Gastautor / 25.08.2021 / 12:00 / Foto: Pixabay / 100 / Seite ausdrucken

Holocaust- und NS-Vergleiche auf Corona-Demos: „Geschichts-Revisionismus“?

Analogien, Vergleiche und Metaphern im Zusammenhang mit dem Dritten Reich sorgen regelmäßig für Empörung, gleichwohl sind sie weit verbreitet. Was steckt dahinter?

Von André Postert.

Mit Geschichte ist man derzeit permanent konfrontiert. Und man muss fast sagen: bedauerlicherweise. Auf den Hygiene- und „Querdenker“-Demos spielt Vergangenheit eine wichtige Rolle, um die Lockdown-Politik, Infektionsschutzmaßnahmen, deren Befürworter sowie die politischen Entscheider zu diskreditieren. Demonstranten verglichen das Infektionsschutzgesetz rasch mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis von 1933; die Polizei, welche die Maßnahmen durchsetzen musste, mit der Geheimen Staatspolizei oder der Stasi; die Bundesrepublik mit der DDR; und den Protest gegen die Maßnahmen mit der Friedlichen Revolution von 1989. Einzelne wähnen sich gar in der Tradition des anti-nationalsozialistischen Widerstands. Für Entsetzen sorgten – und sorgen nach wie vor – die mit der Aufschrift „Ungeimpft“ versehenen gelben Sterne, welche an die von den Nazis 1941 zur Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung eingeführten „Judensterne“ erinnern. Ob sie verboten werden sollen oder verboten werden können, wird diskutiert.

Im Eifer des Gefechts traten Wissenschaftler, zivilgesellschaftliche Akteure, Politiker und Behörden in den letzten Monaten mit ihren Bewertungen dieses Phänomens an die Öffentlichkeit. Aber nicht alles wirkt zu Ende gedacht. Manche Äußerung scheint so übereilt wie ärgerlich. Man schaue sich lieber noch einmal genauer an, womit man es da eigentlich zu tun hat.

Geschichte in der Politik

Totalitäre Diktaturen und Regime verpflichten Menschen auf Geschichtsbilder, um ihre Herrschaft abzusichern. Auch in Demokratien ist die Vergangenheit ein Werkzeug und eine Waffe, jedoch nicht monopolisiert, sondern – im Idealfall – von Nutzen für viele. Dass die Geschichte also nützlich sein kann, sagt schon aus: Hier geht es um etwas anderes als um die wissenschaftliche Wahrheit allein. In der Politik wird die Vergangenheit oft zum Argument, zum Schutzschild, zur Munition, zum Tabu oder zur Provokation. Edgar Wolfrum definierte „Geschichtspolitik“ 1999 als ein „Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen. Sie zielt auf die Öffentlichkeit und trachtet nach legitimierenden, mobilisierenden, politisierenden, skandalisierenden, diffamierenden u.a. Wirkungen in der politischen Auseinandersetzung.“ [1]

Abstrakter ist der Begriff „Erinnerungskultur“. Gemeint ist eine Gesamtheit, die sich aus vielen Teilen zusammensetzt: familiär tradierte oder erzählte Erinnerung, gemeinschaftliche Rituale, staatliche Gedenktage, Museen und Gedenkstätten, Denkmäler, Straßennamen und vieles weitere mehr. [2] Die „Geschichtspolitik“ steht zur „Erinnerungskultur“ in einem Nahverhältnis: Sie will erinnerungskulturelle Normen oder anerkannte Geschichtsbilder beeinflussen, verändern, manipulieren, vereinnahmen, verteidigen oder angreifen. [3] Geschichtspolitische Konflikte werden oft mit Hilfe von Analogien, über Vergleiche und Metaphern sowie mit Polemik entfacht.

Relativierung und Instrumentalisierung?

Die Verbrechen des Nationalsozialismus und der Holocaust formen spätestens seit den 1980er Jahren das erinnerungskulturelle Fundament der Bundesrepublik. Diese „Vergangenheitsbewältigung“ hatte schon immer – und hat bis heute – ihre dezidierten Gegner: Im harten rechtsextremistischen Kern werden die nationalsozialistischen Verbrechen in der Regel geleugnet, seltener sogar gerechtfertigt. Vom „weichen“ Extremismus bis hinein in das rechtskonservative Lager dominiert eher die Relativierung oder Infragestellung – nicht zuerst der Verbrechen, sondern des kollektiven Erinnerns und Gedenkens. Zwei Beispiele seien hier angeführt, um zu zeigen, wodurch sich die intendierte Verharmlosung von der Instrumentalisierung unterscheidet. Denn diese Unterscheidung ist wichtig.

Jean-Marie Le Pen, damals Vorsitzender des französischen Front National, sorgte in den 1980er Jahren europaweit für Furore. Wiederholt nannte er den Holocaust ein „Detail des Zweiten Weltkriegs“. [4] Opfer und Tote habe es auf allen Seiten gegeben. Le Pen leugnete den Holocaust folglich nicht, stellte ihn aber in seiner Bedeutung für die westeuropäischen Erinnerungskulturen infrage. Franz Schönhuber, Vorsitzender der deutschen Republikaner, Ende der 1980er Jahre europäischer Partner Le Pens, sorgte zur selben Zeit unter anderem mit geschichtsrevisionistischen Bestsellern für Aufsehen. Offen forderte er „historischen Revisionismus“ [5], sprach von seiner „geschichtlichen Wahrheit“ [6] und formulierte brüsk die Frage, ohne eine Antwort geben zu wollen: „Waren es sechs, vier, zwei Millionen oder gar ‚nur‘ 300.000 tote Juden?“ [7] Beide Beispiele stehen für bewusste geschichtspolitische Angriffe auf die erinnerungskulturelle Norm.

Heute sorgen unter anderem die zu Protestsymbolen umfunktionierten gelben „Judensterne“ der Demonstranten für Entsetzen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hat sie der Erscheinungsform „Post-Shoa-Antisemitismus“ zugeordnet. Im medial breit aufgegriffenen, im Juni 2021 vorgestellten RIAS-Jahresbericht für 2020 rangiert sie mit 907 Fällen an der Spitze. Per definitionem meint „Post-Shoa-Antisemitismus“ „den Umgang mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen, beispielsweise wenn die Erinnerung an die NS-Verbrechen abgelehnt wird oder diese bagatellisiert werden.“ [8] Das sind zwei durchaus miteinander verwandte, aber gesondert zu betrachtende Dinge.

Die Ablehnung des Gedenkens manifestiert sich in Begriffen wie „Schuldkult“ oder in Relativierungen wie jener Le Pens und Schönhubers. Klar auch: Wer die Existenz des Holocaust leugnet, muss die Erinnerungskultur zwangsläufig ablehnen und wird sie attackieren. Noch drastischer: Ablehnung kann heißen, Gedenktafeln mit Hakenkreuzen zu beschmieren. Mit der Bagatellisierung verhält es sich anders. Denn was eine Verharmlosung darstellt, kann auch vom Urteil des Betrachters abhängen. Dass die „Impfsterne“ dem „Post-Shoa-Antisemitismus“ zugerechnet wurden, begründet der RIAS-Jahresbericht 2020 mit zweierlei: Erstens handele es sich um eine Verharmlosung der NS-Verbrechen – gewiss ist das so. Zweitens hätten sich die Nachkommen der Täter mit deren Opfern gleichgesetzt. Damit scheint ein wichtiges Kriterium für den sekundären Antisemitismus erfüllt zu sein: die Täter-Opfer-Umkehr. [9] Im Verfassungsschutzbericht 2020 heißt es ähnlich: „Die Relativierung des Holocaust ist eine Form des Antisemitismus. Indem man einen gelben Stern trägt, stellt man sich auf eine Stufe mit den Opfern des Nationalsozialismus und verharmlost damit NS-Verbrechen ganz bewusst.“ [10]

Haben die Demonstranten die Judenverfolgung und den Holocaust tatsächlich verharmlosen wollen, war also die Bagatellisierung ihr Ziel? Das kann man nicht behaupten, ohne sie gefragt zu haben. Die Täter-Opfer-Umkehr folgt im klassischen Rechtsextremismus einer anderen Logik, nämlich meist in einem historischen Bezugsrahmen. Man denke beispielsweise an die Metapher vom „Bombenholocaust“ in Bezug auf die alliierten Angriffe auf deutsche Großstädte. Dass es um einen derartigen Rollentausch nicht gegangen sein kann, wird schnell klar, wenn man feststellt, dass „Impfsterne“ und andere Holocaust-Analogien international Verbreitung gefunden haben. Dokumentiert wurden sie auf Kundgebungen unter anderem in Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Tschechien, Rumänien. Ja, und sogar in Israel sind sie aufgefallen, genauer gesagt bei Demonstrationen in Tel Aviv im Februar 2021. Die Impfgegner – zu denen offenbar überwiegend orthodoxe Juden zählten – wehrten sich dagegen, dass der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen vom Impfstatus abhängen sollte. Mit der Verwendung des „Gelben Sterns“ zogen sie eine Parallele zwischen der Entrechtung der Juden durch die Nationalsozialisten und dem eingeführten „Green Pass“, der den Geimpften Sonderrechte gewährte. Mittlerweile ist das Dokument in Israel wieder abgeschafft. [11]

Esoteriker, Friedensbewegte, linke Globalisierungskritiker ebenso wie rechtsextreme Geschichtsrevisionisten und Holocaust-Leugner waren auf den Protesten in Deutschland präsent. Die Reichsbürger trugen ihre verqueren Symbole zur Schau. Klassische antisemitische Verschwörungslegenden – etwa über die angebliche Macht der Familie Rothschild – sind dokumentiert. Die Heterogenität des Protests erfordert Differenzierungen. Die Instrumentalisierung ist von der intendierten und gezielten Bagatellisierung zu unterscheiden, ferner der „weiche“ Revisionismus von der „harten“ Holocaust-Leugnung. Führt man das alles etwa im Begriff des „Post-Shoa-Antisemitismus“ als ein- und dasselbe Phänomen zusammen, verdunkelt man nicht nur die Heterogenität der Protestmotive. Man versteht sie schlicht nicht. Dass die gelben Sterne und viele weitere Anspielungen auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eine verharmlosende Wirkung haben, mag und muss man so sehen. Diese Bewertung muss jedoch von der Absicht einer geschichtspolitischen Intervention getrennt werden: Mittels „Impfsternen“ und vielen weiteren Provokationen wurde die Shoa auf abwegige, ja verwerfliche Weise vereinnahmt. Gleichwohl: Die Erinnerung wurde vereinnahmt – nicht abgelehnt oder attackiert, nicht revidiert, die Geschichte nicht geleugnet.

Holocaust und Nationalsozialismus in der Politik

Holocaust-Anspielungen finden sich über Partei- und Lagergrenzen hinweg. Offensiv und weniger offensiv – die Aufzählung ist nicht vollständig – bei der AfD, der Klimaprotest-Bewegung, unter harten Abtreibungsgegnern (Stichwort: „Babycaust“), bei Tierschützern oder Femen-Aktivistinnen. Letztere hatten bei einer Aktion gegen Zwangsprostitution in Hamburg 2013 „Arbeit macht frei“ auf eine Tafel geschrieben und dann oberkörperfrei vor dem Schriftzug posiert. [12] Auf dem Grünen-Parteitag im Juni 2021 sorgte die Publizistin Carola Emcke mit einer Holocaust-Anspielung für Aufregung und Kritik. Der Vorwurf der Verharmlosung prallte am Ende ab: Nicht die Judenverfolgung habe sie verharmlosen wollen, sondern die Austauschbarkeit von Feindbildern thematisiert. [13] Gerade die Holocaust-Anspielungen unterliegen einem besonderen geschichtspolitischen Gebot: Der Vergleich kann durchaus noch akzeptabel sein, die Gleichsetzung ist es meist nicht. In der Praxis bewegt man sich auf einem schmalen Grat, dessen Abgründe rhetorisch gemeistert oder verdeckt werden müssen.

Zum größten Aufreger des Jahres 2020 gehörte Jana aus Kassel, die auf der Bühne ebenso naiv wie selbstherrlich gesagt hatte, sie fühle sich in ihrem Widerstand wie Sophie Scholl. Die Studentin, darf man annehmen, hatte nicht die Verharmlosung des NS-Terrorapparates im Sinne – sonst hätte sie sich nicht auf eine der wichtigsten Erinnerungsfiguren der Bundesrepublik bezogen. Das enorme Medienecho könnte zu der Annahme verleiten, Jana aus Kassel sei ein besonders krasser Fall gewesen. Das war er nicht. Sophie Scholl ist omnipräsent und wird andauernd vereinnahmt. Auf dem unter anderem vom SWR getragenen Instagram-Kanal "@ichbinsophiescholl" lassen sich seit Anfang Mai 2021 die letzten Monate ihres Lebens nachverfolgen. Quellen und Fakten werden dort mit fiktiven Spielszenen und Monologen verwoben. Dass Brücken zur Gegenwart gebaut und im Umfeld des Kanals regelmäßig politisiert wird, ist beabsichtigt. Das Publikum soll zu Engagement angeleitet werden. [14] Zwei weitere Beispiele: Ellen Kositza, eine neurechte Publizistin, sah sich Anfang 2020 auf Twitter mit einem Kritiker konfrontiert. Dieser hatte sie aufgefordert, sie solle ihren „bedauernswerten“ Kindern die Geschichte der „Weißen Rose“ nahebringen. Kositza antwortete: Scholl sei längst die Heldin ihrer Töchter. [15] Rund ein Jahr später äußerte die für ihr Engagement in der Seenotrettung bekannte Carola Rackete – ebenfalls auf Twitter: Wenn Sophie Scholl heute noch lebte, dann wäre sie bei der lokalen Antifa aktiv. [16]

Gezielte Revision der Geschichte?

Solche Vereinnahmungen ähneln dem Fall der Kasseler Studentin – oder dem einer 11-Jährigen aus Karlsruhe, die Ende 2020 auf der Bühne gesagt hatte, sie fühle sich wie „bei Anne Frank“, weil sie bei ihrer Geburtstagsfeier habe still sein müssen, um nicht erwischt zu werden. Auch ihr ist von maßgeblichen Seiten Geschichtsrevisionismus vorgeworfen worden. [17] Sicher: Einige „Querdenker“ haben die Erinnerungskultur in eine dramatische Fehlperzeption der Gegenwart eingebaut; das Gedenken in einem diffusen, mitunter verschwörungstheoretischen Kontext fortgeschrieben. Von Leugnung der Geschichte kann man indes nicht sprechen. Und von Revisionismus nur, wenn man annimmt, dass es unsere Erinnerungskultur grundsätzlich verbietet, sich auf Opfer und Verfolgte zu beziehen. Freilich sind die einst klaren Grenzen zwischen Tätern und Opfern fast 80 Jahre nach Kriegsende längst nicht mehr so präsent. Die Zeitzeugen sind mittlerweile gestorben. Es heißt vielfach, man solle sich in die Opfer einfühlen und sich mit deren Erfahrungen und ihrer Leidensgeschichte vertraut machen, aber man solle sich nicht mit ihnen identifizieren. [18] Was sich auf Papier gut liest, ist in der Praxis verzwickt. Das wird man beim Besuch einer Gedenkstätte feststellen. Dass unsere Erinnerungskultur maßgeblich von einem Täter-Bewusstsein getragen wird, darf man bezweifeln. Den 8. Mai etwa erinnern wir nicht mehr als Tag des Kriegsendes, gar der Niederlage. Wir nennen ihn: „Tag der Befreiung“.

In der Geschichtswissenschaft hat man über lange Zeit die Erstarrung, gar eine Ritualisierung des Gedenkens beklagt. Erschrocken stellen manche jetzt fest, wie sich etablierte Geschichtsbilder gegen den Status quo und die Ordnung wenden können. Das erklärt auch die Härte der Gegenwehr.

Eine der ersten Gruppen, die im Frühjahr 2020 Parallelen zwischen dem Infektionsschutzgesetz und dem „Ermächtigungsgesetz“ von 1933 gezogen hatte, war der „Demokratische Widerstand“, ein eingetragener Verein mit Sitz in Berlin, der eine gleichnamige Zeitung veröffentlicht. [19] Die Zeitung ist Corona-monothematisch, bereitet Verschwörungstheorie popkulturell auf. In einer aktuellen Ausgabe wird der von Medien verwendete Begriff „Faktencheck“ verspottet und mit der Fotografie von SA-Männern bei der Verbrennung von Büchern unterlegt. [20] Parallelen werden nicht nur zur NS- und SED-Diktatur gezogen. Man bedient sich aus dem Fundus demokratischer Tradition: Athener Demokratie, Französische Revolution 1789, Märzrevolution 1848 und Friedliche Revolution 1989. [21] Vieles gerät wild durcheinander. Dass man es nicht vorwiegend mit rechten Akteuren zu tun hat, zeigt die Verwendung des Räte-Begriffs, die vehemente Kritik am Kapitalismus oder die Verwendung gendergerechter Sprache. Man versucht sogar, den italienischen Starphilosophen der Linken, Giorgio Agamben, einzuspannen, indem sie ihn als Mitherausgeber führt. Agamben warnt seit Jahren vor der Verstetigung einer Politik des Ausnahmezustands in den westlichen Gesellschaften. Jüngst hat er sich gegen neue Einschränkungen von Freiheitsrechten gewandt. Kontakte zum Blatt hat er aber dementiert.

Jürgen Elsässers rechtspopulistisches „Compact“-Magazin ist ein anderer Fall. Es sprang auf den Corona-Zug auf und verglich die sogenannte „Gesundheitsdiktatur“ ebenfalls mehrfach mit der NS-Diktatur. [22] Gleichzeitig rückt „Compact“ – anders als der „Demokratische Widerstand“ – weiterhin klassische geschichtspolitische Chiffren und Symbole der antidemokratischen Rechten ins Zentrum. Auffällig etwa das Loblied auf die alte Reichsfahne, die auf den Kundgebungen zu sehen war. „Compact“ freute sich, dass die Flagge der Reichsbürger und Rechtsradikalen angeblich nun endlich auch unter den „Regenbogenkindern“ auf Akzeptanz stoße. [23]

Die Schattenseite der Erinnerungskultur

Schnittmengen meint man vor allem auch mit der AfD und der sogenannten Neuen Rechten zu erkennen: In deren Versuch, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, beziehen sie sich auf die Geschwister Scholl oder Graf Stauffenberg und überziehen ihre Gegner regelmäßig auch mit NS-Vergleichen und -Schmähungen. Ihr programmatisches Ziel: eine positive Traditionsbildung und die Normalisierung der deutschen Geschichte. Aber: Da die meisten Neurechten den sogenannten „Schuldkult“ und die „Schuldreligion“ zurückweisen, auf eine „erinnerungskulturelle Wende“ hoffen, begegnen sie dem Holocaust-Gedenken mit Abwehrreflexen. [24] Vordenker Götz Kubitschek schrieb Anfang 2020 anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz: „Die Vergangenheitsbewirtschaftung, die moralische Instrumentalisierung, die unehrliche Überhebung – das alles muss ein Ende finden.“ [25] Die Erinnerung an Auschwitz sei nur im Privaten bei Kerzenlicht eine ehrliche: „Das scheint mir angemessen zu sein. Alles andere nicht.“ Kaum vorstellbar, sollte man meinen, dass dessen Umfeld mit einem „Gelben Stern“ auf die Bühne träte.      

Auf den Corona-Demonstrationen haben sich NS- und Holocaust-Referenzen wohl in den westlichen Bundesländern gehäuft, genau dort, wo das Gedenken spätestens seit den 1980er Jahren die Geschichte des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Opfer und Verfolgten in den Mittelpunkt rückte. Auf Demos in Ostdeutschland haben Teilnehmer – nach bisherigen Erkenntnissen – eher Parallelen zur Friedlichen Revolution 1989 gezogen; was sich vielleicht damit erklärt, dass der Holocaust im DDR-Gedenken erheblich weniger Bedeutung besaß.

Regional unterschiedliche Bezugnahmen sind insofern ein weiterer Beleg dafür, dass man es weniger mit gezielten Angriffen auf die Erinnerung als mit deren Fortschreibung zu tun hat. Politikerinnen und Politiker sowie Fachleute behaupteen mit Unbehagen eilig: Der Nationalsozialismus würde im Gedächtnis verblassen, zu wenig Wissen sei vorhanden, was die infamen Entgleisungen erkläre. Mir scheint, dass das Gegenteil der Fall ist: Das Gedenken ist so präsent, infrastrukturell so breit aufgestellt und gesellschaftlich so lebendig wie nie. Die ständige politische Vereinnahmung der Vergangenheit ist die Schattenseite unserer Erinnerungskultur.   

Dr. André Postert, geboren 1983, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, wo er 2013 promovierte. Er lebt und arbeitet als Historiker in Dresden.

Quellen:

[1] Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999, S. 25.

[2] Stefan Troebst, Geschichtspolitik. Politikfeld, Analyserahmen, Streitobjekt. In: Etienne François/Kornelia Kończal/Robert Traba/Stefan Toebst (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989, Göttingen 2013, S. 94–158.

[3] Siehe diverse Beiträge bei Claudia Fröhlich/Horst-Alfred Heinrich (Hg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Wiesbaden 2004.

[4] Franz Schönhuber, Le Pen. Der Rebell. Front National. Modell für Deutschland, Berg 1997, S. 70; zur Debatte um die Äußerung Le Pens im Straßburger Europaparlament siehe Official Journal of the European Community, Annex: Debates, 1987-88 Session, Nr. 2-355, 15.9.1987, S. 25 f.

[5] Franz Schönhuber, Trotz allem Deutschland, München/Wien 1987, S. 144.

[6] Franz Schönhuber, Ich war dabei. Der ehrliche Bericht eines „Ehemaligen“, München/Wien 1981, S. 336.

[7] Schönhuber, Trotz allem Deutschland, S. 143.

[8] Bundesverband RIAS e.V., Jahresbericht: Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2020, S. 12.

[9] Ebd. S. 4.

[10] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2020, S. 64.

[11] Zur Berichterstattung um die Proteste in Tel Aviv s. etwa: https://www.timesofisrael.com/yad-vashem-warns-of-abuse-as-antivaxxers-liken-vaccine-passes-to-yellow-star/; Zu Informationen um den Green Pass: https://corona.health.gov.il/en/directives/green-pass-info/

[12] https://www.faz.net/aktuell/politik/femen-proteste-zwei-falsche-argumente-12240753.html

[13] Siehe hierzu etwa den Protestbrief „Gegen die Lügen“, unterzeichnet von vielen namhaften Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Vertretern der politisch-historischen Bildung. In: Merkur, 14.6.2021 (https://www.merkur-zeitschrift.de/2021/06/14/gegen-die-luegen/).

[14] Zum Projekt s. https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagram-serie-102.html. Zur Diskussion um den Kanal s. #ichbinsophiescholl auf Twitter mit den Beiträgen der Follower.

[15] Ellen Kositza, Twitter 20.2.2020: https://twitter.com/EKositza/status/1232052748151029764

[16] Carola Rackete, Twitter, 22.2.201: https://twitter.com/carorackete/status/1363827816526192645?lang=de

[17 Meron Mendel, Einführung. In: Bildungsstätte Anne Frank (Hg.), Geschichtsrevisionismus. Wie die Rechten die Geschichte umdeuten. Unterrichtsimpulse. Materialheft in Kooperation mit FAZ Schule, S. 1, ferner erneut auf S. 29 der Broschüre.

[18] S. zur Debatte und zu diesem erinnerungskulturellen Grundsatz etwa Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 4. Aufl. München 2021 sowie Ulrike Jureit/Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010.

[19] S. den Webauftritt von Verein und Zeitung: https://demokratischerwiderstand.de/

[20] Demokratischer Widerstand, Nr. 58 vom 31.7.2021, S. 4.

[21] Siehe insbesondere Ausgaben des Demokratischer Widerstand“, Nr. 8 vom 13.6.2020; Nr. 10 vom 27.6.2020 oder Nr. 14 vom 1.8.2020. „Prof. Giorgio Agamben“ wird in sämtlichen Ausgaben als Mitherausgeber aufgeführt. Agambens Dementi u.a. auf Anfrage der „Jungen Welt“, 5.5.2010 (https://www.presseportal.de/pm/82938/4588954).

[22] Siehe etwa Compact. Magazin für Souveränität, Nr. 2/2021: Wollt ihr den totalen Lockdown? Die Diktatur marschiert.

[23] Compact. Magazin für Souveränität, Nr. 10/2020: Das Reich wird Pop. Neue deutsche Sehnsucht.

[24] Bernd Boll, Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur? Die Relativierung der NS-Verbrechen in der aktuellen Debatte. In: AK Erinnerungskultur in der Marburger Geschichtswerkstatt (Hg.), Weiter erinnern? Neu erinnern?, Münster 2003, S. 13–42, hier 21–42.

[25] Götz Kubitschek, Nachdenken über Auschwitz (öffentlich?). In: Sezession. Blog, 27.1.2020 (https://sezession.de/62032/nachdenken-ueber-auschwitz-oeffentlich).

Foto: Pixabay

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Rainer Niersberger / 25.08.2021

Ich finde es gut, dass der Autor auch die psychopolitische Instrumentalisierung des sogen “Dritten Reiches”, vor allem in ihrer Auspraegung des Schuldkultes oder genauer der Stigmatisierung des Deutschen als grundsaetzlich “boese” oder des Ganzen als Taetervolk mitbehandelt. Kleiner Scherz.Offenbar uebersieht er auch geflissentlich die Instrumentalisierung durch die Regime anderer Laender, um an deutsche Steuergelder zu gelangen. Aber halt, wir sind ja von voellig uneigennuetzigen Freunden umzingelt. Die ein oder andere kleine moralische Erpressung sei verziehen. Ob der Autor das psychokulturelle Grundproblem in der Verfasstheit dieser Gesellschaft und ihrer weitreichenden Folgen erkannt hat, wage ich zu bezweifeln. Es gibt nach wie vor weder eine mentale, noch politische Souveränität und die Linksgruenen, wiewohl selbst totalitaer, operieren recht erfolgreich mit den Themen Schuld, Strafe und Erloesung, nicht nur wegen der religiösen, sondern vor allem historischen Konnotation. Ueber die Fragen der Singularitaet oder auch der Einordnung in eine laengere Geschichte, ebenso ueber die “Mitwirkung” anderer vorher ließe sich durchaus diskutieren. Entscheidend ist aber, dass hier seitens der Massnahmenkritiker durchaus polemisch auf historische Tatbestaende zurückgegriffen wurde, die mit dem unstrittigen Holocaust an sich (noch) nichts zu tun hatten. Es geht um die “Vorfeldaktionen” des Regimes und um deren Heranziehung bei den heute stattfindenden, unstrittig totalitaeren Massnahmen. Ich hoffe, der Autor erkennt zumindest deren (grundgesetzwidrigen) Charakter, die Ziele des Regimes und dessen Bedeutung fuer dieses Land und die Gesellschaft. Als Nichtjuristen scheinen ihm die dafuer angewandten Massnahmen, Ermächtigung der Regierung, Aushebelung der Gewaltenteilung und des Art 19 IV GG (die gewollte Rechtsschutzbeseitigung) , Regelungen qua Verordnung und weitreichende Befugnisse mit sozial massiven Folgen fuer den Gesundheitsminister, nicht klar. Leider.

Max Tischenreuth / 25.08.2021

Vielen Dank für den sehr fundierten Artikel. Trotz der Länge ist die Thematik natürlich sehr viel vielschichtiger. Es ist schwer zu erklären, weshalb alle Seiten immer wieder mit dem Finger in Richtung 1920ff. zeigen. In einer Zeit des wechselseitigen Überbietens mit „Superlativen“, um vor dem jeweils anderen zu warnen, bleibt in deren Wahrnehmung wohl nicht viel mehr als das dunkelste Kapitel zu bemühen. Die DDR noch fast „zu humanistisch“ im Vergleich und andere Schreckensperioden zu weit weg aus dem Erinnerungsvermögen der Masse, um als warnendes Beispiel tauglich zu sein (zB dreißigjähriger Krieg). Zum anderen wird man wohl auch stärker differenzieren müssen, was zum Vergleich von den Beteiligten herangezogen wird. Da wir heute wissen, was noch kam, legt sich rückblickend sofort auf die gesamte Zeit der tiefschwarze Schatten des nichtzuleugnenden Holocausts. Daraus resultiert das Tabu eines Vergleiches mit dem gelben Stern. Wie aber würde die Bewertung ausfallen, wenn man heute und die Zeit bis März 1933 vergleicht und unterstellt, es hätte da geendet? Wir werden es nie erfahren, weil wir wissen was noch kam. Zudem findet sich auch bis 1933 viel unvergleichbares.

Frank Dom / 25.08.2021

Sorry, aber der Artikel ist kompletter Unsinn, Pseudo-Sozialwissenschaft wie aus dem Lehrbuch. Kritiker der Maßnahmen werden pauschal Nähe zum Rechtsextremismus, etc sowie intentionale Relativierungen und Instrumentalisierungen des Holocausts unterstellt. Das ist bezogen auf die Mehrheit - eklatanter Bullshit. Hätte der Autor an der Uni aufgepasst, dann hätte er möglicherweise zudem mitbekommen, dass die Maßnahmen im 3. Reich sukzessive eingeführt wurden, angefangen mit Diffamierungen, und dass der Holocaust ein kontingentes Ereignis war; daher nicht ursprüngliches Ziel. Hätte er das Gesundheitsgesetz gelesen, wüsste er auch, dass der Begriff “Ermächtigung” dort vielfach enthalten ist. Und würde er sich informieren, wüsste er auch, dass selbst in Israel Maßnahmenkritiker bewusst Analogien zwischen Judenstern und Impfpass ziehen. Oder dass es in Australien mittlerweile staatlich betriebene Camps gibt. Und wäre der Autor ein Sozialwissenschaftler, würde er vielleicht anfangen, eine Strukturanalyse der damaligen Zeit und der Gegenwart hinsichtlich Politik, Medien, der Rolle von Angstpropaganda, der Rolle der Volksgesundheit und der Schädlinge etc., durchzuführen; das Ergebnis würde ihn vermutlich überraschen. Oder er könnte darüber nachdenken, welche psychosozialen Auswirkungen es auf Kinder und Jugendliche hat, wenn sie mit den Verbrechen der Nazis konfrontiert werden und ihnen eingetrichtert wird, dass sie als Angehörige des Tätervolks implizit daran beteiligt waren. Im übrigen, die Nazis waren ja auch von einem Nie wieder! beseelt; hier halt Versailles. Das würde aber dazu führen, dass es dann unkuschelig für ihn werden würde. Dann doch lieber fake science.

Peter Holschke / 25.08.2021

Abwarten was da noch kommt. Ich hoffe nicht, aber es könnten Umstände eintreten, gegen die der Holocaust wie ein Kindergeburtstag wirkt. Aus der Geschichte wurde offenbar nicht gelernt, jedenfalls nicht im positiven Sinn. Jahrelang wurde ein Bessermenschentum und die Jagd auf Fiktiv-Nazis zelebriert, um dann bei passender Gelegenheit in die alten Nazi-Muster der Großeltern und Urgroßeltern zu verfallen. Gratulation Deutschland!

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