Walter Krämer / 31.10.2018 / 06:20 / Foto: None / 22 / Seite ausdrucken

Erfolgreiche Gesichts-Erkennung? Von wegen!

Die Unstatistik des Monats Oktober ist die Pressemitteilung des Innenministeriums über das „erfolgreiche“ Projekt zur automatischen Gesichtserkennung mit einer Trefferrate von über 80 Prozent und Falsch-Alarm-Rate von unter 0,1 Prozent.   

Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat führte im Rahmen des gemeinsamen Pilotprojektes "Sicherheitsbahnhof Berlin Südkreuz" gemeinsam mit der Bundespolizei und der Deutsche Bahn AG einen Test von drei Gesichtserkennungssystemen am Bahnhof Südkreuz in Berlin durch. Das Bundeskriminalamt beriet hierbei. Bundesinnenminister Horst Seehofer war begeistert: „Die Systeme haben sich in beeindruckender Weise bewährt, so dass eine breite Einführung möglich ist“.

tagesschau.de wiederholte am 11. Oktober kritiklos zwei Zahlen, die den Erfolg des Projekts belegen sollten: Erstens, eine Trefferrate 80 Prozent, das heißt, von je 10 Gesuchten (Testpersonen) wurden 8 richtig erkannt und 2 nicht. Zweitens, eine Falsch-Alarm-Rate von 0,1 Prozent, das heißt, von je 1.000 Normalbürgern (die nicht als Testpersonen teilnahmen) wurden 999 als unverdächtig und einer fälschlicherweise als gesuchte Person klassifiziert.

Das klingt doch gut! Also so schnell wie möglich auf allen Bahnhöfen Kameras mit Gesichtserkennung installieren, um uns vor den rund 600 als gefährlich eingestuften Islamisten und anderen gesuchten Personen zu schützen. Oder gleich wie in China die totale Überwachung aller Bürger auf allen Straßen, öffentlichen Plätzen und Gebäuden einführen?

Als Treffer zählte schon, wenn eines der drei Systeme anschlug

Ein genauer Blick in den Abschlussbericht zeichnet ein anderes Bild. Keines der drei getesteten Systeme hat eine Trefferquote von 80 Prozent über beide Testphasen hinweg erreicht; die 80 Prozent sind auch nicht der Durchschnitt der drei Systeme. Diese Zahl bekam man nur nachträglich, indem man die Treffer aller drei Systeme addierte (das heißt, wenn mindestens eines der Systeme einen Treffer hatte, galt das als Treffer).

Die Bilder der „Gesuchten“, die den Systemen zur Verfügung standen, waren anders als Fahndungsfotos so gut wie perfekt: in der ersten Testphase mit 312 Freiwilligen wurden diese mit hochauflösenden Kameras aufgenommen, in der zweiten Phase, an der nur noch 201 Testpersonen weitermachten, wurden dann sogar die von den Überwachungskameras in der ersten Phase aufgenommenen Bilder verwendet, das heißt, am gleichen Ort, wo getestet wurde – damit bekam man bessere Werte, als man sie in Realität (in der man keine erste Testphase hat) je erreichen könnte. Die Zahlen beruhen auch nicht auf allen erhobenen Daten, sondern nur auf einer kleinen Auswahl, wobei nicht angegeben wurde, wie diese ausgesucht wurden. All das macht eine Bewertung unklar.

Der eigentlich interessante Punkt ist aber: Das Problem bei Massenüberwachungssystemen sind Fehlalarme, das heisst, Normalbürger, die vom Gesichtserkennungssystem für Gesuchte gehalten werden. Eine Person betritt einen Bahnhof und wird vom System als „Verdächtiger“ gemeldet. Was ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich der Verdächtige ist? Eben nicht 80 Prozent. Und auch nicht 0,1 Prozent.

Eine Überschlagsrechnung kann diese Frage beantworten. Die Deutsche Bahn berichtet, dass rund 11,9 Millionen Menschen täglich mit der Bahn reisen. Der Abschlussbericht der Studie gibt an, es gäbe derzeit etwa 600 Verdächtige, die als islamistische Gefährder eingestuft werden, welche das System erkennen sollte. Um die Rechnung einfach zu machen, nehmen wir an, dass sich davon täglich 100 an Bahnhöfen aufhalten (etwa der gleiche Anteil wie bei der Normalbevölkerung). 

Von den 100 Verdächtigen erwarten wir, dass etwa 80 (80 Prozent) erkannt werden, und von den rund 11,9 Millionen anderen Menschen werden täglich nochmals etwa 11.900 (0,1 Prozent) fälschlicherweise als gesuchte Person eingestuft. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine gesuchte Person ist, wenn die Kamera Alarm schlägt, ist etwa 80/11.980, also rund 7 in 1.000, oder 0,7 Prozent. In anderen Worten, etwa 99,3 Prozent der Einschätzungen des Systems sind falsch.

Im Monat 350.000 unnötige Personenkontrollen durch Fehlalarme

Jedem Alarm solle ein Einsatz der Polizei zur Abklärung folgen. Da eine flächendeckende Überwachung an Bahnhöfen jedoch 11.900 falsche Alarme pro Tag erwarten ließe, müssten jeden Monat über 350.000 Personen unnötigerweise kontrolliert werden. Das wäre nicht nur enorm aufwändig und teuer, unsere Bahnhöfe würden auch bald wie die Kontrollen an Flughäfen aussehen. Falls statt 600 nach doppelt so vielen Personen gefahndet wird, ändert sich das Ergebnis nur gering: etwa 98,7 Prozent der Einschätzungen des Systems sind falsch.

Es gibt noch eine dritte irreführende Zahl im Bericht und der Pressemitteilung: Es wird uns gesagt, dass sich die Falsch-Alarm-Rate durch Zusammenführung aller drei Systeme auf „bis zu 0,00018 Prozent“ reduzieren lässt. Was uns nicht gesagt wird, ist, dass dadurch die Trefferrate deutlich reduziert würde. Der ängstliche Bürger merkt’s ja nicht.

Diese Unstatistik zeigt, wie ein bisschen statistisches Denken Politikern, Ministerialen, Journalisten und Bürgern helfen könnte, sich nicht durch verdrehte Zahlen beeindrucken zu lassen. Dass das Gesichtserkennungssystem 99,3 Prozent der Verdächtigten zu Unrecht verdächtigt, ist mit der Regel von Bayes (ein Satz aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung) berechnet, die in Bayern inzwischen jeder Schüler der 11. Klasse lernt. Im Bericht und der Pressemitteilung ist sie nicht zu finden. 

Wohin der Schutz des Bürgers durch den Staat führen kann, zeigen die über 300 Millionen Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware in China.

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de .

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Rolf Lindner / 31.10.2018

Dass man selbst mit einer geringen Fehlerquote bei der Testung sehr großer Mengen eine große Anzahl falsch positiver Ergebnisse erhält, ist einfach logisch. Das Ergebnis nach Bayes ist also: Das Testsystem ist ungeeignet. Die Tagesschau ist dafür bekannt, beim dem Bürger Nonsens unterzujubeln, eine geringe Anzahl falsch positiver Ergebnisse zu produzieren.

Detlef Dechant / 31.10.2018

Ich kann es nur immer wiederholen: Solange “Promis” aus Medien, Schowbiz und Politik sich nicht zu blöd sind, mit ihrer “Mathe 5” zu kokettieren und damit der Jugend ein unrühmliches Vorbild abgeben “Siehst Du, auch ohne gute MINT-Leistungen kannst Du was werden!” wird sich nichts daran ändern, dass sich Medien und damit auch die Bevölkerung so versch…. lassen!

Eckhard Pemsl / 31.10.2018

Fälschen , lügen, betrügen - wieso kommt mir das so bekannt vor ?

beat schaller / 31.10.2018

Ich schlage vor, dass die Hälfte der für diese Überwachung aufzuwendenden Kosten direkt den “Gefährdern” ausbezahlt werden, damit die dann die geeigneten Gegenmassnahmen erfinden können. Die andere Hälfte könnten ja dann für neue “Gefährder” bereit gehalten werden. Wie wär’s mit der Bewilligung zum Tragen von Faustfeuerwaffen für alle Benutzer von Bahnhöfen und öffentlichen Verkehrsmitteln? Man könnte ja sicher eine Erkennung einbauen,  damit man nicht auf Politiker schiessen kann. Lieber Gott, lass diese Kaste der Selbstdarsteller endlich unter gehen. Friede sei mit uns. b.schaller

Nina Herten / 31.10.2018

Wer wird denn so penibel sein und es sich so genau nehmen (wollen) mit der Trefferquote? Ist doch ohnehin alles bloss (noch) eine Frage der ‘richtigen’ Auslegung. Systeme sind nun einmal ‘fehleranfällig’ - bei Personen mit zig Identitäten umso mehr. Da wird dann halt schon gelegentlich ein Gesicht ‘verwechselt’. - Davon abgesehen sind ‘wir’ doch eh per se (general)verdächtig; irgendetwas wird schon hängenbleiben ... Was nicht passt, wird eben ‘passend gemacht’. Läuft doch.

U. Unger / 31.10.2018

Danke, Herr Krämer für diesen Bericht zum Thema geplanter Totalüberwachungsstaat. egal wie gut die Systeme funktionieren oder könnten. Ich bin grundsätzlich dagegen eine flächendeckende Überwachung einzuführen. Sinnvoll einsetzbar, dass gebe ich zu, wären funktionierende Systeme, bei der Grenzsicherung. Gegen Grenzsicherung habe ich nichts, da Grenzkontrollen seit tausenden von Jahren eingesetzt werden, um bestehende Gesellschaften vor schädlichen Einflüssen von außen zu schützen. In allen Friedensperioden der Geschichte hat dieses System funktioniert. Es hat tüchtigere, erfindungsreichere Gesellschaften befähigt die Früchte der eigenen Anstrengungen selbst zu genießen. Sicher hat Handel über kontrollierte Grenzen immer allen Beteiligten genützt. Bei Gütern, wie harten Drogen entsteht keine absolute win win Situation. Zumeist wird die mit Drogen belieferte Gesellschaft nachhaltig geschädigt. Aber zurück zu technischen Überwachungssystemen, man kann die Systeme sicher punktuell hervorragend einsetzen, zum Wohle der Gesellschaft, aber nicht flächendeckend, da Freiheit gemäß unseres Weltbildes zu recht als eine der größten Errungenschaften gilt. Wie Ihre rechnerischen Überschläge andeuten, dürfte jede Zunahme der Überwachungspunkte den nötigen Aufwand extrem erhöhen. Eine effiziente und damit wohlständige Gesellschaft zeichnet sich aber durch möglichst großen Abstand zwischen Aufwand und Ertrag aus. E -A = Gewinn. In der Hoffnung, dass Gewinnmaximierung noch bekannt sein könnte. Jede Kontrolle kostet und ist zudem mit individueller Freiheit nicht vereinbar.

Carl Schurz / 31.10.2018

Wie gut die Gesichtserkennungssoftware funktioniert und welche hervorragend hochaufgelöste Detailsausschnitte von 1 MP oder gar PAL/VGA Auflösungen möglich sind demonstrieren uns täglich die TV Serien aus Hollywood &Co;. Diese zuverlässigen Informationsquellen (Dank product placement immer auf den neuesten Stand der Technik und Konsumindustrie) beeinflussen ohne Frage ein großes Heer wissensdurstiger Bürger, mit wenig bis gar keiner Neigung zu hinterfragen. Was im Fenster der Welt, für die Jüngeren: so nannte man früher das TV, zu sehen und zu hören ist gilt als wahr. Warum sollte man sich dann noch tiefer mit den Themen beschäftigen oder gar aus dem Fundus früher erlernten Wissens schöpfen. Ich danke den Autoren für diesen Artikel und damit meine eigene Erfahrung, dass neben Gesichterkennung und KI nicht narrensicher funktionieren. Vor allem wenn deutsche IT sich diesem Thema inbrünstig widmet ( s. a. Telematik und Gesundheitskarte, quasi der Berliner Airport des Gesundheitsministeriums). Das Leben bzw. unser Sein ist dann eher wie das Wetter. Eine nonlineare Gleichung, die nicht gelöst werden kann. Vermutlich gibt es bessere Systeme, die aber teurer sind, aber wegen dem Kampf gegen Rächts, Migrationbetreung, zukunftsbedeutende Genderforschung und Umstandsuniformen für Soldatinnen, der schützende Vater Staat kaum noch Mittel mehr zur Verfügung hat. 

Herwig Mankovsky / 31.10.2018

Und falls dann doch der mit riesigem Aufwand Verdächtige gefunden wird, was geschieht mit ihm? NICHTS.

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