Von Meir Seidler.
Wenn man die deutsche Presse liest, hat man den Eindruck dass die Deutschen aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskommen. Die Willkommenskultur hat sie vor Herausforderungen gestellt, denen sie mehrheitlich nicht gewachsen sind. Man ist einfach überfordert. Der Shitstorm, der sich seit Monaten in der Handschütteldebatte austobt, ist ein gutes Beispiel dafür.
Das Handschütteln oder Handgeben ist tatsächlich in fast allen Kulturen gang und gäbe. Seine Universalität beruht vielleicht auf einer ursprünglichen kulturübergreifenden Friedensgeste. Man reicht seinem Gegenüber die rechte, im Kriegsfall waffentragende Hand, um ihm so zu bedeuten: fühl mal, ich komme ohne Waffen, in friedlicher Gesinnung. Natürlich ist das nur symbolisch gemeint, zumal man ja, wie die Bibel zu erzählen weiss, die Waffe auch woanders verstecken kann, insbesondere wenn man Linkshänder ist. Im dritten Kapitel des Buches der Richter wird die Geschichte von Ehud erzählt, der den Moabiterkönig Eglon auf diese Weise austrickste. Aber wie gesagt, die Geste ist eine symbolische Freundschaftsgeste und wird wohl auch so verstanden. Soweit zum möglichen/mutmaßlichen Ursprung des Händeschüttelns.
Nun gibt es da aber noch einen ganz anderen, zwischengeschlechtlichen Aspekt, der von dem oben Gesagten ganz unabhängig ist, bzw. zu ihm im Widerspruch stehen kann. In manchen Kulturen wird darauf geachtet, dass Frauen und Männer, die miteinander nicht verheiratet sind, auch nichts miteinander haben dürfen. So ist es zum Beispiel im orthodoxen Judentum, und so war es wohl anno dazumal auch im christlichen Abendland, bevor man sich dort auf die Vorzüge des freien Auslebens der Sexualität verlegt hat.
Man wird ja noch keusch sein dürfen!
Sexuelle Abstinenz vor der Heirat ist seither eine in westlichen Augen arg archaische Wertvorstellung, bei der, so hat man den Eindruck, ein auf sexuelle Freizügigkeit fixierter Europäer geradezu Gänsehaut kriegt. Dem orthodoxen Juden hingegen ist genau diese sexuelle Freizügigkeit ein Graus. Das kann man gut finden oder auch nicht, verordnen sollte man sexuelle Freizügigkeit allerdings nicht. Man wird ja noch keusch sein dürfen (um mal ein mittlerweile wohl ausrangiertes Wort zu benutzen). Andere Kulturen, andere Sitten.
Was hat das alles nun mit Händeschütteln zu tun? Eigentlich gar nichts, wäre da nicht Sigmund Freud, der uns lehrt, dass der Mensch dauernd von seiner Sexualität umhergetrieben wird. Das Judentum scheint da ganz auf der Freudschen Linie zu liegen. Es geht davon aus, dass zwischengeschlechtliche Umarmungen, Schubser, Hand- oder Wangenküsse u.s.w. eben nie ganz von diesem Aspekt frei sind. Sicherheitshalber verfügt man deshalb, dass Mann/Frau gegenseitig, wenn unverheiratet, überhaupt keinen direkten körperlichen Kontakt haben, nicht einmal per Hand.
Hütet Eure Augen!
Jüdische Männer werden sogar, extrem freudianisch, dazu angehalten, ihre "Augen zu hüten". Inwiefern das klappt ist eine andere Frage, aber es wird auf jeden Fall angeraten. Das kann einem übertrieben erscheinen oder nicht, sinnvoll oder weniger sinnvoll (vielleicht sogar kontraproduktiv nach dem Motto: einer der nicht hingucken darf, guckt erst recht hin) – das Augenhüten ist jedenfalls das jüdisch-orthodoxe Ideal. Mit Frauenverachtung hat das nichts zu tun, das kommt aus einer anderen Ecke.
Dass auch das im orthodoxen Judentum praktizierte Nicht-Handgeben nichts mit Frauenverachtung zu tun hat, sondern etwas mit der oben beschriebenen, nennen wir es mal, restriktiven Sexualmoral, lässt sich einfach beweisen: Es geht ja nicht nur von Männern aus, vielmehr reicht auch eine Frau einem Mann nicht die Hand. Da es im Islam genauso zu sein scheint (moslemische Schülerinnen gegenüber ihrem deutschen Lehrer), ist damit erwiesen, dass auch dort der Ursprung des Nicht-Handreichens eben in dieser restriktiven Sexualmoral liegt und nicht in Frauenverachtung. An letzterer mangelt es dort vielleicht auch nicht, aber da sollte man eben woanders suchen, statt sich an der falschen Stelle festzubeißen.
Der langen Rede kurzer Sinn: man sollte sich die Lächerlichkeit einer "Sie-geben-uns-jetzt-mal-schön-die-Hand"-Ideologie ersparen. Trotz der kulturellen Verunsicherung, die eine Akzeptanz des Nicht-Handgebens mit sich bringt, sollte man Moslems, orthodoxen Juden und sonstigen Sonderlingen (Leuten mit anders motivierten Berührungsängsten) erlauben, es damit zu halten, wie sie lustig sind.
Dr. Meir Seidler, 58, ist Dozent für jüdische Philosophie im Department of Jewish Heritage an der Ariel University in Israel. Er wurde im Nach-68er-Westdeutschland sozialisiert, ein Trauma, von dem er sich noch immer nicht erholt hat. Wenn er rückfällig wird, surft er ab und an auf deutschen Internetseiten.