Von Florian Friedman.
Letzter Check: Die Kokosnussschalen sitzen perfekt auf den Ohren, die Landebahn erstrahlt unter Fackeln, als wäre es Tag – alle Antennen gen Himmel! Trotzdem sind keine Flugzeuge in Sicht. Die Gläubigen warten weiter. Seit Jahrzehnten.
Im Zweiten Weltkrieg errichteten japanische und alliierte Streitkräfte zahlreiche Militärbasen auf entlegenen Inseln im Südpazifik. Die melanesischen Ureinwohner der Region erlebten ab 1941, wie Flugzeuge wertvolles „Cargo“ (deutsch: Güter) auf ihre Inseln brachten. Verborgen blieb den Einheimischen jedoch, worin die eigentlichen Gründe und Mechanismen für die Ankunft der seltsamen Himmelsmaschinen bestanden. Nach Kriegsende versuchten einige Stämme, die Flugzeuge zurückzubringen. Sie entzündeten Fackeln, um beleuchtete Landebahnen nachzubilden, nutzten Kokosnussschalen als Kopfhörer und Äste als Antennen. Auch lebensgroße Flugzeugattrappen aus Stroh entstanden in der Hoffnung, dadurch weitere Flieger anzulocken. Obwohl keines ihrer religiösen Rituale je die Hoffnungen der Inselbewohner erfüllte, existieren einige dieser sogenannten Cargo-Kulte bis heute.
Niemand im Westen muss nach Vanuatu reisen und Melanesier treffen, um mitzuerleben, wie Menschen versuchen, mangelndes Wissen durch magisches Denken aufzuwiegen. Wir können das selbst sehr gut und sind gegenüber den pazifischen Kultanhängern sogar im Vorteil: Unser Cargo braucht keine Frachträume. Es besteht in dem wohligen Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – und es ist ansteckend. Kuscheln macht Spaß.
Schaut man genauer und ehrlicher auf das politische Geschehen unserer Zeit, kommt man schwer umhin, zu bemerken: In den Cargo-Demokratien des säkularisierten Westens ahmen wir seit Längerem nur noch äußere Merkmale nach, ohne die zugrundeliegenden inneren Prinzipien und Kausalitäten noch wirklich zu kennen. Drei unserer viralen Lieblingsrituale heißen: freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Alle Antennen gen Himmel!
Wählen ohne Folgen
Demokratie setzt, wie Karl Jaspers feststellte, „die Vernunft im Volk voraus, die sie erst hervorbringen soll“. Damit war ein Dilemma formuliert, das der Westen mit seinen offenen Gesellschaften aufzulösen gedachte. Aber wissen wir zum Beispiel noch, dass uns einmal an Bildung für alle gelegen war, weil wir uns dadurch Stimmberechtige erhofften, die informierte und weise Entscheidungen treffen? Die Bestrebungen von NGOs, aber auch von Parteien, die Altersgrenze für die Teilnahme an den Bundestagswahlen immer weiter zu senken, gar abzuschaffen, lassen erahnen: Vernunft – und somit echte Demokratie – interessiert die politische Klasse nur noch am Rande.
„Demokratie bedeutet, dass man über die eigenen Lebensumstände selbst mitbestimmen darf“, sagt etwa Georg Kurz, ehemaliger Bundessprecher der Grünen Jugend. „Das pauschal einer bestimmten Gruppe gesetzlich zu verwehren, halten wir für falsch.“ Jeder, der schreiben und lesen kann, solle deshalb zu den Bundestagswahlen zugelassen werden.
Wer das Juste milieu Deutschlands kennt, der weiß: Bei den Grünen möchte man Grundschülern eigentlich nicht einmal die Wahl zwischen Maiswaffeln (lecker!) und Maoam (igitt!) überlassen. Trotzdem haben Kurz und seine Parteikollegen offenbar kein Problem damit, Sechsjährige entscheiden zu lassen, ob wir es in der nächsten Legislaturperiode nicht doch mal wieder mit einem Tyrannen versuchen sollten. Kinder an die Macht! Es sind noch Kokosnussschalen für alle da.
In den Augen der Grünen Jugend, so muss man vermuten, sind freie Wahlen nicht mehr als ein Ritual ohne Folgen, eine Oberfläche, auf die sich knallbunte Politschauen projizieren lassen. Was dort dann an Bildern aufflackert, steht mit dem Wandel, der tatsächlich in unserem Land vor sich geht, in keinem Kausalzusammenhang. Wagt man anzusprechen, was unter der Oberfläche an Realität schlummert, riskiert man den Zorn des Cargo-Rechtsstaats.
Freiheit als Gefahrengut
Es gibt Menschen in unseren Cargo-Demokratien, deren Meinungen in Presse und Politik so unbeliebt sind, dass Dutzende Banken es für angebracht hielten, ihnen das Konto zu kündigen. Es gibt Menschen unter uns, deren Gedanken dem Establishment derart ketzerisch erscheinen, dass Internet-Anbieter ihnen angewidert den Datenhahn abdrehen. Ganz zu schweigen natürlich von nahezu allen sozialen Medien. Aus der digitalen Agora – wir konnten es während der Corona-Pandemie beobachten – können Kritiker schon dann geworfen werden, wenn sie die Wirksamkeit einer medizinischen Maßnahme ein halbes Jahr vor allen anderen in Zweifel ziehen.
Wer sich heute in Deutschland die falsche Freiheit nimmt, um seine Überzeugungen zu äußern, riskiert die gesellschaftliche Stilllegung. Dass inzwischen auch gefordert wird, unliebsamen Bürgern Grundrechte zu entziehen, ist nur die letzte Ausprägung des deutschen Hangs zum Totalitären. Und vermutlich die ehrlichste. Dass die Bundesrepublik es in der Vergangenheit sogar überstanden hat, ein früheres NSDAP-Mitglied zum Bundeskanzler zu wählen – wen kümmert’s, wenn uns Gefahren wie rechtsextreme Hawaii-Toasts und rassistische Reisbeutel drohen?
Meinungen, die wehtun
Rational wäre es für einen liberalen Staat, Meinungsfreiheit so zu begreifen, dass gerade jene Äußerungen unter Schutz stehen, die andere verletzen könnten, ja, die als hochgefährlich gelten. Ein Frevel in unseren hypersensiblen Tagen – aber letztlich das einzige Mittel, um auch Schwächere dauerhaft zu schützen.
Frei das Wort führen zu dürfen, ist kein wesentliches Merkmal offener Gesellschaften, weil man sich sonst nicht gut darüber streiten könnte, ob Taylor Swift besser als Billie Eilish singt. Meinungsfreiheit soll greifen, wenn die verbale Kopfnuss das geistige Nasenbein bricht. Für alles andere erweist sie sich als bedeutungslos. Meinungsfreiheit fungiert als Gleichmacher, ohne den auf lange Sicht stets die stärkere oder schlicht skrupellosere Seite gewinnt. Die Geschichte hat es uns tiefrot bewiesen.
Im Dreißigjährigen Krieg schrumpfte die Zahl der Einwohner Magdeburgs von 30.000 auf 450. Weil ein großer Teil der Bevölkerung Europas damals nicht der Strände halber auf die Seychellen ausgewandert war, sondern dem Kontinent durch Musketen und Hellebarden abhandenkam, versuchte man es mit einer neuen Strategie: Wie wäre es, lautete die gewagte Frage, Meinungen selbst dann zu tolerieren, wenn sie verletzen und vielleicht sogar das Liebste eines Individuums infrage stellen – Gut und Böse, Höllenfeuer und Seelenheil, Wirklichkeit und Schein? Denn: Egal, wie hoch die Zahl der gepfählten Schädel auf europäischen Stadtmauern auch ausfiel, der Frieden ließ auf sich warten.
Meinungsfreiheit ist eine Überlebensstrategie, die uns ungeahnte Sicherheit und damit hohen Wohlstand eingebracht hat. Doch statt langfristig strategisch zu denken, retten wir uns taktisch in die Kurzstrecke. Eine Zuflucht findet sich im Meinungsmainstream. Um hier dazuzugehören, gilt es allerdings, eine ganze Reihe von seltsamen Widersprüchen zu bejahen.
Seltsame Widersprüche überall
Wir hören etwa, dass Homosexuellen ihre sexuelle Orientierung angeboren ist, weshalb Konversionstherapien im Stil evangelikaler Megachurch-Pastoren Unfug seien. Wir glauben das, es erscheint uns stringent. Stutzen tut mancher dann nur, wenn dieselben Stimmen behaupten, sobald die Rede von Transgender- oder Nonbinary-Personen ist, dass sexuelle Identität und Orientierung jederzeit frei durch das Individuum entscheidbar sind.
Wer jetzt den Fehler begeht, vorzubringen, die sexuellen Neigungen einer Person seien biologisch in weiten Teilen determiniert, darf im besseren Fall eine Droh-Mail seines DEI-Beauftragten erwarten; im schlimmeren Fall lädt ein Gericht zur Anhörung. Wir sind verwirrt: Ist Lady Gagas „Born This Way“ nun eine Queer-Hymne oder Rechtsrock?
Ähnlich konfus sieht es innerhalb der sogenannten vierten Welle des Feminismus aus. Einerseits entdeckt man hier noch im privatesten Winkel „das Patriarchat“ und verlangt Männern rechtlich ab, jede Annäherung vorab wohlformuliert zu erbitten. Andererseits können Vertreter dieser postmodernen Frauenrechtsbewegung in Prostitution keine Ausbeutung von Frauen durch Männer erkennen. Selbst dann nicht, wenn im Bordell Plastikeimer stehen, in die Prostituierte sich übergeben sollen, wenn der Freier – durchaus ohne Ankündigung – auf „Throat-Fucking“ besteht. Wer zahlt, hat recht? Wir schließen: Ökonomische Macht, die Linken alter Schule einmal als wichtigste Variable galt, muss eine Phantasie faschistischer Kreise sein und Anschaffen ein Job wie jeder andere. Dürfen Bürgergeld-Empfänger demnächst mit Sanktionen rechnen, wenn sie eine Stelle als Lustsklave im BDSM-Dungeon ablehnen?
Besonders viele Einträge in der Liste von seltsamen Widersprüchen, zu denen sich jeder tugendhafte Bürger besser verpflichtet, fallen in die Kategorie Rassismus. So sollen wir bekanntlich glauben, dass in Deutschland kein Mensch „illegal ist“ und sind demnach angehalten, sämtliche Personen, die sich an unserer Grenze einfinden, willkommen zu heißen. Ein verschwörungstheoretischer Wahn sei es, solche Prämissen durchzudenken und womöglich zu der Konklusion zu gelangen, dass dies bei den niedrigen Geburtenraten der Einheimischen in einer rasanten Veränderung der Bevölkerung und so des Landes resultieren muss. Alles keine Mathematik, versichert man den Skeptikern, sondern schiere Nazi-Ideologie.
Rituelle Kraft als Doublethink-Mantra
Schon den Taschenrechner auszupacken, ist Sakrileg. Da kann man noch so oft betonen, dass man das Asylrecht an sich für eine begrüßenswerte Errungenschaft hält und man Menschen gleich welcher Hautfarbe gerne in der Not hilft. Zu fest sitzen die Kokosnussschalen auf den Ohren, um zu begreifen, dass Fremdenfreundlichkeit und der Wunsch nach einer kontrollierten Einwanderungspolitik sich nicht ausschließen.
Wollte man früher in den Klassenkampf ziehen, um gesellschaftliche Widersprüche aufzulösen, lautet die neue progressive Maxime: „Wir können alles synchron.“ Selbst Vielfalt und Gleichheit, zwei Konzepte, die sich logisch ausschließen – und gerade dadurch ihre rituelle Kraft als Doublethink-Mantra gewinnen. Das fatale Prinzip der Beschwörung des Widersinnigen verstand schon Voltaire: „Wer dich dazu bringen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch dazu bringen, Gräueltaten zu begehen.“
Logiker wissen, dass in (klassischen) formalen Systemen nicht ohne Grund der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gilt. Aus einer zugelassenen Kontradiktion lässt sich nämlich jede beliebige Aussage und ihr Gegenteil als wahr ableiten. Und schwupps besteht der Mond aus grünem Käse – oder eine jüdische Verschwörung hat das Covid-19-Virus ausgeheckt, um Kontrolle über eine dezimierte Bevölkerung zu gewinnen.
Deep Dive in die bunte Community
Verdächtig ist, wer überhaupt einen Blick zurückwirft. Denn in der Retrospektive lässt sich unter anderem feststellen, dass es noch vor wenigen Jahren überflüssig war, Schilder aufzustellen, die den Bürgern erklären, dass Frauen im Schwimmbad nicht in den Schritt gegriffen werden darf. Auch an das Verbot, im öffentlichen Raum sein großes Geschäft zu erledigen, muss in Städten wie Berlin erst neuerdings erinnert werden.
Und wieviel mehr einem auffallen kann, wenn man es zulässt! Wir haben uns gewöhnt an Wachdienste in Supermärkten, auf Ämtern und in Schulen. Wir nehmen nur mehr beiläufig zur Kenntnis, wenn wieder einmal Notärzte von erlebnisorientierten Jugendlichen angegriffen werden oder Stahlpoller vor Weihnachtsmärkten hochfahren, um Glühweintrinker vor Dschihad-Truckern zu schützen. Und ja, selbst an die nervige Notwendigkeit, noch im eigenen Treppenhaus alles vom Kinderwagen bis zum Blumentopf anketten zu müssen, gewöhnt man sich irgendwann. „Die innere Sicherheit nimmt jedes Jahr zu!“, rufen die Regierenden den Regierten entgegen – und bestellen Riot-Helme fürs Ordnungsamt.
Die seltsamen Widersprüche unserer Zeit sind der Katechismus einer herrschenden Schicht, die sich zwar kein Parteibuch teilt, aber über eine gemeinsame Weltanschauung koordiniert handelt. Aus der Unternehmenskultur hat sie sich ein brillantes Werkzeug zur Machterhaltung abgeschaut: Sprache als Life-Hack.
Denken Sie an den Schaumschläger aus dem Montags-Meeting, der behauptet: „Um eine agile Corporate-Struktur zu gewährleisten, planen wir einen Deep Dive in unsere KPIs, um den ROI zu maximieren und potenzielle Disruptionen proaktiv zu adressieren.“ Wer von den Kollegen in der Runde traut sich, Abteilungsleiter-Thorsten zu fragen, ob er überhaupt weiß, was er da ankündigt? Stattdessen tun die meisten ihr Mindestes, um das Begehr der mittleren Führungsebene irgendwie zu sättigen und nicht weiter aufzufallen.
Dieselbe Feigheit setzt ein, wenn der DEI-Beauftragte im Morgenkreis-Tonfall neue Richtlinien erläutert: „Um das Empowerment in unserer bunt zusammengesetzten Community zu fördern, sehen wir uns verpflichtet, intersektionale Methoden und Inklusionsstrategien einzubinden, die eine Implementierung authentischer Diversität nachhaltig garantieren.“ Möchte man seinen guten Ruf wahren, behauptet man besser nicht, nach solchen Nebelbomben noch etwas erkennen zu können.
Ein feiner Unterschied
Greifen Politiker doch einige der seltsamen Widersprüche auf und halten es gar für demokratisch, damit Wahlkampf zu machen, müssen sie sich oft genug „Populist“ schimpfen lassen. Das Urteil ist schnell gefunden und unerschütterlich: Nichts weiter als Fliesentischbesitzer, die da denken, dass Demokratie ein politisches System ist, in dem die Macht vom Volk ausgeht und die Bürger das Recht haben, Politiker zu wählen, die ihre Interessen vertreten.
Schaut man auch hier genauer hin, wird klar: „Populistisch“ und „demokratisch“ bezeichnen nahezu das Gleiche. Der feine Unterschied zwischen beiden Begriffen beschränkt sich auf ihre Funktion in den Meinungsmanufakturen der Cargo-Demokratie. Er besteht darin, dass von „Populismus“ immer dann gesprochen wird, wenn Überzeugungen nicht mit denen des politischen und medialen Mainstreams übereinstimmen. In anderen Worten: wenn die mit Heugabeln bewehrten Bauern drohen, den Burggraben zu queren.
Gibt ein größerer Teil der Bevölkerung zu verstehen, dass er sich nicht länger durch die Aussicht, verunglimpft zu werden, einschüchtern lässt, kontert die Cargo-Demokratie mit gigantischen Andachten – zuletzt „gegen rechts“, aber im Grunde ist der Gegner austauschbar. Um all die seltsamen Widersprüche aus dem Bewusstsein der Bürger zu drängen, bedarf es hin und wieder einer Rückversicherung zu Hunderttausenden.
Bestens daran gewöhnt, Absurditäten zu glauben, sah man sich daher vor kurzem zum einen im Kampf gegen Demokratiefeinde und forderte zum anderen, Politikern der Opposition das aktive und passive Wahlrecht abzuerkennen.
Am Holocaust-Gedenktag gegen Israel
Einige der großen antirassistischen Demonstrationen im Januar dieses Jahres fielen ausgerechnet auf den Holocaust-Gedenktag. Glaubte man, was auf den Bannern der Teilnehmer stand, herrschte eine Gefahr wie in den 1930er-Jahren. Was war geschehen?
Das Szenario: Ein paar verstreute Nazigegner stehen auf. An ihrer Seite wissen sie nur noch die Regierung, das Gros der Medien, die Polizei, das Kultur-Establishment, die Streitkräfte und den Pilates-Freunde Passau e.V. Mutig wie beim Spieleabend in der Reihenhaussiedlung stürzen sie sich von den Barrikaden in den Kampf. Das Glück der Widerständigen: Kein Tropfen Soja-Flat-White geht verschütt – und das ohne Deckel. Viva la Egolution!
Die Gegner: imaginiert. Die Anstifter: eine NGO mit dem Orwellschen Namen Correctiv, die behauptet, mit der Macht „zu fremdeln“, aber staatliche Institutionen als zweitgrößten Geldgeber verzeichnen kann. Der Duktus: Holocaust-Relativierung meets „Fifty Shades of Braun“. Journalistische Systempflegekräfte bliesen ein privates Treffen rechter Politzwerge zur Wannsee-Konferenz 2.0 auf, weil offenbar in einer Villa in Potsdam Sätze fielen, wie sie etwa zum selben Zeitpunkt auch der Bundeskanzler im Mund geführt hatte.
Anlässlich des Jubels über das Pogrom vom 7. Oktober, der sich in Berlin-Neukölln und anderen Hamas-Hochburgen Bahn brach, hatte Olaf Scholz bekanntlich gesagt, Deutschland müsse „endlich im großen Stil abschieben“. Um ihrem Scoop mehr Pfeffer als dieser Spiegel-Titelzeile zu verleihen, dichtete Correctiv den Teilnehmern des Treffens eine schaurig-schöne Nazi-Patina an. Ganz wie im Dritten Reich seien „Deportationen“ geplant worden. Viele in Berlin-Mitte oder Hamburg-Eppendorf, die nicht genauer prüften, sahen ihren türkischen Gemüsehändler folglich schon im Güterwagon Richtung neue Ostgebiete kauern.
Die Erinnerungskultur der Deutschen: ein Habitus des totalen Vergessens
Vielleicht fühlte es sich unbehaglich an, nach dem blutigsten Massaker, das seit dem Zweiten Weltkrieg an Juden verübt worden war, den palästinensischen Schlächtern und ihren feiernden Fans in Deutschland nicht zu Hunderttausenden die Stirn geboten zu haben. Umso begieriger nutzte man jetzt die Gelegenheit, „Nie wieder“-Hashtags zu setzen. Unter einem Verbot der AfD wollte man es nicht machen. Es war eben alles wie damals. Und wer denkt nicht mit Genugtuung daran, wie die eigenen Großeltern in den Dreißigerjahren unter der Regenbogenfahne Mark-Forster-Songs sangen und so das faschistische Ungetüm das Fürchten lehrten?
2024 lief man nun neben Pro-Palästina-Blöcken für ein AfD-Verbot und verzichtete lieber auf Israel-Flaggen oder sonstige Hinweise darauf, dass und durch wen sich die Bedrohung von Juden seit dem 7. Oktober vervielfacht hatte. Jeder im wiedergutgewordenen Deutschland weiß schließlich, wie sehr sich der Davidstern mit dem Halbmond beißt. Unsere Cargo-Demokratie ist eben bunt, auch wenn wir Juden dafür ein Bein stellen und Dschihadisten eine Trittleiter geben müssen.
Entsprechend war die größte Demonstration am Holocaust-Gedenktag in der deutschen Hauptstadt keine Solidaritätskundgebung für Israel, sondern ein Umzug, bei dem unter anderem Vertreter der IG Metall mit arabischen Antisemiten gegen den einzigen jüdischen Staat der Welt marschierten. Während am selben Tag in Düsseldorf, um nur eine Veranstaltung herauszugreifen, 100.000 Menschen für ein Verbot der AfD auf die Straße gingen, fanden sich zum Protest gegen Israels Feinde in Berlin lediglich 160 Demonstranten ein. Wer je einen Beweis dafür brauchte, dass die Erinnerungskultur der Deutschen ein Habitus des totalen Vergessens ist – hier war er.
Evolution der Einhelligkeit
Nach fast 80 Jahren Erinnerungs-Crossfit ist es vollbracht: Die Deutschen wissen, wie man Protest als pure Wellness-Oberfläche lebt. Aller internen Kausalitäten entbunden, ahmen sie als Regierte nur noch die von den Regierenden vorgegebenen externen Merkmale der Demokratie nach. Endlich angekommen in einer Leere, die sich gut anfühlt! Jedes Forschen danach, wie sich die Demokratien des Westens wieder instandsetzen lassen könnten, gerät zum Verrat an der Behaglichkeit des Alltagstrotts.
Gewählt wird so, dass der Cargo-Demokratie keine Gefahr droht, und Meinungen werden nur dann geduldet, wenn sie zu den seltsamen Widersprüchen der herrschenden Ordnung passen. Um den Rest kümmert sich der Cargo-Rechtsstaat. Häufig muss dieser allerdings gar nicht antreten, denn in den meisten Milieus der Cargo-Demokratie, die Einfluss ausüben, besteht ein informeller und ansteckender Konsens. Einigkeit wird über gegenseitige Beeinflussung in dezentralen Netzwerken erzielt.
Ideen, die innerhalb solcher Netzwerke Anklang finden, werden weitergegeben und verstärkt, während weniger populäre Ideen in den Hintergrund treten. In den Augen des amerikanischen Informatikers und Bloggers Curtis Yarvin kommt diese Dynamik einem evolutionären Selektionsmechanismus gleich, bei dem bestimmte ideologische Memes überleben und andere nicht. Man muss kein Freund der neoreaktionären Ansichten Yarvins sein, um zu erkennen, dass Journalisten, akademisches Personal und Kulturschaffende in besonderem Maße von Netzwerken und Institutionen abhängig sind, in denen woke Überzeugungen die Karriere fördern – und dass es diese drei Gruppen sind, die am maßgeblichsten die Politik der etablierten Parteien prägen.
Um die evolutionäre Dynamik aufrechtzuerhalten, muss keine der Ideen wahr sein, die einem die Laufbahn erleichtern oder sogar erst ermöglichen. Wahrheitsneutralität macht auch den Weg frei für eine der mächtigsten Mechaniken der Cargo-Demokratie – die völlige Ahnungslosigkeit des empörten Bürgers darüber, was sein politisches Handeln bewirkt.
Die Währung heißt Gehorsam
Es stellt schließlich keinen logischen Widerspruch dar, absichtlich gegen ein System zu rebellieren und ihm dadurch unabsichtlich zu nützen. Ein Eigentor bleibt nun mal auch dann ein Eigentor, wenn man geglaubt hat, auf den Kasten des Gegners zu spielen. Die wiedergutgewordenen Deutschen, die sich 2024 im Widerstand gegen ein Viertes Reich wähnen, sind das beste Beispiel hierfür. Verinnerlicht haben sie vor allem eines: Die Währung, mit der man in Cargo-Demokratien bekommt, was man möchte, heißt Gehorsam. Dass diese Währung heute glaubwürdig als Widerstand ausgegeben werden kann, bildet einen der stärksten Pfeiler des Status quo.
Umdeutungen und Verwirrungen dieser Art treten besonders leicht auf, weil evolutionäre Mechanismen dezentral funktionieren. Entgegen der angeborenen Erwartung des Menschen, immer einen Strippenzieher ausmachen zu können, sehen die Bürger der Cargo-Demokratien sich mit lauter Bottom-up-Prozessen konfrontiert. Verständlich also, dass es den meisten schwerfällt, die tatsächlichen Kausalketten zu identifizieren und zu begreifen: Auch ohne ein Mastermind, das alle Fäden in der Hand hält, ist es möglich, in beinahe sämtlichen Medien dieselben Glaubenssätze wiederzufinden. Ebenso braucht es keine zentrale Institution, um eine Gesellschaft entstehen zu lassen, in der alle angesehenen Institutionen darin übereinstimmen, welche Bewegungen, Parteien oder Individuen zu verachten sind.
Einhelligkeit macht träge, aber darüber sehen die meisten in Cargo-Demokratien gerne hinweg. Immerhin gibt es nicht mehr viel zu tun. Alle Fackeln wurden entzündet, die Landebahn ist längst ausgeleuchtet. Wir lehnen uns zurück, und weil wir die Guten sind, ist klar: Es liegt nicht in unserer Verantwortung, ob das Flugzeug da oben landet oder in einen Wolkenkratzer rauscht.
Florian Friedman ist freier Journalist. Für zahlreiche Zeitschriften, Zeitungen und Blogs schreibt er über gesellschaftliche Themen, Kunst, Technologie und Musik. Friedman lebt in Hamburg. Seine Homepage finden Sie hier.