Sehr geehrter Herr Lassahn, ich habe den Text zu „Haydn 2032“ in Feuilletonscout gelesen. Obwohl es sich um einen Promotiontext mit seinen üblichen Floskeln handelt, möchte ich doch einen kurzen Kommentar dazu geben. Wenn davon die Rede ist, alle Sinfonien des Rohrauers würden im Rahmen dieses Projekts „neu herausgegeben“, so bedeutet dies gewiss nicht die neue Herausgabe der Sinfonien in Noten – die liegen (einschließlich der kritischen Berichte) ja fast alle bereits in der wissenschaftlichen Gesamtausgabe (1958ff) vor – sondern um Neuaufnahmen. Im Unterschied zu den Gesamtaufnahmen von Dorati und Fischer werden allerdings hier noch drei weitere Sinfonien aufgenommen (HobI: 106-108; HobI: 105 ist die „Concertante“). Die „Neuherausgabe bezieht sich somit im wesentlichen auf das, was in Feuilletonscout zwar verkaufsfördernd, nichtsdestoweniger aber widersprüchlich (oder zumindest vage) als „unverstellter“ und „zeitgemäßer“ Blick auf Haydn formuliert wird. Ob z. B. die Sinfonien Haydns sich dem Hörer wirklich “unverstellt” präsentieren, wenn z. B. die Streichinstrumente mit Saiten aus Därmen von handgestreichelten Puszta-Schafen bespannt sind, darf ebenso bezweifelt werden wie die Einbettung der Sinfonien in den historischen Kontext: Das, was dem Feuilletonisten als „unverstellter Blick“ erscheint, erweist sich für den Historiker als „zeitgemäßer Blick“, nämlich als perspektivische Betrachtung einer Zeitepoche, gelenkt durch den Geist der „Gegenwart“. An einer perspektivischen Betrachung ist nichts auszusetzen, solange man ihre Bedingungen offenlegt, was Feuilletonisten fast immer und Historiker (hier, Musikwissenschaftler) leider sehr oft vermeiden oder nur kryptisch andeuten. Ich will Sie jedoch nicht mit theoretischem Räsonnieren über Musikhistoriographie und –Ästhetik langweilen, sondern nur ein Beispiel für eine Perspektive der Haydn-Interpretation geben, die diese bis in unsere Tage beeinflusst hat, trotz aller Bemühungen der Haydnforschung in den letzten 70 Jahren. Sie beginnt quasi am 4. und 11. Juli 1810. In der Allgemeinen Musikalischen Zeitung Leipzig, Jahrgang 12 vom 4. Juli 1810 konnte der geneigte Leser in einer „Recension“ von Beethovens Sinfonie c-Moll Op. 67 (die “Fünfte”) u.a. folgende Zeilen lesen: „Seine Symphonie führt uns in unabsehbare, grüne Hayne, in ein lustiges, buntes Gewühl glücklicher Menschen. Jünglinge und Mädchen schweben in Reihentänzen vorüber; lachende Kinder hinter Bäumen, hinter Rosenbüschen lauschend, werfen sich neckend mit Blumen. Ein Leben voll Liebe, voll Seligkeit, wie vor der Sünde, in ewiger Jugend; kein Leiden, kein Schmerz; nur süsses, wehmütiges Verlangen nach der geliebten Gestalt, die ferne im Glanz des Abendrothes daherschwebt, und nicht näher kömmt und nicht verschwindet; und so lange sie da ist, wird es nicht Nacht, denn sie selbst ist das Abendroth, von dem Berg und Hain erglühen.“ Dies ist eine Charakteristik der Sinfonien von Joseph Haydn, die der Autor des Artikels dann mit denen Mozarts („In die Tiefen des Geisterreichs führt uns Mozart. Furcht umfängt uns: aber, ohne Marter, ist sie mehr Ahnung des Unendlichen.) und den (ersten sechs) Sinfonien Beethovens vergleicht (Beethovens Sinfonien führten in „... das Reich des Ungeheuren und Unermesslichen. Glühende Strahlen schiessen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, ...). E. T. A. Hoffmans Rezension von Beethovens „Fünfter“, (ihr zweiter Teil erschien am 11. Juli 1810) gilt in der Musikforschung gemeinhin als ein herausragendes Dokument der romantischen Musikästhetik - aber auch als der Beginn von Haydns „Abstieg“ in der Gunst des breiten Publikums und der Zunft der Feuilletonisten und „Kulturwissenschaftler“. Haydn als „harmloser“ „Papa“, gar „kindlichen Gemüts“ (im Gefolge E. T. A. Hoffmans) oder als „ständiger Gast im Hause der Musik, aber eher langweilig als mitreißend“ (im Gefolge Robert Schumanns) geistert immer noch durch die Feuilletons und „Fachzeitschriften“. Es bleibt abzuwarten, ob das Projekt zu einer Haydnrenaissance führen wird. Für mich wird es interessant sein, in den nächsten 17 Jahren die verschiedenen Perspektiven des „unverstellten“ Blicks durch den Wandel der „zeitgemäßen“ Betrachtungsweise zu beobachten. Ob sich Haydn in den Augen von Feuilletonisten und Musikliebhabern so wandeln wird, wie einst Mozart nach Erscheinen von Hildesheimers Mozartbuch, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Das wird ein Haydn-Spaß :-)
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