Von Klaus Rüdiger Mai.
Der Umbruch der Gesellschaft äußert sich in ausbrechenden Kämpfen. Es ist völlig undenkbar, dass Kirche nicht davon erfasst wird. Selbst wenn sie sich allergrößte Zurückhaltung im politischen Raum auferlegen würde, selbst wenn Kirchenvertreter zu den gesellschaftlichen Fragen schwiegen, beteiligte sie allein der Umstand, dass Christen zugleich auch Staatsbürger sind, an den Auseinandersetzungen. Im Übrigen werden die politischen Kämpfe sehr viel härter und an Ausmaß zunehmen, weil die drängenden Probleme sich verschärfen. Die Regierung scheint das jedoch nicht recht wahrnehmen zu wollen oder zu können. […]
Wie weit sich das Establishment von der Wirklichkeit entfernt hat, bringt das Erlebnis eines Journalisten auf den Punkt: Als der Journalist „einen Sozialdemokraten aus dem Berliner Politikbetrieb über die massive Unzufriedenheit mit seiner Partei gerade bei den Stammwählern hinwies, wurde er richtig sauer: ‚Wir machen so geile Politik, den Leuten geht es so gut wie nie, aber sie sind zu blöd, um das zu verstehen.‘“
Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen verläuft sich im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vollständig in der politischen Topographie und sieht den Wald vor Bäumen nicht, wenn er sagt: „Das Ziel der CDU kann nicht sein, alles, auch programmatisch, zu sammeln, das rechts von der politischen Linken ist“. Rechts von der politischen Linken ist aber die Mitte. Will die CDU also alles sammeln, was politische Linke ist? Will sie selbst politische Linke werden? Gleichzeitig spielt er das christliche Menschenbild gegen das konservative aus, das seiner Ansicht nach nicht zur CDU gehört. Diese Aussage löste heftigen Protest der Werteunion aus. All das belegt, wie dem Establishment die Maßstäbe verloren gehen.
Begriffe wie Establishment oder herrschende Klasse definieren in unterschiedlicher Weise die gleichen soziologischen Tatsachen. Benutzen wir den Begriff im Sinne eines Geflechts aus politischen, wirtschaftlichen, medialen, kulturellen und wissenschaftlichen Eliten, die gegenseitig ihre beherrschende Stellung absichern und ein starkes wirtschaftliches Interesse daran besitzen, dass dieses Geflecht nicht infrage gestellt wird. Die Frage lautet, ob religiöse Eliten auch dazu zählen. Und ob es sie überhaupt geben darf.
Auf die Infragestellung ihrer Existenz durch eine disparate von ihr mitverschuldete gesellschaftliche Entwicklung kann das Establishment auf zwei Wegen reagieren. Entweder es analysiert die gesellschaftliche Entwicklung, definiert die Probleme und findet Lösungen, oder es ignoriert die Entwicklung nach dem bekannten Motto: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Der zweite Weg würde einen verstärkten propagandistischen bzw. repressiven Aufwand erfordern, der aber letztlich nur die Spannungen verschärft. Es käme zur Frontenbildung, die ab einem bestimmten Grad der Verhärtung nicht mehr aufzulösen ist. Michael Stürmer schreibt in der WELT: „Immer aber gilt, dass eine Republik ohne Republikaner nicht von Dauer sein kann. Die Politiker zeigen sich überfordert. Unterdessen treibt das Gemeinwesen in Richtung Verfassungskrise.“
Eine Kirche im Zeichen des Doppeleinhorns?
Was so sehr ermüdet, ratlos macht und verzweifeln lässt, ist, dass diese Entwicklung von einigen, die dann unter mediales Dauerfeuer gerieten, bereits im Herbst 2015 vorausgesehen wurde, nicht, weil sie so klug waren, sondern weil man diese Entwicklung prognostizieren konnte, wenn man sich nüchtern mit den Tatsachen beschäftigte. Die Ereignisse in Köln, die Terroranschläge, No-go-Areas wie der Görlitzer Park in Berlin, die teilweise Kapitulation der Polizei vor kriminellen Clans, das Kippen der Stimmung in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs, die rasante Zunahme von Messerangriffen, so dass das LKA Sachsen-Anhalts Messerangriffe als eigene Kategorie in der Kriminalstatistik führen will, sind Symptome für den Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung. Der Bewegungsfreiraum von Frauen wird eingeschränkt, ohne dass aus feministischen Kreisen – bis auf wenige Ausnahmen – Protest laut wird. […]
Jede Kritik, jeder Lösungsvorschlag, der nicht den ideologischen Vorstellungen des neuen Establishments entspricht, wird diffamiert, um von der Verschärfung der gesellschaftlichen Situation und der Gefährdung des sozialen Friedens abzulenken. Diffamieren meint in diesem Zusammenhang, dass sich nicht mit den Argumenten der Kritiker auseinandergesetzt wird, sondern Kritik mit einem negativen Etikett versehen wird. Symptomatisch dafür ist die vom Bundesfamilienministerium finanzierte Kampagne „Doppeleinhorn“, die zu dem grundgesetzwidrigen Schluss kommt: „Es heißt Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und nicht Grundrecht auf Scheißelabern.“ Wer urteilt darüber, was Meinung und was Scheiße ist? […]
Wo Kirche sich am Diskurs der Gesellschaft beteiligt, gehört es zu ihren Aufgaben, mäßigend und verständnisfördernd zu wirken. Ausgeprägte deutsche Sonderwege im Kampf um den Titel des Moralweltmeisters sollten die Kirchen dabei dringend meiden. Schon jetzt werden die Vorstellungen der westlichen Kirche, der westeuropäischen Protestanten „nur von einer Minderheit der weltweiten Christenheit“ geteilt – „und auch nur von solchen Kirchen, die unter den soziokulturellen Bedingungen spätmoderner Gesellschaften faktisch weltweit schrumpfen“, wie der Theologe Günter Thomas schreibt.
Im Gefolge der Flüchtlingskrise verschlechtert sich das Verhältnis der christlichen Kirchen Deutschlands zu den Schwesterkirchen in Osteuropa. So entsteht der Eindruck, dass die deutschen Kirchen den muslimischen Verbänden in einer ganz und gar nicht selbstbewussten Haltung näher stehen als den Christen Osteuropas. Eine kleine Anekdote mag diese Haltung illustrieren. Auf einem Podium schwärmte der Mitarbeiter der EKBO [Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz] Bernd Krebs davon, wie sehr einem Muslim seine kahle, bilderlose Kirche in Berlin-Neukölln gefallen habe und freute sich anderseits darüber, dass eine polnische Katholikin „schreiend“ aus selbiger Kirche geflohen sei, weil sie so schmucklos war.
Parteipolitischer Christen-TÜV
Was also sind die „soziokulturellen Bedingungen spätmoderner Gesellschaften“? Unter welchen geistigen, mentalen und medialen Bedingungen agiert Kirche in einer „spätmodernen Gesellschaft“ wie der Bundesrepublik Deutschland? Dabei ist zu bedenken, dass alle Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft zugleich auch innerhalb der Kirche stattfinden. Symptomatisch dafür ist, wenn ein Bischof feststellt: „Wir treten auf jeden Fall dafür ein, dass die Kirche politisch bleibt.“ Dass damit „parteipolitisch“ gemeint ist, belegt der Bischof im selben Interview mit dem Satz: „Aber ich kann mir glaubwürdiges Christensein nicht in der AfD vorstellen.“ Ein Bischof, der Mitglieder oder Wähler einer Partei, die zu den Wahlen zugelassen ist, das Christsein abspricht, ganz gleich, ob es sich um Linke, Grüne, SPD, FDP, CDU, CSU oder AfD handelt, agiert schismatisch. Ein Christen-TÜV fällt weit hinter Martin Luther zurück, der schreibt: „Weder der Papst noch ein Bischof noch sonst irgendwer hat das Recht, über einen Christenmenschen auch nur eine einzige Silbe zu erlassen, außer mit dessen Zustimmung.“
Freilich bilden sich in jeder Gesellschaft notwendigerweise Schnittstellen zwischen den verschiedenen Eliten, so auch zwischen kirchlicher und politischer. Schwierig wird es nur, wenn die immer gleichen Eliten – die Funktionäre der Kirche, der Parteien, der Wirtschafts- und der Gewerkschaftsverbände –, die sich seit Jahren kennen und treffen, sich immer weniger um einen Außenbezug bemühen. Wenn man sich nicht mehr von dem erreichen lässt, was Christen, was Unternehmer, was einfache Gewerkschaftsmitglieder bewegt, dann wird man auf Dauer viele Menschen nicht mehr erreichen. Auf der EKD-Synode 2017 in Köln sagte die Journalistin Christiane Florin in ihrem Impulsreferat: „Die Reste der Volkskirche tun sich mit den Resten der Volksparteien zusammen, das macht immer noch etwas her.“ Die Frage ist nur: Wie lange noch?
Den zweiten Teil dieser Serie finden Sie hier.
Dieser Text ist ein Auszug aus Klaus-Rüdiger Mais neuem Buch „Geht der Kirche der Glaube aus?“. Es erschien bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.
Zur Streitschrift fand im rbb ein Streitgespräch zwischen dem Autor Dr. Klaus-Rüdiger Mai und dem Kulturbeauftragten der EKD Dr. Johann Hinrich Claussen statt. Es empfiehlt sich aber, nicht die Sendefassung von 15 min, sondern die Langfassung anzuhören, weil die Kurzfassung das Streitgespräch zuungunsten des Autors nicht korrekt abbildet.