Vor hundert Jahren wurde Georg Franz Kreisler in Wien geboren. Happy birthday.
Auf dem Blog ‚Tapfer im Nirgendwo‘ von Gerd Buurmann hatte ihm David Serebryanik rechtzeitig ein kleines Denkmal gesetzt. Das ist nicht alles. Wenn es um hundert Jahre geht, soll es uns nicht auf den Tag ankommen, da sind wir nicht pingelig. Solche runden Geburtstage gelten das ganze Jahr, und werden auch das ganze Jahr über von Kollegen und Kabarettisten nach allen Regeln der Kunst gefeiert und gepflegt. Oder ganz ohne Regeln, wie es sich für einen echten Anarchisten gehört.
Tim Fischer ist immer noch mit seinem neuen Programm ‚Tigerfest‘ „zum 100. Geburtstag von Georg Kreisler“ auf Tournee. Charlotte und & Elisabeth haben einige Lieder von ihm neu aufgenommen .. das sind nur einige Beispiele. Es gibt viele, die sich berufen fühlen, Kreisler-Lieder nachzuspielen. Sie sind schließlich immer noch aktuell. Wir haben zwar 2022 nicht gerade ein offizielles Kreisler-Gedenk-Jahr. Aber hier und da gibt es schon die eine oder andere wunderbare Gedenkminute. Ich möchte auch eine einlegen.
Von den falschen Liedern zu den richtigen
Meine Tochter war noch in dem Alter - sie war acht oder neun -, in dem sie auf dem Kindersitz im Auto hinten sitzen musste. Ich hatte aus Versehen den falschen Sender eingestellt, und nach dem Verkehrshinweis lief von Freddy ‚Die Gitarre und das Meer’.
Als sie danach meinte „Das war aber mal ein schönes Lied“, fiel mir auf, dass sie womöglich gerade zum ersten Mal bewusst der Musik aus dem Radio zugehört hatte. Normalerweise tat sie das nicht, das war alles in Englisch, ein bedeutungsloses Grundrauschen zum Motorengeräusch, das an ihr vorbeizog wie die langweilige Aussicht aus dem Rückfenster.
Da wurde mir klar, was es für ein Verlust für sie ist, keinen Zugang zu Liedern über die vertraute Sprache zu finden. Also habe ich Kassetten für sie zusammengestellt. Zuerst mit deutschen Schlagern. Doch weil ich die selber nur mit innerem Grinsen anhören konnte, habe ich die mit ausgesuchten Liedermachern angereichert.
So entdeckte sie Kreisler. Den fand sie am besten. Und wollte mehr von ihm. Mehr, mehr, mehr. Das Triangel war der Einstieg gewesen, wahrscheinlich konnte sie sich gut in die Rolle von jemandem einfühlen, der im großen Orchester nur ein kleines „Ping“ machen darf.
Die folgenden Kassetten, die ich zusammenstellte, waren reine Kreisler-Kassetten mit Beschriftungen wie ‚Kreisler total’, ‚Kreisler noch totaler’, ‚Kreisler für immer und ewig’. Sie hat alle Lieder auswendig gelernt. Sie war dermaßen textsicher, dass wir ein Ratespiel machen konnten, wie es Kinder in dem Alter mögen - in diesem Fall ein selbstausgedachtes:
Es bestand darin, dass der eine ein paar aufeinanderfolgende Worte aus einer Textzeile aufsagte, und der andere raten musste, aus welchem Lied die stammten. Woraus ist „in den bunten Frühling“? Na? Das war leicht.
Alles könnte auch ganz anders sein
Ich hatte es schon wieder vergessen, doch nun kam alles zurück. Sie war völlig hingerissen vom Zauber der Sprache. Mir war es auch mal so ergangen, doch als Erwachsener bleiben einem von solcher Begeisterungsfähigkeit nur noch Restbestände. Für Kinder können Sprachspiele, die jedwede Sinnhaftigkeit hinter sich lassen, eine unmittelbare Faszination haben. „Wenn man die Monika an ihren Haaren zieht, dann heißt sie Ziehharmonika“, „Man gibt dem Araber sein eignes Dromedar, aber wozu?“
Es war obendrein eine gute Wortschatzübung - „Papa, was ist eigentlich Polygamie?“- und widersprach einer Pädagogik, die meint, man dürfe Kinder keinesfalls überfordern, man müsse sich stets in einfachen Worten ausdrücken, weil einen die Kleinen sonst nicht verstehen. Sie wollen gar nicht alles verstehen; die Welt ist für sie sowieso voll unerforschter Kontinente und voller Fragen, die auf eine Antwort warten.
Das soll noch ein Weilchen so bleiben. Kinder genießen das Rätselhafte, und die befreiende Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein kann, als es im Moment aussieht: „Der Tag wird kommen, wo die Kälber auf dem Dach steh‘n“. Auf so einen Tag freuen sie sich schon.
Das ist gemein, das ist fies, das ist böse
So gesehen war es eine erfolgreiche pädagogische Maßnahme und außerdem eine wunderbare Art, mit dem Kind die Zeit zu verbringen. Aber, aber! Da war noch etwas. Der aufblitzende Anarchismus mit Kälbern auf dem Dach ist bei Georg Kreisler nicht nur Spielerei für Spitzbuben. Er meint es ernst.
Es gab Lieder, bei denen ich kurz zurückschreckte und dachte, dass sie für ein kindliches Gemüt doch nicht das Richtige sind. Poetisch durften sie schon sein. Gerne. Rätselhaft natürlich auch. Voller Wortspiele – sehr gerne! Aber wie steht es mit den makabren Liedern? Mit dem gefürchteten „schwarzen“ Humor?
„Als der Zirkus in Flammen stand, da verbrannte ein Elefant“ – schlimm genug. Wenn es dann noch in Einzelheiten ausgemalt wird, „ohne Laut ging er zugrunde, und er brannte eine Stunde“, dann ist das richtig fies.
„Schatz, das Wetter ist wunderschön! Da leid ich’s nicht länger zu Haus.“ Und? Was machen die beschwingten Spaziergänger? Sie wissen es schon. Sie gehen „Taubenvergiften im Park“.
Die unangenehme Frage, die sich da auftut, lautet: Warum ist der Mensch so? Kreisler fragt selber, warum ausgerechnet diejenigen, die gesellschaftlich ganz weit oben sind, nicht „gut“ sind.
Warum sind sie so?
Das fragen wir uns auch. Wir würden allzu gerne wissen, ob bei den Politikern, mit denen wir es heute zu tun haben, noch mehr im Busch ist als Opportunismus, Korruption und Unvermögen. Ist da womöglich noch etwas?
Warum können führende Menschen auf Erden
nicht freundlicher, selbstloser, menschlicher werden?
Ich hab drüber sehr lange nachgedacht,
und jetzt weiß ich die Lösung, geben Sie Acht:
Diese führenden Menschen: Die sind so mies. Ja, die sind so mies ...
Sie schrauben dir die Blumen und die Bäume ab
und treten dich voll Freude in den Bauch.
Sie sind so mies, ach, so schrecklich mies,
und sie glauben, alle andern sind es auch.
Nein, sie sind nicht gut. Sie sind böse. Durch und durch. Die sind so mies. Doch wir sollten uns nicht täuschen. Es sind nicht allein die Herrschenden - also die Großen dieser Welt -, bei denen das Böse verankert ist. Ich will noch einmal nachfragen: Was waren das denn für Zeitgenossen, die so heiter losgezogen sind, um Tauben zu vergiften? Na? Es waren Leute wie du und ich.
Und wer hat just an dieser Stelle im Publikum so verdächtig laut gelacht? Es waren weder die Karriere-Hengste, die auf dem steinigen Weg nach oben alle Hemmungen ablegen mussten und die erst durch ihren Aufstieg so niederträchtig geworden sind, und es waren auch nicht die Armen, die Mühseligen und die Beladenen, die Opfer ihrer Umstände sind. Also: Wer war es? Wer ist böse? Und woher kommt das Böse?
Da staunt Rousseau
Von innen. „Draußen, alles ist so draußen, alles kommt von außen, nur das Böse bleibt im Inneren versteint“, heißt es im Lied ‚Ich kann tanzen’.
Jesus sagt es auch – wie jedenfalls Markus berichtet: „Von innen, aus dem Herzen des Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen.“
Das hören wir nicht gerne. Wir halten uns lieber für unschuldig. Wir halten uns für gut; wir glauben, dass wir auch „edle Wilde“ sind – wie es uns Rousseau eingeflüstert hat –, weil die Natur als das „zweite Buch Gottes“ grundsätzlich gut ist, also müssen auch die Menschen gut sein und können höchstens durch widrige Umstände - quasi versehentlich - böse werden. So denken wir gerne. Dabei hatte Rousseau selber seinerzeit gewisse Bedenken gehabt, er hatte nämlich das Böse an Kindern beobachtet und sich verwundert gefragt, woher es kommt. Ja, woher wohl? Von innen oder von außen?
Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass alles Böse nur eine Reaktion auf erlittenes Unrecht ist. Deshalb müssen wir das Unrecht bekämpfen. Wenn das Unrecht aus der Welt verbannt ist, dann gibt es auch das Böse nicht mehr. So einfach. So lautet die simple Lehre, die wir von Karl Marx abgeleitet haben: Der Mensch ist so einer Vorstellung nach „entkernt“; er ist geprägt von seinen Umständen, vom „Sein“ - neuerdings von Rollenbildern, von Klischees und von stereotypischen Vorstellungen vom Geschlecht. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Es macht auch noch Spaß
Wir sind aber böse. Jedenfalls dann, wenn keiner hinguckt. Überwachungskameras haben es ans Licht gebracht. Da wurde jemand an einer U-Bahn-Haltestellte zusammengeschlagen. Einen Moment lang hatten die „jugendlichen Gewalttäter“, wie sie in der Presse genannt wurden, nicht an die Kameras gedacht, die sie identifizieren konnten und die bei der Gelegenheit die Fratze des Bösen offenbarten. Die Kameras haben sie als gewalttätig und als böse überführt. Sie hätten es wissen können.
Die deutschen Soldaten konnten 1943 nicht wissen, dass sie in der Gefangenschaft abgehört werden. Das wurden sie aber. Es wurden geheime Abhörprotokolle erstellt, zumeist von U-Boot-Fahrern, oder von Gefangenen, von denen sich die Engländer wichtige Erkenntnisse versprachen. So kam es raus. Die Soldaten verplapperten das Ungeheuerliche: Sie haben gerne getötet. Sie nutzten nur allzu gerne die „Chance auf unbestrafte Unmenschlichkeit“, wie es Günther Anders nennt.
Je weniger wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und je weniger wir ihn für seine Taten verantwortlich machen, desto größer ist die Gefahr, dass er vom Bösen überrumpelt wird. Das Böse nistet sich vorzugsweise da ein, wo eine Verantwortungslücke entsteht, wo die Ausreden schon vorformuliert sind.
Die Bösen – das sind die anderen. Oder?
Der Böse aus Norwegen (ich meine den Massenmörder Anders Breivik) musste sich richtig Mühe geben für seine Ausrede, er brachte es auf 1500 Seiten Text bei seiner Bekenntnisschrift. Der Mörder von John Lennon hat sich einfach auf Salinger berufen und vor Gericht aus dem ‚Fänger im Roggen’ vorgelesen. Darauf kommt es nicht an. Denen diente das sowieso nur als Ausrede. Ein echtes Interesse an Kunst können diese Mörder nicht für sich in Anspruch nehmen.
Bei Georg Kreisler ist das anders. Für ihn ist die Kunst ein Weg zur Wahrheit, ein Stresstest für die Ideale. Er fordert das Böse heraus. Er stellt sich. Er blickt dem Bösen ins Weiße vom Auge. Er macht die Auseinandersetzung mit dem Bösen zur ernsthaften Aufgabe seiner Kunst. Er macht es sich nicht leicht, er ist bockig, er stellt sich quer zum Ideal des Gutmenschen. Darauf fällt er nicht rein. Er könnte sich Goethe – der damit einen Seitenhieb auf das Menschenbild der Philanthropen austeilt –, aus vollem Herzen anschließen und die kleine Zeile aus den ‚Xenien’ mit eigener Musik unterlegen: „Schwärmer, wie bist du getäuscht, nimmst du die Menschen für gut!“
Wir sind getäuscht. Wir meinen, es besser zu wissen. Wir wissen, woher das Böse kommt, Goethe hin, Goethe her. Unser aktueller Erkenntnisstand sagt uns: Das Böse kommt von außen. Alle, die Harry Potter kennen, haben es gelesen und haben es mit eigenen Augen im Kino gesehen: Das Böse steht außerhalb vom Menschen und wird verkörpert durch Lord Voldemort.
Man hat oft – eine naheliegende, gleichwohl einfältige Frage – von Georg Kreisler wissen wollen, ob er selber auch so böse ist, wie das Personal in seinen Liedern. Ob er auch schon mal Tauben vergiftet hat. Natürlich nicht.
Er hätte übrigens Gelegenheiten gehabt, seine dunklen Seiten auszuleben und dafür hätte es sogar eine passable Rechtfertigung gegeben. In einer Spezialeinheit hat Georg Kreisler als amerikanischer GI deutsche Kriegsverbrecher verhört, wie er in dem Buch ‚Georg Kreisler gibt es gar nicht‘ erzählt. Da hätte er sie leicht piesacken und ein bisschen quälen können – und hat es nicht getan.
Was kann die Kunst?
Wenn er sich selbst als Beispiel nimmt und uns in Abgründe blicken lässt, dann will er damit allen Menschen einen Spiegel vorhalten, er will sich keinesfalls als interessanter Bösewicht stilisieren oder gar das Böse glorifizieren. Das hohe künstlerische Niveau seiner Lieder schützt ihn. Immunisiert ihn. Damit stattet er sich mit einer Art Rüstung aus, in der getrost dem Bösen entgegentreten und das Böse in seine Schranken verweisen kann.
In einem Bemühen um ein hohes künstlerisches Niveau, in einem Ringen um den „kulturellen Fortschritt“ sieht auch Sigmund Freud, der sonst nur wenige Möglichkeiten sah, „die aggressiven Neigungen der Menschen“ abzuschaffen, die bescheidene Aufgabe der Kunst.
Kunst kann nicht gerade viel, aber ein bisschen was kann sie schon: Sie kann den kulturellen Fortschritt fördern – und damit die Werte der Zivilisation, die auf lange Sicht dem Frieden dienen. Kunst kann die Identifikation mit dem Menschlichen, das uns alle verbindet, betonen und verstärken. Und sie kann uns die Liebe nahebringen – „Wenn nicht Liebe, was sonst?!“
So heißt es in einem der Lieder von Kreisler. Meine Tochter hatte es schon früh bei einem abschätzenden Blick über sein Gesamtwerk festgestellt: „Ich glaube, dieser Kreisler ist einfach gegen alles. Außer gegen die Liebe.“