Ganz Nordrhein-Westfalen hat gewählt. Ganz Nordrhein-Westfalen? Nein! Eine kleine Minderheit von 44,5 Prozent der Wahlberechtigten hat ihre Stimme nicht abgegeben.
Wie schon nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein eine Woche zuvor fand dieser Teil des Wahlergebnisses kaum öffentliche Aufmerksamkeit. In den meisten Wahlsendungen und Wahlanalysen ging es vor allem darum, dass die CDU mit dem Ministerpräsidenten Hendrik Wüst ihr Ergebnis verbessern und mit 35,7 Prozent der abgegebenen Stimmen wieder stärkste Partei werden konnte. Der Abstand zum Zweitplatzierten hat sich vergrößert, weil die SPD mit 26,7 Prozent auf ihr schlechtestes NRW-Wahlergebnis stürzte.
Die zweiten Wahlgewinner wurden die Grünen mit 18,2 Prozent, und ihre Vertreter fühlten sich am Abend sicher, dass ohne sie nicht regiert werden kann. In der WDR-Wahlsendung hieß es am Abend, dass es im Grunde nur noch zwei mögliche Koalitionsmehrheiten gäbe: schwarz-grün oder – wie im Bund – eine Ampelkoalition. Die rechnerische Möglichkeit einer Großen Koalition aus CDU und SPD wurde nicht einmal erwähnt.
Die rekordschwache SPD träumte am Wahlabend derweil noch von der Macht am Rhein, denn wie in Berlin könnte doch die FDP bei der Verwirklichung rot-grüner Träume helfen. Eigentlich sollte das undenkbar sein, aber was das Maß inhaltlicher Selbstverleugnung angeht, schafft es die Partei, die immer noch behauptet, liberal zu sein, ja immer wieder, das Publikum zu überraschen. Bei dem schwachen FDP-Wahlergebnis von 5,9 Prozent sollten diese Wahlverlierer sich eigentlich fragen, ob es von ihren Wählern wirklich goutiert wird, wenn sie – wie im Bund – einen rotgrünen Regierungskurs ermöglichen.
Die AfD zieht mit 5,4 Prozent wieder in den Landtag ein, was für die Partei nach ihrem Scheitern an der Fünfprozent-Hürde in der letzten Woche in Schleswig-Holstein sicher erleichternd war. Aber die Stimmen der AfD-Abgeordneten will ja keine andere Partei zur Mehrheitsbeschaffung haben.
Im Westen nichts Neues?
Es sieht also ganz danach aus, dass es nun auch in Düsseldorf eine schwarz-grüne Koalition geben wird. Das hat nichts Innovatives oder Überraschendes mehr, denn die Konstellation ist nicht neu. Zudem haben sich etliche ideologische Eckpfeiler des Grünen-Weltbilds inzwischen überparteiliche Akzeptanz gefunden, zumindest in den Parteiapparaten.
Also im Westen nichts Neues? Nicht einmal eine solche Fehleinschätzung der Demoskopen, es stünde ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Spitzenkandidaten von CDU und SPD an, ist neu.
Das Statement von 44,5 Prozent Nichtwählern wird inzwischen einfach ignoriert. Die besorgten Stimmen früherer Jahre ob der gesunkenen Wahlbeteiligung sind verstummt oder werden nicht gehört. Jetzt wird die traurige Zahl der Wahlbeteiligung allenfalls nebenher kurz erwähnt. Dabei – so stand es hier schon vor einer Woche nach der Schleswig-Holstein-Wahl – ist es eine verheerende Aussage dieser Wahlberechtigten über die Demokratie, wenn sie in solchen Größenordnungen nicht mehr abstimmen. Denn immer mehr Nichtwähler bleiben der Wahl fern, weil es nichts für sie Wählbares im Angebot gibt. Immer nur deshalb für ein schlechtes politisches Angebot zu stimmen, um eine vielleicht noch schlechtere Variante zu verhindern, ist vielen Bürgern nicht mehr genug. Gerd Buurmann hat diese Ratlosigkeit in der letzten indubio-Ausgabe gut auf den Punkt gebracht.
Und was wäre eine Lösung? Gern wird denen, die nicht wissen, was sie wählen sollen, weil sie nichts Geeignetes finden, gesagt, sie müssten sich halt selbst engagieren und in die Parteien gehen. Doch wie aussichtsreich ist es, in eine Partei zu gehen, die man nicht gern wählt, um sie so umzugestalten, dass man sie gern wählen würde? Wer kann denn, im normalen Leben stehend, den entsprechenden Aufwand in verkrusteten Parteigremien und -apparaten treiben? Und auch eigene Parteien zu gründen und organisatorisch so aufzubauen, dass sie in Wahlen überhaupt eine Chance haben, dürfte in der Regel keine realistische Option sein.
Leider ist es derzeit auch keine realistische Option in Deutschland, über die Möglichkeit eines Mehrheitswahlrechts zu reden, obwohl genau das ein Ansatz wäre. Denn wenn sie nur „ihren“ Abgeordneten wählen würden, wird die Wahl, werden die Unterschiede, die Angebote – auch unabhängig von der Programmatik jeweiliger Parteien – konkreter und fassbarer. Aber das ist leider derzeit keine realistische Option. Vielleicht denkt ja mal jemand darüber nach, wenn die 50-Prozent-Grenze bei Landtags- oder Bundestagswahlen erstmals unterschritten wird.