Von Lizzy Stender.
Der Faltprospekt von der Touristeninformation gibt der zweitgrößten Stadt Frankreichs den poetischen Beinamen „Wiege der Kinematographie“. Das trifft im Großen und Ganzen zu. In Lyon haben die Brüder Auguste und Louis Lumière mit ihren patentierten beschichteten Platten für Photographen in den 1880er Jahren das Vermögen verdient, mit dem sie die Entwicklung der ersten Geräte und Materialien für das Kino finanzieren konnten.
Wirklich laufen gelernt haben die Bilder auf dem Landgut des wohlhabenden Unternehmer-Clans der Lumières in La Ciotat an der provençalischen Mittelmeer-Küste. Dort wurde am 21. September 1895 der erste Kino-Film vorgeführt, der eine fiktive Geschichte erzählte. „L’arroseur arrosé“ (etwa „Der begossene Begiesser“) zeigte zum Amüsement des Publikums den Ober-Gärtner-Meister des Landguts, dem ein Hilfsbursche mittels abgeknicktem Gartenschlauch eine Dusche verpasst, wobei letzterer anschließend von seinem erbosten Chef erst verdroschen und dann ebenfalls begossen wird. Der Ultra-Kurzfilm wurde bald auch in Lyon und Paris gezeigt. Er war so populär, dass der Titel zu einer Wendung der Umgangssprache wurde. Mit „l’arroseur arrosé“ bezeichnet man im Französischen einen Menschen, der anderen einen Streich spielen will und dabei selbst zur Zielscheibe wird.
Vermutlich hat keiner der ersten „Kino-Besucher“ sich vorstellen können, welche Umwälzungen aus diesem harmlos lustigen Beginn folgten – Dokumentarfilme und Propaganda, Charlie Chaplins Meisterwerke und die UfA-Wochenschau im Dritten Reich, Hollywood und Bollywood. Heute, etwas mehr als hundert Jahre später, sind bewegte Bilder in gefühlt unendlicher Zahl nur ein paar Tastenklicks entfernt. Jeder Smartphone- oder Tablet-Besitzer, der drei Knöpfe in der richtigen Reihenfolge drücken kann, wird in die Lage versetzt, die Menschheit mit einem Video seiner purzelbaumschlagenden Katze zu beglücken - oder zu behelligen.
In den 1990er Jahren hatte mir ein Kunde meiner Unternehmensberatung seinen Video-Konferenz-Raum zur Verfügung gestellt, was sich angesichts des Auftrags, vor Ort befindliche Kandidaten für die Besetzung eines Postens im südlichen Afrika zu interviewen, als sehr effizient und budgetschonend erwies. Dennoch wurde diese technisch beeindruckende Infrastruktur nur selten genutzt. „Das wirkt alles irgendwie künstlich“, war die Antwort auf meine neugierige Frage. „Wir wollen die Bewerber lieber leibhaftig gegenüber sitzen haben.“ Gleich, ob Katzen oder Kandidaten für Management-Positionen, es bleiben bewegte Bilder.
Wie einst bei Käpt’n Kirk im Raumschiff Enterprise
Jean-Luc Mélenchon, Kandidat der linken Bürgerbewegung La France Insoumise für die französischen Präsidentschaftswahlen im April/Mai 2017, hatte mit seinem Wahlkampfteam für Sonntag, den 5. Februar 2017, einen wichtigen Redeauftritt in Paris geplant. Einige Wochen zuvor stellte sich jedoch heraus, dass zwei ernstzunehmende Gegner, nämlich Marine Le Pen und Emmanuel Macron, an eben diesem Sonntag ebenfalls jeweils Groß-Events abhalten würden – aber nicht in Paris, sondern in Lyon.
Dem Vorbild seiner politischen Verwandtschaft Podemos in Spanien folgend, setzt Mélenchon konsequent auf digitale Technik und einen weitgehend per crowd-funding finanzierten Wahlkampf, in dem Hubschrauber und Business-Jets nicht vorgesehen sind. So verschaffte diese Herausforderung, an zwei Orten zur gleichen Zeit vor vollen Sälen zu sprechen, der Stadt Lyon, der „Wiege des Kinos“, zum zweiten Mal eine Welt-Premiere:
Das Team von Mélenchon schickte, wohl aus taktischen Gründen, um den Konkurrenten Le Pen und Macron Paroli zu bieten, den echten JLM nach Lyon, wo mehr als sechstausend Zuhörer auf ihn warteten. Und um die mehr als zwölftausend Getreuen, die sich in Paris versammelt hatten, nicht zu enttäuschen, wurde ihnen ihr Idol über die 450 km Distanz – wie einst bei Käpt’n Kirk im Raumschiff Enterprise – „hinübergebeamt“. Hologramm-Technik macht’s möglich.
Wer es mit eigenen Augen ansehen möchte: Hier ab 25:52 auf der Zeitschiene – JLM ist schon „auf Betriebstemperatur“ – wird zwischen „en direct de Lyon“ (Anzeige rechts oben im Bildausschnitt) und „en direct de Paris“ (Anzeige links oben) öfter mal umgeschaltet.
Wenn ich mir vorstelle, mitten im Publikum in Paris zu sitzen, der Beifall um mich herum – würde ich bemerken, dass die Gestalt auf der Bühne nur eine Projektion ist? Gut, im Video sieht man bei bestimmten Kameraeinstellungen, dass der JLM in Paris durchsichtig ist, wenn die Kamera einen anderen Menschen hinter ihm einfängt. Aber das sind Details, die vielleicht auch der Hektik der “Welt-Première“ geschuldet sind.
Ein Politiker "zum Anfassen“ in einer ganz neue Dimension
Ist das nun ein historischer Moment, wie das Filmdokument der Frères Lumière anno 1895? Was mag sich daraus alles entwickeln? Ungeahnte Möglichkeiten tun sich auf, für basisdemokratische Bewegungen, aber auch für Despoten und Demagogen. Wenn man zu viele Brotmesser in blutenden Wunden hat stecken sehen, fällt es zunehmend schwer, das rationale Mantra herunterzubeten, dass man die Tatsache, dass Menschen mit Brotmessern sowohl Brot schneiden als auch andere Menschen umbringen, nicht dem Werkzeug zum Vorwurf machen kann. Der Fortschritts-Optimismus des Fin de Siècle lässt sich nach den Ungeheuerlichkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr überstreifen wie die schwarze Lichtschutzhaube der frühen Photographen.
Immer schneller finden die Begriffe ihren Weg in die Alltagssprache. Auch an jenem Wochenende in Lyon: angeblich hatte eine russische Troll-Agentur versucht, Emmanuel Macron, dem Konkurrenten des „verdoppelten“ Jean-Luc Mélenchon, eine Schmuddelgeschichte anzuhängen. Die Trolle hatten behauptet, Macron führe ein Doppelleben und würde regelmäßig seine Frau mit einem Mann betrügen. Der solchermaßen Angegriffene konterte ironisch und elegant, dass es sich bei der in der delikaten Situation beschriebenen Gestalt „nur um sein Hologramm gehandelt“ haben könnte.
Unter diesem Aspekt gewinnt die besonders in Wahlkampfzeiten häufig strapazierte Formel, der volksnahe Kandidat XY sei „ein Politiker zum Anfassen“ eine ganz neue Dimension.
Lizzy Stender, gebürtige Stuttgarterin, lebt nach einem kosmopolitischen Berufsleben zur Zeit auf einem Bio-Bauernhof an der Grenze vom Limousin zur Auvergne.