Nach dem Attentat von Hanau schrieb ich einen offenen Brief an den Generalbundesanwalt und veröffentlichte ihn auf Achgut.com. Die Antwort von Dr. Peter Frank – respektive seines Pressesprechers – auf meinen Brief kommt zwar spät und fällt etwas knapp aus, aber immerhin, es kam eine Antwort. Sie lautet wie folgt:
Betreff: Ihre E-Mail vom 24. Februar 2020
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Meins,
ich schreibe Ihnen im Auftrag von Herrn Generalbundesanwalt Dr. Frank und darf mich zunächst für Ihre Zuschrift bedanken.
Wir haben die Ausführungen in Ihrer E-Mail vom 24. Februar 2020 sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihre geäußerte Sorge um die Anwendung des strafrechtlichen Schuldprinzips bei der Bundesanwaltschaft unbegründet ist.
Schon wegen verfassungsrechtlich gebotenen Zuständigkeitsregelungen haben wir der Frage nachzugehen, welche Motivlage bei dem mutmaßlichen Täter vorhanden war. Gleichzeitig befassen sich die Ermittlungen selbstverständlich auch damit, ob und inwieweit eine etwaige psychische Erkrankung eine Rolle gespielt hat und welche Wechselwirkungen zwischen Krankheitsbild und terroristischer Tatbegehung bestehen.
Im Übrigen muss ich darauf hinweisen, dass die Weitergabe des Inhalts von Strafanzeigen an andere Behörden nur unter engen gesetzlichen Voraussetzungen gestattet ist. Diese gesetzlichen Voraussetzungen lagen bei der damaligen Strafanzeige von Tobias R. nicht vor. Aus ihr haben sich insbesondere keine Anhaltspunkte für strafbare Handlungen oder eine Gefährlichkeit des Anzeigeerstatters ergeben.
Mit freundlichen Grüßen
Markus Schmitt
Staatsanwalt beim BGH
- Pressesprecher -
_______________________
Pressestelle
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
Zu dieser Antwort möchte ich bemerken: Dass es auch Aufgabe des Generalbundesanwalts ist, sich mit der Motivlage eines Täters zu beschäftigen und zu prüfen, „ob und inwieweit eine psychische Erkrankung eine Rolle gespielt hat“, steht außer Frage. Das Problem, um das es hier geht, betrifft vielmehr das Ergebnis dieser Beschäftigung mit der Motivlage. Und dazu findet sich in der Antwort nichts. Der Generalbundesanwalt verzichtet vielmehr vollkommen darauf, seine Beurteilung der Motivlage – „gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund“ – näher zu begründen oder zu verteidigen und sich somit inhaltlich auf die fachliche Kritik an seiner Position einzulassen. Was allerdings nicht wundert, denn da gibt es auch nicht viel zu begründen. Deshalb sei es erlaubt – sozusagen als Fortbildungsangebot für den Generalbundesanwalt und seine Mitstreiter – aus psychiatrischer Sicht einmal knapp darzulegen, wie man sich die Entstehung eines Wahns bei an Schizophrenie Erkrankten vorzustellen hat.
Auf dass die nächste Prüfung der Motivlage vielleicht etwas besser gelingt. Und auch die mediale Berichterstattung, die sich davon nur schwer trennen lässt.
Die meisten Medien und Politiker gestehen ja durchaus zu, dass der Attentäter von Hanau, Tobias R., seelisch gestört war. Unter Berufung auf den Generalbundesanwalt wird ungerührt auf dessen „zutiefst fremdenfeindliches Motiv“ verwiesen. Wenn jemand zur Tatzeit oder auch bei deren Planung unter einer solchen Störung wie einer schweren paranoiden Schizophrenie leidet, sollte doch klar sein, dass sich damit zwingend die Frage nach der Schuldfähigkeit stellt – wie auf achgut.com hier und hier erörtert. Stattdessen wurde in vielen Medien aber „die Gunst der Stunde“ zu einer ebenso hemmungs- wie bodenlosen Instrumentalisierungskampagne bisher unbekannten Ausmaßes genutzt (Siehe beispielsweise hier.)
Der auf allen Kanälen heißlaufenden Maschinerie einer stetig anschwellenden Skandalisierung und Empörung – über tatsächliche oder bloß vermeintliche – meist gar nicht genauer zitierte Äußerungen von „Rechten“ oder auch „Nazis“, liegt eine geradezu naiv-laienhafte Vorstellung davon zugrunde, wie an Schizophrenie Erkrankte einen Wahn ausbilden.
Erhebliches Gefährdungspotenzial bei Schizophrenie
An einer Schizophrenie erkrankt man am häufigsten im jungen Erwachsenenalter. Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe eines Lebens an dieser schweren psychischen Störung zu erkranken, beträgt in Deutschland 0,6 Prozent: Das ist nicht besonders häufig, aber auch nicht extrem selten. Bevor sich die typischen Symptome zeigen, besteht häufig ein längeres prodromales Stadium mit nur wenigen und unspezifischen Symptomen, meist verbunden mit Leistungsabfall und sozialem Rückzug. In vielen Fällen entwickelt sich erst nach mehreren Jahren ein Krankheitsschub mit der typischen psychotischen Symptomatik: Wahnvorstellungen, oft zusammen mit akustischen Halluzinationen in Form von kommentierenden oder auch befehlenden Stimmen, Denkzerfahrenheit, Erregung oder auch Apathie.
Vor allem in diesen Zuständen geht von den Betroffenen – besonders den jüngeren Männern – ein beträchtliches Gewaltrisiko aus: Im Vergleich zur Normalbevölkerung ist das Gewalttäter-Risiko 4-fach und das Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen, immerhin 10-fach erhöht. Erschwerend kommt hinzu, dass häufig keine Krankheitseinsicht besteht, therapeutische Hilfe nicht aufgesucht oder rasch wieder abgebrochen wird. Das hier prototypisch gezeichnete Bild der Schizophrenie charakterisiert auch recht treffend den Krankheitswerdegang des Tobias R., mit einer recht langen Prodromalphase, einem offenbar ersten psychotischen Schub zwischen 2002 und 2004 mit Verfolgungsideen und einem weiteren Schub, der Ende 2018 oder auch einige Monate später eingesetzt hat und dann zum Attentat führte.
Wie entwickelt sich ein Wahn?
Wie entwickelt sich nun typischerweise ein Wahn im Rahmen einer Schizophrenie – von den Anfängen bis zum Vollbild? Er fällt nicht vom Himmel, sondern bildet sich über Wochen oder auch Monate. Dabei können vorbestehende Wesenszüge und Überzeugungen eine Rolle spielen, müssen es aber nicht und tun es meistens auch nicht. Nach Abklingen der Symptomatik ist es jedenfalls oft unmöglich, einen inhaltlichen Bezug zwischen (primärer) Persönlichkeit und Wahninhalten herzustellen. Es verhält sich ein bisschen so wie mit dem Klima: Auch bei der Wahnentstehung handelt es sich am ehesten um ein nicht-lineares, chaotisches und kaum zu prognostizierendes System, das sich aber an einige Regeln hält. So ist die Richtung der Wahnentwicklung größtenteils schicksalshaft vorbestimmt und hat sich (übrigens auch seit der AfD-Gründung) nicht geändert: Bei der Hälfte der Betroffenen dominiert ein Verfolgungswahn, bei etwa einem Viertel ein Beziehungswahn.
Am Anfang der Entwicklung steht eine Wahnstimmung, eine diffuse emotionale Anspannung in einer als verändert erlebten Welt, in der bestimmte Dinge oder Personen als unheimlich und verändert erlebt werden und zunehmend ihre bisher selbstverständliche Bedeutung verlieren. Hinzu treten etwas später Wahnwahrnehmungen, also Fehlinterpretationen einer an sich richtigen Wahrnehmung. Zum Beispiel: Der Tagesschausprecher trägt eine rote Krawatte, was für den Kranken dann der definitive Beweis dafür sein kann, dass seine Befürchtung, abgehört zu werden, zutrifft.
Schließlich treten Wahneinfälle hinzu, also selbst produzierte wahnhafte Überzeugungen. Die Vorstellung von Tobias R., auch für den Anschlag vom 11. September verantwortlich zu sein, ist so ein Wahneinfall. Diese Vorstellungen und Überzeugungen verfestigen sich immer mehr und werden dabei mehr oder weniger logisch miteinander verknüpft. Bleibt noch die Wahndynamik zu würdigen: Ist der Betroffene nur wenig emotional beteiligt oder wird er durch die mit dem Wahn verbundenen Emotionen geradezu beherrscht?
Welche konkreten Themen ein Wahnsystem bestimmen, ist nicht unabhängig von aktuell dominierenden kulturellen und politischen Einflüssen. Auch wenn es beim paranoiden Wahn immer um Themen mit einem Bedrohungspotenzial geht – überwacht, kontrolliert oder direkt bedroht zu werden –, sind die Akteure heute meist andere als vor fünfzig Jahren. Damals spielten KGB, Stasi und CIA eine große Rolle, durch die Weltraummissionen dann die Außerirdischen und später die „gelbe Gefahr“. Aufgenommen in die Wahnsysteme wurden natürlich auch längst die digitalen Überwachungsmöglichkeiten.
Auch wenn irgendwelche Geheimdienste, dunkle Mächte oder Verschwörungen immer Wahnkonjunktur haben, dürfte seit einigen Jahren der Islam – vorzugsweise in seiner islamistischen oder IS-Variante – eine wichtige Rolle spielen. Leider gibt es – jedenfalls blieb die Suche auf Google Scholar erfolglos – keine auch nur halbwegs aktuelle Studie, die sich systematisch mit der Veränderung der Wahnthemen bei Schizophrenie in Ländern wie Deutschland beschäftigt.
Aber es würde an ein Wunder grenzen, wenn der IS und seine tatsächlichen oder vermeintlichen Verbündeten oder auch das Fremde schlechthin in den Wahnsystemen unserer schizophrenen Mitbürger, spätestens seit dem 11. September, nicht häufig vertreten wären.
Dass auch dem Fremden für viele – und ganz besonders für wahnempfängliche Menschen – zumindest zunächst etwas Unheimliches und Ängstigendes innewohnt, ist Teil unseres evolutionären Erbes. Und dass in unserer Gesellschaft mit diesen Fremden nicht alles rund läuft, kriegen auch Schizophrene mit. Je stärker aber ein wahnaffines Thema tabuisiert wird, desto interessanter wird es für ein Gehirn, in dem die Paranoia begonnen hat, sich einzurichten.
Die Ausbildung einer Gesinnung setzt die Fähigkeit zur freien Willensbildung voraus. Im vorliegenden Fall kann davon keine Rede sein, die entsprechenden Ansichten sind durch einen krankhaften Mechanismus der Überzeugungsbildung entstanden.
Nun stellen zum Glück die meisten wahnhaft Erkrankten weder eine Gefahr für sich noch für andere dar. Außerdem gibt es aufgrund der restriktiven Waffengesetze in Deutschland nur selten die Kombination von (gefährlicher) psychischer Störung und Schusswaffenbesitz. Ob das Attentat von Hanau zu verhindern gewesen wäre, wenn die Bundeanwaltschaft den dortigen Sozialpsychiatrischen Dienst informiert hätte, muss offen bleiben. Selbst wenn dort die erhebliche Fremdgefährdung des Tobias R. zutreffend eingeschätzt worden wäre und zu einer Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen in einer geschlossenen Psychiatrie geführt hätte, wäre noch eine weitere Hürde zu nehmen gewesen: Ein Richter muss eine solche Unterbringung innerhalb von 24 Stunden überprüfen.
Von Bundesland zu Bundesland, aber auch von Richter zu Richter werden dabei unterschiedlich strenge Maßstäbe angelegt. Zudem hat der Zeitgeist – ganz besonders in Berlin – in den letzten Jahrzehnten die Position der öffentlichen Sicherheit gegenüber der des Patienten geschwächt. Wie die Prüfung im Falle des Tobias R. tatsächlich ausgegangen wäre, weiß niemand. Aber vielleicht gibt es in Hanau einen Richter, der heimlich drei Kreuze geschlagen hat, weil dieser Kelch an ihm vorüber gegangen ist.