Von Marei Bestek.
In Deutschland könnte man dieser Tage wohl im Wald unter einem Stein hausen, die Debatte rund um den Islam würde einen dennoch erreichen. Gebeutelt von den oft zehrenden politischen Diskussionen, werden die Stimmen der Atheisten immer lauter, die behaupten, dass eine Welt ohne Religionen eine bessere und friedlichere wäre. Aber ist das wirklich der Fall? Würde ein Leben ohne Religionen funktionieren? Was viele Nichtgläubige nicht merken: Auch wenn sie die großen Weltreligionen ablehnen, haben sie oft Zuflucht in Ersatzreligionen gefunden:
10 neue Weltreligionen
Mutter Natur: Mittlerweile haben wir uns so weit von der wirklichen Natur entfernt, dass wir uns ihr auf spiritueller Ebene wieder annähern können. Mutter Erde als ehrfahrbares Lebenselixier und unerschöpflicher Jungbrunnen, den man sich unbedingt bewahren muss. Daher retten wir die Umwelt, das Klima und den Blauwal sowieso, suchen nach erneuerbaren Energien, ökologisch wertvollen Anbaumethoden und der sparsamsten Glühbirne. Nachhaltigkeit als neuer Glaubenskern. Denn schließlich gilt: Wer die Erde rettet, der rettet auch sich selbst.
Die Nahrungs-Andacht: Bio muss es sein. Möglichst grün und gesund. Was auf den Teller kommt, ist vielen heute heilig. Wer sich ökologisch ernährt, lebt besser und bleibt länger schön. So zählt man bedächtig Kalorien, erstellt Nahrungslisten und jagt neuen Ernährungstrends hinterher (Die unbedingt auch fotografiert werden müssen!). Leinsamen haben längst ausgedient und werden durch Chia-Samen ersetzt. Statt Äpfeln isst man heute Goji-Beeren. Ernährung als neue Heilkraft und Lebensversicherung. Du bist, was du isst!
Die Fitness-Fürbitte: Ein Eiweiß-Shake am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Deutschland pumpt die Muskeln auf - ächzt, lechzt und schwitzt für den Traumkörper. Das äußere Erscheinungsbild soll zunehmend der inneren Verwundbarkeit entgegenwirken. Ein durchtrainierter Körper scheint unbezwingbar: Er kann jeden physischen oder psychischen Angriff mit Leichtigkeit zu Boden strecken und den körperlichen Verfall begrenzen. Notfalls läuft man seinen Problemen einfach davon.
Die Kosmetik-Konfession: Die „äußere Kosmetik“ überholt zunehemnd die „innere Kosmetik“. Die eigene Fehlbarkeit wird morgens gekonnt weggepudert. Eine schöne Handtasche, die neueste Kleidung und der perfekte Lidstrich vernichten jede Art von Zweifel. Mediziner werden zu „Halbgöttern in Weiß“, die uns das perfekte Äußere formen sollen. Botox, Silikon und Hyaluronsäure scheinen uns dabei zunehmend zu Kopf zu steigen: Statt sich anzunehmen und mit sich selbst auseinanderzusetzen, folgt der Kampf gegen das eigene Spiegelbild, der erst beendet wird, wenn ein Ideal erreicht wird (Also nie).
Die Eventmesse: Zweifel, Ängste und die Annahme der eigenen Unbedeutsamkeit: Sie erreichen die „Generation Vergnügen“ nicht mehr. Diese hetzt von einem Event zum nächsten, schlürft an Champagner-Gläsern und berauscht sich an der vermeintlichen Unbeschwertheit des Moments - immer im Blick habend, dass man eine möglichst große Öffentlichkeit an der Leichtigkeit des Seins und der perfekt geformten Fassade aus Heiterkeit teilhaben lässt. Probleme der Wirklichkeit - man kann sie gut ausblenden, solange man sich nur auf das eigene Wohlergehen konzentriert. Derweil präsentiert man sich „gottgleich“ - unnahbar, unantastbar, makellos - und weckt damit die Sehnsüchte der Mitmenschen. Nur seine eigenen, die stillt man nicht.
Die App, mein Hirte: Die Technisierung sorgte in der Vergangenheit für Aufklärung und Fortschritt und machte natürliche Phänomene erklärbar und (zum Teil) beherrschbar. Mittlerweile scheinen auch wir mehr und mehr durch „unsichtbare Hand“ gelenkt. Den „rechten Weg“ finden wir heute per Navi-App, Liebe sucht man bei ‚Tinder‘ und Zuflucht in sozialen Netzwerken. Und so liegt unser Leben nicht mehr „in Gottes Hand“, sondern wird von einem neuen „Technik-Gott“ strukturiert, der uns in Abhängigkeit bringt und zur Anbetung zwingt. Wie die Schäflein dem Hirten folgen wir dem Technik-Ruf und geben uns medienhörig: Die Fernsehzeitung ist die neue Bibel, das Radio unsere Abendandacht.
Die Esoterik-Weihe: Mit Räucherstab in der einen und Ayurveda-Tee in der anderen Hand begibt sich die Fraktion „Mystik“ auf die Suche nach Chakren, spiritueller Erfüllung und Glückseligkeit. Yoga-Kurse werden neben sportlichen und meditativen Inhalten durch allerlei „Erlebnissuchen“ bereichert. Wahlweise kann man hier seine Nebennieren, seinen Beckenboden oder aber auch seine innere Weiblichkeit spüren und kennenlernen. Bei letzterem habe ich mich besonders angestrengt, so sehr, dass ich annahm, meine Gebärmutter müsste jeden Moment implodieren. Tat sie aber nicht.
Die Astrologie-Abbitte:„Weißt du wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?“. Wer nach all den frustrierenden und ernüchternden Nachrichten am Tag sein inneres Gleichgewicht wiederfinden möchte, dem empfehle am Abend eine halbe Stunde Astro-TV. Da erfährt man so einiges über sich selbst, vor allem über Beziehungen, die man nie haben wird. Das ergibt nicht nur schöne Träume, sondern auch die tröstende Einsicht, dass wir allein der Macht der Sterne unterlegen sind. Man wird erleichtert, auf jeden Fall finanziell.
Das links-grüne Gebet: Eine alte Religion erstrahlt in neuem Glanz, in ihrer Durchschlagskraft ist sie aber nicht minder erfolgreich. Das Glaubensbekenntnis dieser Religion ist die soziale Gleichheit, die bar jeder Geschichtskenntnis weiterhin eisern und mit allen Mitteln verteidigt wird. Eine neue Harmonielehre führt Kulturen ganz im Sinne moralischer Genugtuung und Toleranzbesoffenheit zusammen, das natürliche Arrangement zwischen Frau und Mann steuert man durch Genderismus, Feminismus und Frauenquote. Vertreter dieser Konfession sind sozialstaatsfixiert, humanitär und antirassistisch - wobei sich der Antirassismus bis zur Verachtung des Eigenen steigern kann.
Der moralische Heiligenschein: Eine Erscheinung, die von einschlägigen Kolumnen-Gurus ausgeht. Mitglieder dieses Glaubenskults ziehen es vor nicht selbst aktiv zu werden, sondern lieber die Handlungen anderer zu bewerten, um dadurch die eigene Rangposition und das eigene Ansehen zu steigern (also ganz im Sinne wirklicher Moral). Die Frage „Darf er das?“ wiederholt sich dabei so oft wie das Amen in der Kirche. Im Grunde kann alles pervertiert und moralisiert werden, genauso weist man jedwede Verantwortung und Schuld zurück, wenn sich die Folgen der Moralpredigt als katastrophal erweisen.
Eine zunehmende Radikalisierung subjektiver Moralansichten
Die Liste der Ersatzreligionen ließe sich wohl beständig erweitern: Drogen, Karriere („Generation Hollywood“), übersteigerte Tierliebe… . Wenn es darum geht, sich Rituale zu erschaffen oder der Tragik und Unberechenbarkeit des Lebens zu entkommen, scheint der Zufluchtswunsch des Menschen ungestillt – damals wie heute. Von den frühen Naturreligionen über die Götter hin zu Gott und schließlich zu unseren postmodernen Götzen und goldenen Kälbern.
Die Frage, ob ein Leben ohne Religionen funktioniert, wird somit rhetorisch: Es ist das natürliche Bestreben des Menschen Sinnfragen zu stellen und nach Rechtfertigung, Freiheit und Wahrheit auf der Welt zu suchen. Letztlich das, was uns von einem rein tierischen Überlebensdrang unterscheidet. Die Frage ist also nicht, ob wir glauben, sondern an was. Gäbe es die großen Weltreligionen nicht, es gäbe etwas anderes. (An nichts zu glauben und nur sich selbst zu genügen ist vielleicht die größte Herausforderung des Menschen?)
Religion scheint somit nur eine Parabel für einen bewussten oder verdrängenden Umgang mit dem eigenen Ich. Götter, Gott und Götzen werden zu einer Metapher für Sehnsucht, Erfüllung und Vollkommenheit. Für welche (Ersatz-) Religion man sich dabei entscheidet, bleibt jedem selbst überlassen, was sich allerdings mit dem Allmachtsanspruch stößt, den jede Religion für sich beansprucht. In Zeiten immer größer werdender persönlicher Freiheit liegt darin ein wachsendes Konfliktpotenzial, was sich nicht nur in den derzeitigen Auseinandersetzungen mit dem Islam widerspiegelt, sondern auch in einer zunehmenden Radikalisierung subjektiver Moralansichten. Auf fast jeder gesellschaftlichen Ebene entstehen immer mehr Extreme, die den Kampf miteinander suchen.
Viele der modernen Ersatzreligionen können den Tod nicht als Bestandteil des Lebens akzeptieren
Trotz aller persönlichen Freiheit: Die Frage nach der Fruchtbarkeit einer Religion sollte sich jeder stellen. Prüfstein ist hierbei der Wert der (Ersatz-) Religion für das eigene Leben, aber auch für das der Mitmenschen. Welche Religion, Lebensart oder Weltauffassung liefert die besten Antworten, Gedanken, Grundlagen und prägt Gesellschaften zum Positiven? Hier fällt auf, dass viele unserer modernen Ersatzreligionen den Tod nicht als Bestandteil des Lebens akzeptieren können und stattdessen einen narzisstischen Kampf gegen unsere Endlichkeit und die Vergänglichkeit der Schönheit beginnen, den man am Ende nur verlieren kann. Die innere Annahme und Auseinandersetzung mit dem Selbst will man durch äußeres Schaffen, vor allem aber durch bloße äußere Bestätigung ersetzen. Während andere Religionen den Tod als Erlösung oder Rechtfertigung des Lebens sehen („Weg zum Tod“), versuchen sich Ersatzgötter in einer Flucht vor dem Tod oder in einer Ausblendung und Romantisierung der Wirklichkeit, wodurch folgerichtig irgendwann das eigene Wohlbefinden leiden muss. Hinzu kommt, dass die meisten modernen Götzen nur als Trendprodukt einer Generation gewertet werden können und demnach eine schnelle Verfallszeit haben. Ewigkeitsgedanken sucht man hier vergebens.
Und wie sieht es mit der Fruchtbarkeit des Christentums aus? Man muss nicht unbedingt an einen Gott glauben, um dennoch die Schaffenskraft und den „Geist des Christentums“ anzuerkennen. Das christliche Glaubensbekenntnis als „Lebensphilosophie“, die sich im Test der Jahrhunderte bewährte und schließlich das Grundgerüst unserer modernen Gesellschaft formte (Säkularisierung, Freiheit des Einzelnen, mündiges Gewissen, Rechtssicherheit, Arbeitsethos, Vergebung, Nächstenliebe... ). Nicht ohne Grund gehören jüdisch-christlich geprägte Länder zu den reichsten, wirtschaftlich erfolgreichsten, humanitärsten und kulturell ergiebigsten Nationen der Welt. Andere Religionen, Sekten und Ersatzgötter können hier nicht mithalten (Insbesondere auch der Islam!). Warum?
Abschließend ein Zitat des englischen Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton, der diesen Text in nur zwei Sätzen zusammenfasst: "Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche. Das ist die Chance der Propheten - und sie kommen in Scharen."
Marei Bestek (Jahrgang 1990) wohnt in Köln und hat Medienkommunikation & Journalismus studiert.