflussnahme seitens Wissenschaftsmanagement und Wirtschaft über die Vergabepraxis für Drittmittel, schließlich: politischer Ehrgeiz, oft genug in Verbindung mit bürokratischen, nicht selten ministeriellen Weichenstellungen.
So geht Forschung.
Ein Weltklimarat ist der größte Erfolg und der größte anzunehmende Unfall von Wissenschaft – ganz ohne Korruption. Eine Win-win-Konstellation, in der es praktisch keine Verlierer gibt, stattdessen eine Geld- und Machtmaschine, die wie ein Perpetuum mobile wirkt und überdies das Sinndefizit der postindustriellen Gesellschaft füllt – wie ließe sich dergleichen wohl aushebeln?
Glauben Sie weiter, leben Sie überzeugt. Die Politik wird es Ihnen danken, der Wissenschaftsbetrieb wird sich Ihrer bei Gelegenheit freundlich erinnern, die Schöpfung oder was immer Sie gerade retten wollen, indem Sie Ihrem Nachbarn, der’s nicht glauben will, eins aufs Maul geben, weiß nichts von alledem und das ist, nach Lage der Dinge, besser so. Vergessen Sie nicht: Sie sind der Finanzier.
Ulrich Schödlbauer ist Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Essayist. Dieser Beitrag erschien zuerst auf Globkult.