Gunnar Heinsohn / 16.08.2021 / 06:05 / Foto: Andy Dunaway/U.S.A.F / 99 / Seite ausdrucken

Eis der Realität: Abzug als Fluchtgrund aus Afghanistan?

Nicht das hastige Ausfliegen der ISAF-Truppen, Diplomaten und NGOs nebst Präsident Ghani erzeugt die Fluchtbewegung aus Afghanistan. Es sind die vorhergehenden Invasionen, die den für die Selbstverteidigung erforderlichen Kampfgeist gelähmt haben. Das beginnt mit Russen, die 1979 in einem gewöhnlichen Bürgerkrieg kurz entschlossen die Fraktion unterstützen, die ihr Töten nicht mit Allah, sondern mit Marx begründet. Moskau sieht einen Glücksfall, weil die nicht einmal den Zaren gelungene Ausdehnung des Imperiums unter dem Deckmantel sozialen Fortschritts betrieben werden kann. 

Den Einheimischen, denen der unerwartete Beistand zugutekommt, erscheint er wie ein Wunder. Für sie sterben Jünglinge, die einzige Söhne oder gar einzige Kinder ihrer Mütter sind, obwohl die indigenen Frauen drei bis vier Kämpfer in die Schlacht schicken können, weil sie sieben bis acht Kinder aufziehen. Afghanistans Kriegsindex steht schon 1978 bei 5, wobei 5.000 Nachwachsende im Alter von 15 bis 19 Jahren um die Positionen wetteifern, die 1.000 Männer zwischen 55 und 59 Jahren freimachen. 

Nach 14.000 verlorenen Elitesoldaten und einem Jahrzehnt mit weinenden Müttern und Bräuten vor dem Kreml gibt die KPDSU 1989 auf. Danach töten Afghanen einander wieder ohne fremde Einmischung. So marschieren bis 1992 Fromme gegen die weltliche Regierung und errichten den „Islamischen Staat von Afghanistan“. Beim Siegen zu kurz gekommene Studenten (Taliban) beklagen alsbald Verrat am wahren Glauben und etablieren bis 1996 das „Islamische Emirat von Afghanistan“. Weil die Geburtenzahlen hoch bleiben, springt die Bevölkerung zwischen 1989 und Amerikas Einmarsch im Jahr 2001 von 12 auf 22 Millionen. Der Kriegsindex pendelt sich bei einer stolzen 6 ein. 

Ein Sieg wird für die Taliban kein Spaziergang

Gegen das „Emirat“ schickt der Westen – nach den erfolgreichen Luftschlägen gegen Al-Qaeda und für das Aufrichten einer „Islamischen Republik von Afghanistan“ – nicht nur 3.500 seiner raren jungen Männer in den Tod. Er bereitet zudem ein weiteres Wunder. Aus Kampfzonen Fliehende dürfen in ISAF-Länder übersiedeln, wo man sie auch dann bezahlt, beschult, heilt und beherbergt, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt nicht unterkommen. Vorbildich handelt Deutschland, wo von 270.000 Afghanen (2019) nur ein Fünftel versicherungspflichtig arbeitet. 

Obwohl Afghanistan heute sechs und 2030 siebeneinhalb Millionen Männer im besten Kampfalter von 15 bis 29 Jahren aufbieten kann, haben die ausländischen Beschützer seinen berühmten Heroismus für die Revierkämpfe vor Ort schwer beeinträchtigt. Deshalb rechnen „Republik“-Afghanen auch jetzt noch auf westlichen Opfermut. Den Verbänden für ein neues Emirat gibt das Zeit für die schnellen Geländegewinne. 

Doch ein Sieg wird für die Taliban kein Spaziergang. Auch diese Revolution frisst anschließend ihre Brüder. Die Inhaber der mit westlichem Geld gepolsterten Positionen mögen fliehen oder kämpfend untergehen. Aber was dann? Um jeden freien Platz rangelt ein halbes Dutzend kampfgestählter Mudschahidin. Schnell finden sich noble Parolen, unter denen die glücklich Aufgestiegenen als Ungläubige dastehen, denen man ihre Pfründen abjagen darf. Gegenüber den dabei unvermeidlichen Grausamkeiten können all die Ermahnungen von der UNO oder aus Washington und Berlin nur läppisch anmuten.

Afghanistans Kriegsdemografie wird mit den Taliban und ihren Kontrahenten also mindestens so hart umgehen wie mit Russen oder Amerikanern. 2030, wenn die Bevölkerung mit 47 Millionen viermal stärker dasteht als bei Gorbatschows Abzug von 1989, wird man immer noch kämpfen. Der Kriegsindex wird zwar leicht nachgeben, mit 5 aber Deutschland (0.7) oder die USA (1.1) weiterhin um ein Vielfaches übertreffen. 

Die nächste Generation dürfte das Emiratsziel durch ein viel weiter ausgreifendes Kalifatsbegehren ersetzen. Für eine Zukunft unter dem Grün des Propheten hat allein Afghanistan momentan bald 9 Millionen Jungen unter 15 Jahren. Im südlich benachbarten Pakistan sind es 40, weiter westlich im iranisch-arabischen Raum 84 und in Subsahara sogar 242 Millionen.

In der Bundesrepublik mit mehr als doppelt so großer Bevölkerung wie am Hindukusch sind es nicht einmal 6 und in der Gesamt-EU 35 beziehungsweise 25 Millionen ohne Migranten  (2020er Zahlen). Wer bei derartiger Anämie Truppen in Afrika hat, Kabul von neuem beglücken will und den 375 Millionen Entwicklungshilfe oder hiesiges Hartz-IV anbietet, bekommt richtig zu tun.

 

Gunnar Heinsohn hat von 1993 bis 2009 an der Universität Bremen Europas erstes Institut für Genozid-Forschung geleitet. Am NATO Defense College (NDC) in Rom hat er 2011 die Kriegsdemografie eingeführt und bis 2020 gelehrt.

Foto: Andy Dunaway/U.S.A.F defenseimagery via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

D.Kempke / 16.08.2021

Ich kann es nur immer wieder schreiben, wie unverständlich mir dieser Talibansiegeszug besonders im Norden Afghanistans ist. Die dort lebenden Minderheiten der Tadschiken und Usbeken haben den Taliban (die de facto eine paschtunische Miliz sind) während ihrer ersten Herrschaft erbitterten Widerstand geleistet, wozu sie demografisch auch heute noch in der Lage sind, von der besseren Ausrüstung dank US-Hilfe ganz zu schweigen. Warum also kämpfen die nicht? Erst recht die schiitischen Hazara. Die haben von einer Taliban-Herrschaft nur brutalste Unterdrückung zu erwarten und anders als Tadschiken und Usbeken auch keinen ethnischen Heimatstaat in den sie zur Not flüchten könnten. Trotzdem kämpfen sie nicht. Einfach unverständlich.

Nico Schmidt / 16.08.2021

Sehr geehrter Herr Heinsohn, da wird Ihnen kein Mensch wiedersprechen, außer vielleicht Heiko Maas. Wo der Russe rausgeht, müssen wir nicht reingehen und den Helden spielen. Wie wir uns dann aus Afghanistan verabschiedet haben, so voller Professionalität, Strategie, Taktik und Disziplin, ist schon ein Vertrauensbeweis für unsere Politiker und die Bundeswehr. MfG Nico Schmidt

Max Rein / 16.08.2021

So wahr. Unsere Soldatinnen und Soldaten wurden in den Tod geschickt, während junge Afghanen gefeiert von den Grünen, der SPD, der CDU, der SED 2.0 alimentiert auf dem Ku’damm ihre shisha genießen und nachts ihren Geschäften nachgehen. Was könnte besser die Dekadenz unseres Wertesystems aufzeigen, zumal der islam ja offiziell zu Deutschland gehört? Aber wie weiter? Realistisch wird sein: die Tabilan vermehren sich weiter fleißig wie schon vor 2000; exportieren wieder gegen den Westen Terror, diesmal aber wohlwollend unterstützt von China. Dafür unterstützen die Afghan. Islamisten und andere Islamisten die Chinesen bei der zu erwartenden militärischen Auseinandersetzung mit den USA. Die kämpfen ohne Europa und insbesondere Deutschland, das bis dahin längst die kritische muslimische Bevölkerung erreicht haben wird und wichtige Wähler darstellen. Stattdessen kämpft Deutschland heroisch gegen den Klimawandel und für gender mainstreaming, bis dann auch hierzulande die Islamisten diesen Spuk beenden mit Hilfe der Grünen selbst, die sich schon lange dem islamistischen Herrschaftsanspruch unterworfen haben werden, vgl. Houllebecque. Fraglich nur: 2050? 2080?

Peter Holschke / 16.08.2021

Die Besatzung hat Geld in das Land gepumpt, weswegen die Bevölkerung gewachsen ist. Das gleiche gilt für das Prinzip Entwicklungshilfe.

Bernhard Freiling / 16.08.2021

Der Denkfehler “des Westens” besteht m.E. darin zu glauben, ein Mensch der unfallfrei ein Mobile bedienen könne, sei bereits in der Neuzeit angekommen. Ist er nicht. # Insbesondere rd. 1,7 Mrd. Menschen werden von der großen Friedensreligion im 8. Jahrhundert festgehalten. Denen kann keine Demokratie, kein Freitsgedanke, keine “Geschlechtergerechtigkeit” nahe gebracht werden. Deren überwiegenden Mehrheit, meine ich. Ausnahmen bestätigen nur die Regel. # Die müssen den Weg zu ihrer Aufklärung selbst gehen. Das kann dauern. # Alldieweil führen sie Kriege. Dabei geht es m.E. nicht um “Glaubensdinge”, sondern um ganz profane, wie z.B. die der Reproduktion. Wenn die 10% der Wohlsthabenden eines islamisch geprägten Landes, bedingt durch die von Mohamed befürwortete Polygamie, 40% der “zur Verfügung stehenden” Frauen abgreifen, dann muß ein sehr großer Teil der Männer mit dauerhaftem Sexentzug leben. Die können sich dann in die Luft sprengen und im Erfolgsfall mit 72 dauerhaften Jungfrauen belohnt werden. Oder es zieht sie ins Ersatzparadies Deutschland oder Europa, wo sie ihren Trieb voll alimentiert ausleben können. Alternativ können sie auch einen Krieg mit dem Nachbarn vom Zaune brechen, um dessen Frauen beglücken zu können. Schon auf welt.de gelesen? Die größte Angst der afghanischen Jungmädchen und Frauen besteht darin, einem Taliban-Krieger angetraut zu werden. Was für sich spricht, denke ich mal. # Wir mögen das Klima “retten” und Covid “besiegen” können. Das scheinen mir Kinderspiele zu sein verglichen mit dem Vorhaben, Moslems in deren Ländern in die Gegenwart führen zu wollen.

Th.F.Brommelcamp / 16.08.2021

Vergeblich. In einem moslemischen Land eine Demokratie installieren zu wollen, ist ein Unding. Die Religion beruht auf Überzeugungen aus dem 7. Jahrhundert und das bleibt unverändert. Es gab keine “Aufklärung” wie im Christentum.  Moral, Ethik und Rechtsprechung basieren auf diese Zeit und auf Clanstrukturen. Nicht sie nähern sich der Demokratie an sondern wir dem 7. Jahrhundert. Wo Ideologie das Denken bestimmt und die Führung (Eliten) die Justiz lenkt, anders denkende der Ketzerei beschuldigt, nähert man sich dem an. Das kann manchmal auch innerhalb 16 Jahren passieren.

Kay Ströhmer / 16.08.2021

Und die CDU faselt in Gestalt von Norbert Röttgen, kaum dass die Truppen wieder in der Heimat sind, von einem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gegen die vorrückenden Taliban, aber ohne den Truppenabzug rückgängig zu machen. AKK als eigentlich zuständige Ministerin sagt dazu: Mal wieder Nix. Ein Tollhaus. Zahlen und Fakten, Logik und Stringenz interessieren da niemanden mehr.

lutzgerke / 16.08.2021

Rette sich wer kann vor den Taliban. Niederlage heißt jetzt Sieg und die Jubelpresse hat den großartigen den Plan, Frauenhäuser zu errichten, damit die Demokratie in Afghanistan gefestigt bleibt. / Die Nachrichtenlage hätte schon lange meterhohe Empörungswellen durchs Land jagen sollen und die Bundesbrunft aus ihrem realitätsverzerrten Muff vertreiben. Man stelle sich nur vor, in UK halbieren sich in zwei Wochen die Indikatoren, nachdem alle Maßnahmen beendet worden sind. Aber wir Deutschen sind wie die Zirkustiere, wenn uns die Tagesschau kein Signal zur Empörung sendet, dann tragen wir freiwillig den Clownshut, die rote Pappnase und wohnen im Käfig. / Wer die Waffen, die Munition, die Lager und die Versorgung der Taliban finanziert, habe ich noch immer nicht verstanden?   

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gunnar Heinsohn / 01.01.2023 / 12:00 / 17

Whoopi Goldberg und „Jewish Race”

Nicht aufgrund ihrer „Rasse“, sondern wegen der „Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen“ habe Hitler die Juden ermorden lassen, erklärt Whoopi Goldberg im Magazin der…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 01.11.2022 / 10:00 / 133

Putinsturz durch heimkehrende Truppen?

Eroberungskriege aus einer demografisch so desolaten Nation wie Russland hat es bisher nicht gegeben. Das weiß auch Putin. Seine Fehlkalkulation, was die Motivation der eigenen…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 27.09.2022 / 12:00 / 114

Putins nukleare Vorsicht

Putin droht zwar gelegentlich mit dem Einsatz von Atomwaffen, doch wird er ihn wohl nicht befehlen. Nicht weil er Skrupel hätte, sondern weil er weiß,…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 21.09.2022 / 13:50 / 136

Putins Teilmobilisierung: Wofür die einzigen Söhne verheizen?

Schon am 20. September berichtet Igor Sushko über die Panik russischer Mütter, die ihre Söhne – überwiegend einzige Kinder – vor Putin Teilmobilisierung ins Ausland schaffen…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 13.07.2022 / 12:00 / 134

22 Jahre Ostpolitik gegen die Ukraine und Polen

Deutschland macht seit spätestens dem Jahr 2000 Politik zu Lasten der Ukraine und Polens- Hier eine Auflistung. Prolog 1997 Deutsche Firmen wollen ihr Gasgeschäft mit Russlands…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 28.06.2022 / 12:00 / 84

Patent und Verstand: Ex-Kolonie Südkorea überholt Deutschland

Südkorea ist überaltert, holt sich keine ausländischen Arbeiter ins Land, hat nahezu keine Bodenschätze, war unterdrückte Kolonie der Japaner und vom brutalen Korea-Krieg verwüstet –…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 09.05.2022 / 10:00 / 98

Putins Nukleardoktrin

Wer Putins Äußerungen zum Einsatz nuklearer Waffen verstehen will, muss beachten, dass Russland seit dem Jahr 2000 einer neuen Nukleardoktrin folgt. Sie erlaubt es Moskau,…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 02.03.2022 / 08:06 / 188

Putin verrechnete sich mit dem kampflosen Sieg und steht nun mitten im Krieg

Dass Putin an die schnelle Kapitulation Kiews und das Überlaufen der ukrainischen Truppen wirklich geglaubt hat, belegt ein am Samstag, den 26. Februar bereitgestellter und…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com