P. Werner Lange, Gastautor / 06.08.2023 / 14:00 / Foto: Pixabay / 14 / Seite ausdrucken

Heimat. Eine einfache Geschichte

Martha Müller-Grählert wurde 1876 in einer beschaulich anmutenden Zeit ohne LNG-Terminal und Windräder in Barth an der vorpommerschen Küste als uneheliches Kind geboren. Als Dichterin schuf sie den Text zum berühmten „Ostseewellenlied“. Für mich ein Inbegriff von Heimat.

Wir kamen vom Berg und saßen in der Summit Lodge beisammen. Es gab eiskaltes Tusker Beer und warmen Konyagi – einen einheimischen Schnaps, desssen Name und Farbe entfernt an Kognak erinnern. Wer ihn trinkt, bezahlt das gewöhnlich mit Heimweh und Rührseligkeit. Weil wir alle von der Küste stammen oder dort tätig gewesen waren, dauerte es deshalb nicht lange, bis Hannes die Mundharmonika hervorholte und das schwermütige Lied von den Ostseewellen spielte. Diese Wellen waren siebentausend Kilometer entfernt, aber das Singen erleichterte, als so etwas wie Wehmut den Hals zuschnürte.

Das ist lange her. Inzwischen reden wir zwar bisweilen noch vom Berg, dem Gipfel unserer Torschlussängste, aber dabei wird meist nur noch Bier getrunken. Kein Schnaps mehr, seit mancher von uns ihn verschüttet, sobald er das Glas erhebt. Doch das Lied von den Ostseewellen singen wir hin und wieder noch, und endlich unternahm es einer aus der Runde, nach dem Ursprung des Textes zu forschen.

Martha Müller-Grählert wurde 1876 in einer beschaulich anmutenden Zeit ohne LNG-Terminal und Windräder in Barth an der vorpommerschen Küste geboren. Das Taufbuch nannte sie freilich Johanna Karoline Friedchen Daatz, denn sie war ein uneheliches oder, wie man heute mitfühlend sagt, voreheliches Kind, das drei Jahre später vom Müller Friedrich Grählert adoptiert wurde. Sie selbst nahm es mit Humor hin: „Mit minen Stammboom stimmt dat nich! Und wenn auch Grählert mich adoptierte – ich bin aber doch ein kleines Malörchen.“

„Wo die Ostseewellen ziehen an den Strand“

Nunmehr Martha genannt, besuchte das Mädchen die Dorfschule in Zingst, dem Ort ihrer Kindheit und Jugend. Sie war lernbegierig, las sehr viel, verdarb sich dabei, wie die Leute meinten, die Augen und musste eine starke Brille tragen, die ihr den Spitznamen „de Perfesser“ eintrug. Überdies erteilte die Frau des Lehrers ihr Privatunterricht, und schließlich besuchte sie – Müllermeister Grählert finanzierte es stolz – das Franzburger Lehrerseminar. Doch Martha enttäuschte die Erwartungen der Eltern, als sie nach dem Abschluss nur kurze Zeit als Lehrerin tätig war.

„De Perfesser“ zog mit einem in jener Zeit überaus ungewöhnlichen Selbstbewusstsein nach Berlin, wurde Journalistin und arbeitete künftig für das „Deutsche Familienblatt“. Fraglos vermisste sie in der Großstadt die Natur ihrer Heimat: den Wind mit dem Geruch von Tang, den Kranichzug, den Nebel in den Buchen, den großen Himmel und den weiten Wasserspiegel, unter dem irgendwo Vineta leuchtete. Damals schrieb sie ein Gedicht, das sie 1907 in ihr erstes Buch, den Band „Schelmenstücke. Plattdütsche Gedichte“, aufnahm und späterhin geringfügig veränderte. Die erste Strophe geht so: 

„Wo de Ostseewellen trecken an den Strand,
Wo de gäle Ginster bleucht in'n Dünensand, 
Wo de Möwen schriegen grell in't Stormgebrus,
Dor is mine Heimat, dor bün ick to Hus.“

(„Wo die Ostseewellen ziehen an den Strand, 
Wo der gelbe Ginster blüht im Dünensand, 
Wo die Möven kreischen grell im Sturmgebraus, 
Dort ist meine Heimat, dort bin ich zu Haus.“)

Der Gedichtband blieb nahezu unbeachtet, stattdessen schien das Glück schon drei Jahre zuvor mit dem Agrarwissenschaftler Dr. Max Müller gekommmen zu sein. Die Eltern in Zingst waren nun wieder stolz auf ihre Tochter, und auch sie selbst fühlte sich nach der Heirat erfüllt und reich:

„ Ach Gott, nu hew ick doch son Ding,
So'n lütten, glatten, gollen Ring,
Un ümmer, wenn ick em bekiek,
Feuhl ick mi ach, so riek, so riek.“

„Hier is mine Heimat, hier bün ick to Hus“

Max Müller nahm 1911 eine Gastprofessur in Sapporo an, und sie ging mit ihm nach Japan. Als junge Frau war es ihr „heißes Begehren“ gewesen, die Fremde zu sehen („Seg´n uck mine Sehnsucht, un min heit Begehr /In de Welt tau fleigen öwer Land un Meer“), aber der Aufenthalt enttäuschte sie. Auch in Japan gab es den Strand und das Meer, den großen Himmel und Kraniche, aber der Wind sang dort ein fremdes Lied. Es endete ohnehin mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und einer anderthalbjährigen Irrfahrt durch viele Länder. Wieder in Deutschland, vermutlich schon zuvor, kam es zum Zerwürfnis – jedenfalls lange Zeit bevor die Ehe 1928 geschieden wurde. Er nannte sie gesellschaftlich ungeschickt und starrsinnig, sie ihn kleinlich und humorlos. 

Durch die Trennung geriet Martha Müller-Grählert in wirtschaftliche Not: keine nennenswerte Abfindung vom Ehemann, schlecht oder gar nicht bezahlte Pressebeiträge, Vorträge und Lesungen, erfolglose Buchveröffentlichungen, der Verzicht auf eine Pension, als sie das Lehramt niedergelegt hatte, um als Journalistin zu arbeiten. Hinzu kam ein langwieriger, kostspieliger Prozess, denn auch die „Ostseewellen“ waren inzwischen weit gereist. Ein wandernder Flensburger Geselle hatte das Gedicht aus einer Zeitung ausgeschnitten und in Zürich Simon Krannig, einem Fabrikanten, Komponisten und Chorleiter des Arbeiter-Gesangvereines, gezeigt. Krannig, merkwürdigerweise ein Thüringer aus Lauchröden, wurde von dem Text so berührt, dass er ihn hochdeutsch mit einer unwiderstehlich gebliebenen Melodie vertonte. 

Das Lied wurde bald ebenso an der Ostsee- wie an der Nordseeküste gesungen – dort treckten nun die Nordseewellen an den Strand. Seither erschien es mit mehrfach leicht verändertem Text auch als „Friesenlied“ oder „Lied der Helgoländer“. Andere Fassungen erreichten Westfalen und Ostpreußen, wo aus den Ostseewellen die Wellen des Haffs wurden, man sang und singt es mit ähnlichen Texten und Simon Krannigs Melodie im Baltikum, in Schweden, Holland, England, Spanien, Frankreich und Italien, ja selbst in Kanada, Brasilien und Australien. Erst 1936 gestand ein Gericht Martha Müller-Grählert und Simon Krannig die Rechte und entsprechende Vergütungen zu. Noch ehe die mit dem Urteil verbundenen Regelungen rechtskräftig wurden – das erlebte auch Simon Krannig nicht mehr –, starb die fast erblindete und gänzlich verarmte Dichterin 1939 im Altersheim von Franzburg bei Stralsund. Für ihren Aufenthalt dort hatte der Bürgermeister von Zingst gesorgt.

In Zingst liegt auch ihr Grab, dessen Gedenkstein die Aufschrift „Hier is mine Heimat, hier bün ick to Hus“ trägt. Der Stadtpark, das jährliche „Treffen der Shantychöre“ in Zingst sowie die Schule in Franzburg und Museen in Zingst und Barth bewahren heute das Gedenken an sie. Und es gibt immer wieder einmal freudige Anlässe, sich an das „kleine Malörchen“ und sein Lied zu erinnern, das inzwischen fast zur Hymne wurde: Zum Beispiel vor einigen Jahren, als Freddy Quinn es in Riga vortrug, plötzlich alle Menschen im Saal aufstanden und auf lettisch weitersangen.

 

P. Werner Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.

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Sabine Heinrich / 06.08.2023

Vielen herzlichen Dank, Herr Lange dafür, dass Sie diese Frau gewürdigt haben! Bis vor 4 Jahren, als der Leiter eines Shantychors uns darüber informiert hat, dass die “an den Strand treckenden NORDSEEwellen” eigentlich Ostseewellen sind, hatte ich keine Ahnung vom Entstehen dieses Liedes und der Urheberin. - Danke denjenigen in ihrer alten Heimat, die sie würdigen und ihr Gedenken in Ehren halten!

Sam Lowry / 06.08.2023

Ich bin aus Sternenstaub erschaffen, deshalb ist das Universum meine Heimat. Irgendwann vor Milliarden Jahren erschaffte eine Supernova oder etwas Unglaubliches die Elemente, aus denen ich entstanden bin. Irgendwann zerfalle ich wieder in diese Elemente, und dem Universum ist das egal…

Ruth Rudolph / 06.08.2023

@Chr. Kühn Danke, das ist sehr schön, was Sie da geschrieben haben und es macht mich gleichzeitig traurig.

Sabine Drewes / 06.08.2023

Danke, Herr Lange, für diesen anrührende Text mit der Geschichte dieses schönen Gedichtes. Da geht einem das Herz auf! // @Wilfried Düring und @Chr. Kühn: Das Pommernlied von Gustav Adolf Pompe aus dem Jahr 1851, entstanden auf einer Wanderung, ist auch sehr schön: /1/ Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn,/ bringen frohe Kunde Geister ungesehn,/ reden von dem Lande meiner Heimat mir,/ hellem Meeresstrande, düsterm Waldrevier. /2/ Weiße Segel fliegen auf der blauen See,/ weiße Möwen wiegen sich in blauer Höh’,/ blaue Wälder krönen weißer Dünen Sand;/ Pommerland, mein Sehnen ist dir zugewandt! /3/ Aus der Ferne wendet sich zu dir mein Sinn,/ aus der Ferne sendet trauten Gruß er hin;/ traget, laue Winde, meinen Gruß und Sang,/ wehet leis und linde treuer Liebe Klang! /4/ Bist ja doch das eine in der ganzen Welt,/ bist ja mein, ich deine, treu dir zugesellt;/ kannst ja doch von allen, die ich je gesehn,/ mir allein gefallen, Pommerland, so schön! /5/ Jetzt bin ich im Wandern, bin bald hier, bald dort,/ doch aus allen andern treibt’s mich immer fort:/ Bis in dir ich wieder finde meine Ruh,/ send ich meine Lieder dir, o Heimat, zu!

Peter Thomas / 06.08.2023

Die Besinnung auf das Eigene ist eine Voraussetzung für unseren Fortbestand. Rückbesinnung. Danke, Herr Lange.

Klaus D. Schlademann / 06.08.2023

Auch ich bin zu Tränen gerührt ob des Schicksales dieser tollen Frau. Danke dem Bürgermeister, der ihr ein Zuhause gegeben hat.

Talman Rahmenschneider / 06.08.2023

Is mir zu einfach. “Sous le Pont Mirabeau coule la Seine” von Léo Ferré hat auch mit Heimat und Wasser zu tun. Und mit Liebe. Die Sprache bleibt auf einem gehobenen Niveau. So ist auch der Unterschied zwischen einem kleinen café in Paris und Kännchen Kaffee in Timmendorf. Sorry. Das hat auch was mit Heimat zu tun: youknowwhat / watch?v=Br-1BP_i77k ...man trifft hier auf den Unterschied zwischen Sanftmut, gepaart mit Armut und gefährlicher Simplizität, gepaart mit Gehorsam.

A.Schröder / 06.08.2023

Die Grünen und Linken werden ihr die Heimat nehmen. Die einen sind Wiederholungstäter, die anderen mit noch mehr Ehrgeiz.

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