Impfen lassen oder nicht? Das ist die Gretchenfrage unserer Zeit. Und sie spaltet mitunter auch befreundete Pärchen im Biergarten.
Es ist Sommer, die Biergärten sind geöffnet, und wer es sich noch leisten kann, der schnappt seinen Schatz und verabredet sich mit Freunden auf ein Bier, oder – in unseren Breiten – auf einen „Äbbelwoi“. Deshalb sitzen der Schatz und ich, ganz entgegen unseren Gepflogenheiten, einmal ausnahmsweise überpünktlich an dem zünftigen Biertisch und harren unseres Freundeskreises. So viele sind das ja nicht. Bernd und Sabine treffen kurz darauf ein und sagen zur Begrüßung: „Ich bin geimpft mit Astra-Zeneca“ und „Ich habe Johnson und Johnson intus“. Ich kontere mit „Einmal BioNtech, Impftermin für die Zweitimpfung schon ausgemacht“ und der Schatz sagt: „Ich bin gesund“.
Bernd und Sabine sehen sich kurz gegenseitig an und nehmen dann, wie mir es scheint, in möglichst großer Entfernung zum Schatz Platz. Wir sind ja an der frischen Luft und bei Einmeterfuffzich Abstand sollte sich das Ansteckungsrisiko an einer gesunden Person in deutlichen Grenzen für Geimpfte halten.
Kurz darauf taucht Stephan mit einem fröhlichen „Zweimal Moderna!“ auf und er hat Sandy, die mit Astra und Moderna Kreuzgeimpfte, im Schlepptau. Wir sitzen an einer dieser hübschen Bierbankgarnituren, und der Schatz sitzt ziemlich mittig neben mir, unsere Trinkcompadres verteilen sich somit an den Rändern der Gegenseite des Tisches, sodass um den Schatz herum – bis auf mich – so eine Art infektionsfreier Raum entsteht. Dem Schatz, diplomatisch und sensitiv wie immer, entgeht das natürlich nicht und er sagt: „He, ich habe keine Lepra! Ich bin gesund und einfach nicht geimpft!“ Acht misstrauische Augenpaare schauen sie an.
„Du“, sagt Stephan vorsichtig, „wir machen das nicht wegen uns. Wir machen das wegen dir!“ Der Schatz ist irritiert. „Wegen mir? Ich bin gesund und selbst wenn ich es nicht wäre, dann könnte ich euch wohl kaum infizieren, denn ihr seid ja geimpft!“ „Ja schon“, entgegnet Sandy, „aber tatsächlich könntest du uns infizieren und wir würden das gar nicht merken und dann meine Eltern anstecken oder so.“ „Und wir könnten dich ebenfalls infizieren“, ergänzt Bernd und ich merke, wie der Schatz langsam Adrenalin zieht. Man sieht das. Sie sitzt mit überkreuzten Armen am Tisch und der Zeigefinger der linken Hand klopft in die Armbeuge des rechten Armes. Das ist so eine Art eingebautes Frühwarnsystem. Normalerweise, wenn das zu Hause passiert, ziehe ich mich auf die Toilette zurück und drücke mir die Kopfhörer vom iPhone in die Ohren, bis das Klopfen mutmaßlich aufgehört hat. Hier aber kann ich nicht weg. „Was wollt ihr trinken?“, frage ich, um das Thema zu wechseln. „Wie wäre es mit etwas Impfstoff?“, schlägt der Schatz boshaft vor und verstärkt das Klopfen. Das wird gleich ziemlich übel…
Zungenküsse nach dem Singen in einem geschlossenen Raum
Sabine versucht es vorerst noch nüchtern: „Du, mir ist egal, ob du geimpft bist oder nicht. Ich mag dich trotzdem. Gerade deshalb ist ja der Abstand so wichtig!“ Das ist eigentlich nett gemeint, aber in der derzeitigen Verfassung des Schatzes ein veritabler Brandbeschleuniger. „Das finde ich sehr süß von dir“, ätzt meine Holde, „und auch, dass du dir so Gedanken um meine Gesundheit machst, aber meines Wissens müssten wir uns in einem geschlossenen Raum nach dem Singen Zungenküsse geben, damit es mich mit absoluter Sicherheit erwischt!“ „Über welches Thema ging doch noch gleich deine medizinische Promotionsarbeit?“, wirft sich jetzt Bernd in die Bresche für Sabine und der Schatz zieht die Augenbrauen zusammen: „Zusammenleben mit Menschen mit Angstpsychosen“, gibt er zwar gelogen, aber immerhin schlagfertig zurück. „Also, was wollt ihr trinken? Ich hole es euch auch“, versuche ich, die Spannung zu entschärfen. „Atme dabei bitte nicht auf mein Glas“, gibt meine Gattin fuchsig jetzt auch mir einen mit. Vom Grunde her bleibt jetzt nur noch die Flucht. Man sieht als Beifahrer den Ferrari auf den Brückenpfeiler zurasen, kann aber einfach nicht aussteigen oder „Stop! Stop!“ rufen.
Ich probiere es trotzdem: „Stop! Stop! Mach mal Halbgas. Es ist doch völlig egal, ob jemand geimpft ist oder nicht. Wir sind doch Freunde. Sei froh, dass alle Rücksicht auf dich nehmen!“ „Ich will aber gar nicht, dass jemand Rücksicht auf mich nimmt“, faucht der Schatz, „ich bin einfach nur gesund und habe ein funktionierendes Immunsystem, und wir sind hier im Freien, es ist superunwahrscheinlich, dass einer von euch infiziert ist und selbst wenn ihr es wärt, müssten wir längere Zeit auf Tanzabstand aneinander herankommen, dass ich mir etwas von euch hole, das ich nicht haben will!“
„Lass dich doch einfach selbst impf…“, schlägt Stephan unvollendet vor, denn er wirft damit eine Handgranate in ein Tanklager mit Benzin: „Ich will mich nicht impfen lassen, weil ich eine Thrombose hatte, die Langzeitwirkungen nicht kenne und mir garantiert nichts spritzen lasse, von dem ich nicht weiß, ob es mehr schadet als nützt! Ich bin schon groß und kann entscheiden, welches Risiko ich lieber eingehen möchte. Also rutscht gefälligst bei und tut nicht so, als sei einer von uns der leibhaftige Sensenmann. Gute Güte, Leute – ich erkenne euch nicht wieder!“ Der Schatz tobt, und seine Stimme nimmt die sogenannte „Mutterfrequenz“ an, die nur Männer hören können, die einmal Buben waren.
„Tiefgradig asozial“
Jetzt wird aber auch Sandy zornig: „Du, Impfen ist erste Bürgerpflicht. Jede Impfung sorgt für mehr Herdenimmunität und je mehr Geimpfte es gibt, desto mehr trocknen wir das Virus aus. Wer sich nicht impfen lässt, ist im Grunde tiefgradig asozial, denn er hindert uns alle, unsere Freiheiten zurückzuerlangen!“ „Klar, weil so ein Virus durch zigtausend Geimpfte keinen Mutationsdruck hat und sich nicht verändert“, giftet der Schatz zurück.
Es reicht. „Ich gehe Getränke holen“, schlage ich vor, um feige vom Schlachtfeld zu flüchten, und Bernd und Stephan bieten an, mir „beim Tragen zu helfen“, weil streitende Frauen neben unangemeldeten Steuerprüfungen und einer Trauerrede des Bundespräsidenten das Schlimmste sind, was unsere westliche Zivilisation zu bieten hat.
„Ihr bleibt hier. Alle!“, donnert der Schatz und wir drei Brüder im Geiste und Impfstoff, die sich erhoben hatten, setzen uns brav wieder hin. Mutterfrequenz eben. Sabine kramt in ihrer Handtasche herum: „Hier, ich habe noch einen Test über. Magst du ihn machen?“, bietet sie freundlich an und der Schatz springt auf. „Weißt du, wohin du dir deinen dämlichen Test schieben kannst?“, brüllt sie so laut, dass sämtliche Leute im Biergarten den Kopf drehen, schnappt sich ihre Tasche und verlässt das Etablissement. „Kommst du?“, ruft sie mir streitlustig im Wegstampfen zu, wartet aber nicht auf mich oder eine Antwort und eilt zornig von dannen.
„Geht es Ihrer Frau gut?“, fragt mich ein Mann vom Nachbartisch besorgt. „Schlimmer…“, gebe ich zurück, „…sie ist gesund.“ „Ah…“, sagt er, „…das ist natürlich Pech.“
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Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.