In einem Akt der kollektiven Raserei werfen sich die Deutschen gerade auf alles, was sie auch nur vage mit Russland in Verbindung bringen. Mehr mittelalterlicher Furor geht kaum!
Das Gute,
dieser Satz steht fest,
ist stets das Böse,
was man lässt.
(Wilhelm Busch)
Die kleinlaute Meldung, dass die ukrainischen Soldaten, welche die Schlangeninsel im Schwarzen Meer verteidigten, wohl doch nicht den Heldentod gestorben, sondern gefangen genommen worden sind, schafft es in der Googlesuche noch nicht auf die vorderen Plätze. Man sollte eigentlich froh darüber sein, dass deren erfrischend freches „Fuck you“ an die russische Marine nicht zum Tod geführt hat, sofern sie es wirklich so gesagt und nicht stattdessen einen deftigen russischen Fluch verwendet haben, was ja auch in Ordnung wäre. Doch statt Freude über das Lebenszeichen liest man zwischen den Zeilen ein seltsames Bedauern darüber, dass sich wieder mal einer dieser „schönen Mythen“ von Heldenmut und Opfertod in Luft auflöst.
Da wir Partei in diesem Krieg sind, finden die Schlachten natürlich auch bei uns statt. Wenn schon nicht auf deutschem Boden, dann doch in den Köpfen. Und, meine Güte, wie groß sind die Verheerungen, die dort angerichtet werden! Sich darüber bewusst zu werden, dass jede Meldung aus der und über die Ukraine mit Lügen, Propaganda und Übertreibungen angereichert sein kann, sollte man stets einkalkulieren. Das bedeutet natürlich, dass wir auch der Meldung vom Überleben der Schlangeninselsoldaten nicht glauben können. Im Grunde können wir in diesem Konflikt niemandem glauben, am wenigsten uns selbst und unseren Motiven.
Der Nebel des Krieges liegt nun über der Welt
Kriege werden nicht von Menschen, sondern von Regierungen angezettelt, mit Lügen geführt und mit Blut bezahlt. Das Papier ist weiß und geduldig, auf das Absichten, Begründungen, Beschuldigungen, Lügen und Heldengeschichten geschrieben werden. Erst in der Realität von Kiew und Charkiw verlassen die Worte den Raum des Abstrakten und werden ungeduldig und rot. Der Nebel des Krieges liegt nun über der Welt, und wir sind erkennbar nicht gewohnt, uns darin zurechtzufinden. Leicht verläuft man sich in den angebotenen Narrativen aus Provokation, empfundener Bedrohung und scheinbar plausiblen nationalen Interessen.
Doch all das sind Details, die man getrost Friedensverhandlungen oder fernen historischen Betrachtungen überlassen kann, weil in der Realität ein einziges Detail zur Einordnung von „Richtig“ und „Falsch“ genügt. Dieses Detail ist auf beiden Seiten unbestritten: Putin hat die souveräne Ukraine angegriffen und ist deshalb der Aggressor. Putin ist Staatsoberhaupt und deshalb ist momentan jede Sanktion, die den russischen Staat in seinen Möglichkeiten treffen kann, weiter Krieg zu führen, gerechtfertigt. Dass auch unbeteiligte Zivilisten und sogar erklärte Gegner des russischen Angriffs von den Sanktionen betroffen sind, ist allerdings ein Dilemma. Aber so ist das bekanntlich häufig in dieser an Dilemmata reichen Zeit.
Anders sieht es mit der Legitimität aus, wenn Sanktionen auf einzelne, unbeteiligte Personen oder gar schon aufgrund der Zuschreibung „russisch“ angewendet werden. In einem Akt der kollektiven Raserei werfen sich die Deutschen gerade auf alles, was sie auch nur vage mit Russland in Verbindung bringen. Doch wird es Putin kratzen, wenn Russen (laut einer „Richtigstellung“ der Klinik nur reiche Russen, die extra aus Russland anreisen, das ist dann natürlich in Ordnung) in einer Münchner Klinik nicht mehr behandelt werden? Stöhnt er getroffen auf, wenn Wodka (der zum größten Teil nicht mal aus Russland kommt) aus unseren Regalen verschwindet oder eine deutsche Bäckerei im patriotischen Rausch dem „Russischen Zupfkuchen“ das Terroir entzieht?
Waltet hier nicht vielmehr die neudeutsche Verstiegenheit, durch die Änderung einer Benennung auch den Gegenstand umformen zu können? Kommt uns das nicht bekannt vor? Sieht nicht jedes Problem in Wokistan wie ein Nagel aus, weil man nur den Cancel-Hammer kennt? Ob Mohrengasse, Bismarckplatz oder Russischer Zupfkuchen: umbenennen, umbenennen, umbenennen!
Kniend? Auf dem Bauch liegend?
Und ist es wirklich die Gewissheit einer Bedrohung, welche die Bayerische Staatsoper dazu bewog, die Opernsängerin Anna Netrebko zu entlassen, weil diese sich nicht ausreichend von Putin distanziert habe? Wie weit wäre denn „ausreichend“ gewesen? Kniend? Auf dem Bauch liegend? Geht es um Buße, Distanz oder doch nur um schnöde Konformität und Kapitulation vor dem Stiefel, der gerade über dem Nacken schwebt und gern zutreten möchte? Schon Saint-Just rief der französischen Nationalversammlung zu: „Markiert den Abstand, der euch von den Verrätern trennt“, um klar zu machen, dass vor ihm niemand Gnade finden werde, der im Prozess gegen den König für „nicht schuldig“ gestimmt hatte.
Netrebko hatte zu ihrem 50. Geburtstag im Kreml Glückwünsche von Putin erhalten. Nicht gerade verwunderlich, dass sich Staatenlenker gern mit allerlei Künstlerprominenz schmücken. Sowas hat man schon gern als Dekor. Gut, dass unsere Politiker so gar nicht anfällig sind für derlei Eitelkeiten und dass amerikanische und britische Popstars für fette Gagen nicht schon das halbe nahöstlich-mittelasiatische Diktatoren-ABC ganz privatim bei Geburtstagspartys unterhalten haben! Gegen Netrebko waltet die Kontaktschuld sogar in ihrer revisionistischen Form, denn als sie ihren Geburtstag feierte, glaubte die Welt ja noch, Putin die Flausen austreiben zu können. Die Welt gab sich im Kreml die Klinke in die Hand, und nun muss eine Opernsängerin dafür büßen, dass sie sie etwas zu freudig gedrückt habe.
Das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst, eigentlich einem besonders tiefgreifenden und festen Ereignis in der Geschichte, nämlich der Kapitulation der Wehrmacht vor der Roten Armee im Jahr 1945 gewidmet, sorgt ebenfalls für seltsame Bilder, indem der Namensteil „Deutsch-Russisch“ am Haus durchgestrichen wird und die Ukrainische Fahne am Mast flattert. Ich denke zwar, dass man davor zurückschrecken wird, die Ereignisse von 1945 post festum umzuschreiben und sich der Ukraine zu ergeben, aber was senden wir hier bitte für schräge Signale aus?
Streicht die Ungeimpften von der Liste und setzt die Russen drauf
All die Gespenster der Ausgrenzung und gesellschaftlichen Ächtung sind gerade losgelassen und fokussieren sich auf einen neuen Feind. Frei nach Mao: Streicht die Ungeimpften von der Liste und setzt die Russen drauf! Der Krieg in der Ukraine trifft uns zu einem Zeitpunkt, in welchem das halbe Land nach zwei Jahren Coronadiktatur nur zu gern irgendjemanden anbrüllen und windelweich prügeln möchte. Wie praktisch, dass da „der Russe“ ist, und weil wir den Zündelzaren aller Reussen nicht zu fassen bekommen, kühlen wir unser Mütchen an Kuchen, Wodka, Läden mit russischen Besitzern und Opernsängerinnen. Mehr mittelalterlicher Furor geht kaum! Unterdessen fließt weiter zuverlässig russisches Gas nach Europa, und weil die russischen Banken von SWIFT abgekoppelt sind, lassen wir die Zahlungen über amerikanische Banken laufen. Man kann das „business as usual“ nennen, verlogen ist es auf jeden Fall und nützt Putin weit mehr, als ihm die Kündigung von Dirigenten und Operndiven schadet.
Ich verlange nicht, dass wir sofort das Gas abstellen, schon weil wir dank unserer „klugen“ Politik so energetischen Selbstmord begehen würden. Aber all die peinlichen Ersatzhandlungen bewirken bei Putin in etwa so viel, als würde man wegen einer Missernte in der Ukraine in Bamberg ein paar „Hexen“ verbrennen. Schlimmer noch: Er kann all diese Ereignisse gegen uns verwenden, indem er die Russen sehen lässt, was hier passiert. Was gibt es Nützlicheres für ihn, als all die Vorurteile bestätigt zu finden, die er uns für seine Kriegspropaganda medienwirksam unterstellt hat? „Russland wird ignoriert, ungerecht behandelt, ausgegrenzt, bedrängt … Wir stehen allein gegen die ungerechte und bigotte Welt des Westens, niemand mag uns, wir sind allein, wir müssen zusammenhalten und alle hinter Putin stehen.“
Wir wollen Putin treffen, werfen aber allen Russen die Tür vor der Nase zu. Auf diese Weise werden wir letztlich nicht nur den Krieg in der Ukraine, sondern auch den psychologischen Krieg um die Herzen und den Verstand der Russen verlieren. Beides ist aber notwendig, damit die Russen eines Tages diesen Despoten überwinden können und nicht länger seinen Versprechungen von zurückzuerlangender imperialer Größe hinterherlaufen. In Anbetracht dessen, was gerade in der Ukraine geschieht und angesichts unserer Hilflosigkeit, wirklich Zählbares gegen Putin in die Waagschale zu werfen, muss man sich vielleicht dazu zwingen, die eigenen Vorurteile und Affekte runterzuschlucken und sollte zumindest den hier lebenden Russen die Hand reichen, statt ihnen spontan und in peinlichen Aktionen rechts und links eine einzuschenken.
Ich musste das einst auch lernen, und angesichts des irrlichternden Kremlherren ist dieser Prozess leider nie abgeschlossen. Morgen, am 5. März, jährt sich der Todestag Stalins, der mir nur deshalb im Gedächtnis haftet, weil auch der russische Komponist, dessen Musik für mich ein ewiger Quell der Freude und Inspiration ist, am selben Tag, ja zur selben Stunde starb: Prokofjew. Ich will daran glauben, dass es nicht die Stalins und Putins sind, die Russland ausmachen, sondern die vielen völlig normalen Menschen und nicht zuletzt die Dostojewskis und Prokofjews unter ihnen.
Die Impfpflicht soll übrigens immer noch kommen, und wer jetzt noch dagegen ist, kann ja nur ein heimlicher Putinversteher sein. Also, seien Sie endlich mal solidarisch! Der vierte Schuss ist für die Ukraine. Und jetzt: zwei Minuten Russenhass für alle! Ihr dürft die Masken kurz abnehmen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.