Die Wirklichkeit verwirrt offenbar stärker als jede Theorie. Jedenfalls geht es Claudia Voigt von „Spiegel“ so, die in ihrer Kolumne „Mein Leben als Frau“ dieses Mal über Caitlyn Jenner schreibt, einen 65jährigen Ex-Zehnkämpfer namens Bruce, die uns heute nach Hormongaben und etlichen Operationen als ungefähr 45jährige langhaarige vollbusige Frau in Korsage vom Titelbild der „Vanity Fair“ anschaut. In den USA erregte nicht nur das Cover Aufsehen, sondern auch eine Kritik der Feministin Elinor Burkett an Bruce/Caitlyn. Das Ergebnis ihrer Transformation, so kann man Burketts längeren Aufsatz in der „New York Times“ zusammenfassen, sei zu weiblich.
Ob im Fall der umgekehrten Verwandlungen, etwa von der Sportlerin Heidi in den Exsportler Andreas Krieger je eine Geschlechtstheoretikerin befunden hätte, der Mann sehe zu männlich aus, wäre separat zu erforschen.
Claudia Voigt jedenfalls schreibt: „Dass ein ehemaliger Zehnkämpfer – ein Klischee des Mannes schlechthin – als Pin up posiert – das Klischee der Frau schlechthin – zeigt überdeutlich, wie veränderbar männliche und weibliche Zuschreibungen sind. ... Auch wenn die Gender-Diskussion oft ins Lächerliche gezogen wird, zeigt sich hier, wie wichtig sie ist. Die Grenzen haben sich verschoben, sie sind weiter geworden.“
Nun fand im Fall Caitlyn Jenner ja keine Zuschreibung vom Pult eines kalifornischen oder deutschen Genderlehrstuhls aus statt. Die Verwandlung ging mit Skalpell und Hormonen vor sich, sie schuf Brüste, eine Vagina und einen femininen Hormonenhaushalt. Das Beispiel zeigt also, wie stabil die Vorstellungen von männlich und weiblich trotz aller Zwischenstufen sind.
Zweitens, da zeigt Burkett das größere logische Talent als Voigt, wird die neu geschaffene Caitlyn als korsagenbewehrter Fels in die Geschichte eingehen, an den die Gendertheorie ihren finalen Schiffbruch erleidet. Denn die lehrt bekanntlich unverdrossen die Trennung von biologischem Geschlecht (Sex ) und der nach außen gezeigten Identität (Gender), die ein frei wählbares soziales Konstrukt darstelle. Nun war und ist Bruce/Caitlyn in seinem Chromosomensatz immer männlich, er lebte als Mann, wurde als Mann wahrgenommen und fühlte sich trotzdem jahrzehntelang als Frau, und zwar als Frau mit sehr femininen Attributen. Bei ihrem heute nach außen sichtbaren Geschlecht handelt es sich bei ihr tatsächlich ein Konstrukt, nur eben um keine soziales. Auch nicht um etwas, was jemand sich so ganz willkürlich aussuchen könnte. Wer sich je im falschen Körper fühlte, dürfte seine Ärzte außerdem noch nie gebeten haben, ihn in etwas Uneindeutiges zu verwandeln, sondern immer, um Voigt zu zitieren, in das Klischee schlechthin. Wenn in Jenners Fall Grenzen erweitert wurden (und das wurden sie), dann die Grenzen der plastischen Chirurgie.
Für Voigt hat Jenner damit allerdings, so muss man sie verstehen, erst eine Vorstufe erreicht, die es nun mit dem richtigen Bewusstsein zu überwinden gilt: „Caitlyn Jenner fängt als Frau erst an.“
Die Spiegel-Autorin, der offenbar viel an der Theorie des sozial konstruierten Geschlechts liegt, kennt in ihrer Kolumne übrigens nur ein Thema: Frauen. Das Leben als Frau. Die Diskriminierung von Frauen. Die Problemzonen von Frauen. Harald Martenstein schreibt vergleichsweise nicht halb so viel seiner Kolumnentexte über Männer.
Claudia Voigt hört als Frau eben nie auf. Ich vermute dahinter ein soziales Konstrukt.