Wolfram Weimer / 10.10.2019 / 06:13 / Foto: R4BIA.com / 104 / Seite ausdrucken

Erdogan wird vor Europa nicht halt machen

“Wir haben unsere Grenzen nicht freiwillig akzeptiert”, droht der türkische Präsident seit Jahren, und er schwadroniert ebenso lange über eine baldige Expansion der Türkei: “Wir müssen überall sein, wo unsere Ahnen waren.” Europa hat die osmanischen Großmachtträume bislang als bizarre Kraftmeierei überhört und abgetan. Ab sofort ist das anders. Mit dem angekündigten Rückzug der Amerikaner aus Nordsyrien geht für Erdogan die Tür zur Rückeroberung des Osmanischen Reiches auf.

“Es geht ihm nicht um einen kleinen Sicherheitskorridor in Nordsyrien, er sieht die historische Gelegenheit, die Grenzen der Türkei in großem Stil zu verschieben”, warnt ein hochrangiger Diplomat in Brüssel. Im türkischen Internet, in AKP-Foren aber auch im staatlich kontrollierten Fernsehen werden länger schon Karten verbreitet, die das Land in den Grenzen von 1918 zeigen – inklusive Nordsyrien und Nordirak mitsamt den Metropolen Aleppo und Mossul.

Auch ein Teil Griechenlands beansprucht Erdogan unverhohlen “zurück”: “Im Vertrag von Lausanne haben wir Inseln weggegeben. So nah, dass wir eure Stimmen hören können, wenn ihr hinüberruft. Das waren unsere Inseln. Dort sind unsere Moscheen.” In Lausanne waren 1923 die heutigen Grenzen der Türkei völkerrechtlich festlegt worden.

Trumps polterender Rückzug hat in den Hauptstädten Europas und in Washington einen diplomatischen Schock ausgelöst. Denn tatsächlich stehen nun die Grenzen von Lausanne infrage. Erfahrene Außenpolitiker warnen, dass hier mit einer undurchdachten Spontanität die gesamte Sicherheitsarchitektur des Nahen Ostens ins Wanken geraten könnte.

Das Tor zur Invasion ist auf

Insbesondere aber für die USA-treuen Kurden bedeutet der Entscheid einen historischen Verrat. Es waren die Kurden, die mit amerikanischer Hilfe erst das Sadam-Regime und dann das IS-Kalifat besiegt haben. Nun werden sie schlagartig zum Abschuss durch Erdogans Truppen freigegeben. Trump hat zwar nach heftigen Protesten – auch seiner eigenen Parteifreunde – reagiert und der Türkei in übertriebener Weise Wirtschaftssanktionen angedroht, sollte sie den Freibrief zu offensiv interpretieren. Doch das Tor zur Invasion ist auf.

Für Europa bedeutet dies Ungemach. Zum einen droht nun eine neue Flüchtlingswelle infolge von Krieg und Massenvertreibungen. Erdogan sieht Flüchtlinge ohnedies als politische Waffe, um Europa unter Druck zu setzen. Unter europäischen Diplomaten und Militärs ist seit 2015 von der “Migrationswaffe” die Rede, weil der türkische Geheimdienst die Wanderungsbewegung von Muslimen immer dann massiv und gezielt befördert, wenn die Türkei mehr Geld oder politisches Wohlverhalten von Europa erpressen will.

Für Europa sind aber auch die Tausendschaften IS-Kämpfer, die derzeit noch in kurdischen Gefangenenlagern bewacht werden, ein hohes Risiko. Viele von ihnen sind vor Jahren aus Europa nach Syrien gekommen, um für das IS-Kalifat zu kämpfen. Sie gelten als gefährlich und als latente Terroristen. Mit einem Feldzug Erdogans würden sie befreit und sich womöglich auf den Weg nach Europa machen.

Das dritte Problem für Europa besteht darin, dass Erdogan auch Europa direkt als Ziel seiner neo-osmanischen Politik betrachtet. Einerseits sucht er neuerdings in Zypern den offenen Konflikt mit der EU, ausgerechnet zum 45. Jahrestag der türkischen Invasion auf Nordzypern. Erdogan schickt seit kurzem demonstrativ Militärschiffe an die Insel und startet ein umfangreiches Gasbohrprogramm im Hoheitsgewässer der Insel. Die EU protestiert halbherzig und Erdogan läßt vermelden: “Niemand solle bezweifeln, dass die Türkei dasselbe tun würde wie vor 45 Jahren.”

Europa planvoll islamisieren

Andererseits will Erdogan mit seiner Religionsbehörde Diyanet Europa (explizit auch Deutschland) planvoll islamisieren; die Flüchtlinge spielen dabei eine Schlüsselrolle, etwa mit systematischen Moscheebauten, um den geflüchteten Gläubigen in der Fremde “eine Heimat zu schenken”. Erdoğans Lieblingszitat dazu stammt aus einem Gedicht von Ziya Gökalp: “Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette.” Erdoğan versteht sich innen- wie außenpolitisch als religiöser Kulturkämpfer, als Schutzpatron der islamistischen Expansion.

Die Europa-Strategie zielt zuvorderst auf den Balkan. Neo-Osmanismus mit offen proklamierten Eroberungsgelüsten ist festes Element seiner Parteipropaganda. Eroberungen heiße auch, “die Tore bis Wien zu öffnen für unsere Leute”. In muslimisch dominierten Balkanstaaten wie Albanien, Bosnien und dem Kosovo betreibt Erdogan daher osmanische Imperialpolitik mit weichen Mitteln: Investitionen, Finanzhilfen, Kulturarbeit und Religionsförderung. So finanziert die Türkei auf dem Balkan den Bau von muslimischen Schulen, Universitäten, Studentenheimen und Moscheen. Bei einem Besuch in Prizren im Kosovo sagte Erdogan, Kosovo sei die Türkei, und die Türkei sei Kosovo.

Erdogans Losung dazu lautet: “Die Geschichte ist nicht nur Vergangenheit einer Nation, sondern auch deren Wegweiser für die Zukunft.” Er sieht sich in der Tradition eines imperialen Sultans, der als Schutzherr des Islam die Welt verändert. Auch eine bunte Symbolpolitik ist dazu bereits entfaltet, das türkische Militär verfügt neuerdings über eine “Eroberungseinheit”, Soldaten in osmanischen Uniformen mit überdimensionalen Schnäuzer zieren den Präsidentenpalast. Das Jahr 1453 und die Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. wird in der Erdogan-Propaganda ein Fixpunkt der türkischen Politik. TV-Serien, Historienschriften und Kinofilme werden in Auftrag gegeben, sogar einen Bogenschützenwettbewerb hat Erdogans Sohn Bilal an symbolischer Stätte der ehemaligen osmanischen Festungsanlage Istanbuls durchgeführt.

Bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung in der vergangenen Woche hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einen Einblick in die politische Strategie seines Neo-Osmanismus gegeben. Er hielt dabei eine Karte von Nordsyrien hoch, auf der die von der Türkei besetzten kurdischen Gebiete wie Afrin verzeichnet waren. Er schlug vor, dass die Türkei nun Nordsyrien übernehmen solle, wie Israel den Golan übernommen habe, um dort eine “Sicherheitszone” zu schaffen. Die Türkei hat bereits in zwei kleineren Militäroperationen 2016 ein Gebiet in der Nähe von Jarabulus und 2018 die Region um Afrin übernommen. Nun sollen die Gebiete dazu kommen, aus denen die USA und die syrisch-kurdischen Demokratischen Kräfte (SDF) in langjährigen und verlustreichen Kämpfen die IS-Terroristen vertrieben haben. Die Einflusssphäre Erdogans würde sich auf beinahe ein Drittel Syriens erstrecken. Aus Erdogans Sicht aber wäre das nur die Wiederherstellung der Landkarte von 1918.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European

Foto: R4BIA.com via Wikimedia Commons

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S. Salochin / 10.10.2019

Ach, Herr Weimer! Man kann ihr Geheule über den Rückzug der Amerikaner gar nicht von den übrigen Wölfen in den Mainstream-Medien unterscheiden. Im übrigen ist er nicht “wild”, sondern wurde von Trump schon 2016 angekündigt.  Der Konflikt im Nahen Osten betrifft Europa viel mehr als die USA zu tun. Doch wo ist das EU-Engagement? Investiert Deutschland wenigstens in sein Militär? Trump macht seine Wahlkampfversprechen wahr, macht Schluss mit dem unseeligen Erbe Obama und Bushs - nachdem ISIS endlich zerstört wurde. Was für eine Erleichterung für uns alle, dass diese blutrünstigen Kopfabschneider von der Landkarte verschwunden sind. Habe noch nie einen Artikel von Ihnen gelesen, in dem das gewürdigt wurde. Ist mir wohl entgangen. Erdogan wurde und wird von der EU und ganz wesentlich von D und nicht von Trump gepäppelt. Der hat auch nicht ISIS bewaffnet oder den “Arabischen Frühling” ausgerufen. Was ist denn Ihre Vorstellung? Ein eigenständiger kurdischer Staat von US-Gnaden im Nahen Osten? Machen Sie sich nicht lächerlich. Das führt nur genau zu einer ähnlich verhängnisvollen Entwicklung mit einem unendlichen Krieg wie in Lybien und Irak. Das gleiche gilt für Erdogan. Mit dem müssen sein Volk und seine Nachbarn abrechnen - wenn sie es denn wollen. Deutschland tut jedenfalls gar nichts. Außer zu heulen. Über die pösen Amerikaner.

P. F. Hilker / 10.10.2019

Präsident Trump hat mit der Entsendung von Truppen eine freiwillige Leistung erbracht. Er war durch nichts und niemanden verpflichtet. Das wissen die Europäer und auch die Kurden. Wieso soll das Verrat sein, wenn die Truppen nun zurückgeholt werden. Ich denke mal, dass eher die Europäer die Verräter sind, die bis auf dummes Gequatsche nichts zu Wege gebracht haben. ” Den Kurden muss geholfen werden “, das war alles, was den Quatschköpfen einfiel. Und ausgerechnet Trump, der ständig kritisiert und beleidigt wurde, soll nun helfen? Es ist unverschämt und lächerlich von den Europäern. Punktum.

Ilona G. Grimm / 10.10.2019

Türken hassen Araber? Ja, und Araber hassen Türken. Und Iraner hassen Türken. Und Iraner hassen Araber. Und jeweils umgekehrt.  Und alle zusammen hassen Juden und Israel. Aber nicht umgekehrt. Wer macht noch mit beim Hass?

Uta Buhr / 10.10.2019

Nun übertreiben Sie mal nicht. Herr @Fritz kolb. Mutti wird’s schon richten. Sie wissen doch: Wir leben in der besten aller denkbaren Welten in einem Deutschland, in dem wir sogar “gut und gerne leben.” Na bitte, wir faffen daff! Ironie aus. Sie, lieber Herr Kolb, haben mal wieder vollkommen recht, in jedem der Punkte, die sie in Ihrem Kommentar ansprechen. Beunruhigt sein hilft allerdings nicht mehr. Am besten auswandern. Ungarn ist ein schönes Land mit freundlichen Menschen. Ich erhole mich dort regelmäßig vom bundesdeutschen Irrsinn.

Thomas Lanzerstorfer / 10.10.2019

Lieber Herr Koch, Auch die saisonale Blockflöte von „Mutti“ sollte man nicht vergessen…

Ekrem Kicirli / 10.10.2019

Sie schreiben von Kurdischen Gebieten. Sind Sie sicher das es die kurdischen Gebiete sind oder wahren. Sie sollten die Geschichte sich richtig aus RICHTEGEM Quellen belehren lassen. Dann währen Sie schlauer. Also ich habe nur Sasastan enteck.

E Ekat / 10.10.2019

Unter den derzeit agierenden Politikern in der EU ist offenbar niemand, der Erdogan in den Arm fallen wollte. Hat Erdogan den Laden in der Hand ? Die USA - Trump - haben nach allen Nettigkeiten offenbar keine Lust mehr. für diese EU die Knochen hinzuhalten. Das bringt Seehofer - der richtige Mann am richtigen Platz - ins schwitzen. Erdogan kann sich ein Osmanisches Reich womöglich auch mit etwas weniger Syrern vorstellen. Vielleicht kein Wunder daß unsere Medien bevorzugt über Klimafragen berichten.

Anders Dairie / 10.10.2019

Pres. TRUMP hat in unnachahmlicher Weise klar gesagt,  dass, falls ERDOWAHN die Kurden platt macht, DT die türkische Wirtschaft zerstört.  DT betont, dass die Unterstützung der Kurden im Irakkrieg nicht den USA galt, sondern dem Eigeninteresse eines autonomen Staats.  Zudem hätten die Kurden weder im WK II. noch bei der Landung in der Normandie geholfen.  Gemeint ist, die USA schulden nicht immer jedem Dank !  Die Auslandsvermögen der Erdogans und der türk. Minister würden eingefroren, die VISA-Erteilung minimiert.  Die USA tun für die Kurden mehr als jeder EU-Staat zuvor.  Das DT-Bashing ist wieder unzutreffend.

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