Das Königreich steckt im Zeitenwende-Chaos. Und nun erleben die Briten auch noch den stillen und unaufhaltsamen Abschied von der Frau, die wie eine Mutter das leicht verrückte Inselreich, diese komplizierte Familie zusammenhält.
Früher hat sie die Parade hoch zu Ross abgenommen. Diesmal hätte sich die Nation schon gefreut, wenn Elizabeth bei ihrem Dienstjubiläum, das zugleich als ihr offizieller Geburtstag gefeiert wird, wenigstens im Golfcart mitmachen würde. Aber die 96-Jährige zeigt sich nur auf dem Balkon ihres freistehenden Hauses und winkt. Die Briten müssen sich allmählich daran gewöhnen, dass ihre alte Königin nach sagenhaften 70 Jahren auf dem Thron (ein Rekord!) nahezu unsichtbar im Hintergrund bleibt.
Dass Prinz Charles neulich – selbst bereits mit Krückstock antretend – an ihrer Stelle die Thronrede vorlas, war das dramatischste Abschiedssignal. Die versammelten Edlen hörten nicht mehr, wie ihre Queen erzählte, was my government so alles vorhat. Sie hörten, wie ihr Sohn berichtete, was sich her majesty's government vorgenommen hat. Natürlich handelt es sich weder um my government noch um her majesty's government. Die Regierung – das ist Boris Johnson mit seinen Höflingen. Boris ist der King. Wie lange noch? Bei ihm ist es nicht das Alter, sondern sein wackelnder Thron, der ihm zu schaffen macht.
Die Vorbereitungen für das Ableben der Königin sind in aller Diskretion längst getroffen. Ungewiss ist, wie das Volk den inzwischen 73-Jährigen Nachwuchskönig aufnehmen wird; vor allem seine Camilla, die sich mühsam in die Herzen der Briten hineinarbeitet, in die sich Diana hineingeflirtet hat.
Zeitenwende im Vereinigten Königreich
Wird Boris Johnson, der politische King, noch vor seiner Queen gehen? Er hat immer noch eine Riesenmehrheit hinter sich sitzen. Auch wenn sich fast jeden Tag konservative Abgeordnete, die ihm das Vertrauen entziehen wollen, schriftlich beim zuständigen Komitee melden. Mit oder ohne ihn stellt sich die Frage: Wie wird es mit dem großen Knall weitergehen, der die britische Zeitenwende politisch eingeleitet hat? Wie also sieht die Zukunft des Brexit aus und wie wird sich das nachbarschaftliche Zusammenleben der EU-Europäer mit den entwichenen Insulanern gestalten?
Der Brexit war und ist ein Nostalgie-Unternehmen, getrieben von der Sehnsucht, frei von den Fesseln der kontinentalen Brüsseler wieder als große Handelsnation hinaus in die Weltmeere zu enteilen. Ein neues Handels-Commonwealth englisch sprechender Nationen sollte entstehen. Und die Grenzen der Insel sollten vor all den osteuropäischen Eindringlingen geschützt werden. Ein englischer Traum, geträumt von den Alten und den intellektuell nicht besonders Anspruchsvollen. Die europäisch gesonnene Jugend blieb beim Referendum desinteressiert zu Hause und ärgert sich nun, dass sie nicht mehr so easy und vor allem nur noch zeitlich begrenzt den Kontinent bereisen kann.
Der Brexit-Alltag ist deutlich grauer als der Traum. Das neue weltumspannende Handelsreich ist bisher nur ein ökonomisches Sandkastenspiel. Das unverzichtbare Amerika sperrt sich, mitzuspielen, weil die Johnson-Regierung in Nordirland Schwierigkeiten macht und damit den irischen Frieden gefährdet, für den sich Washington als Garantiemacht betrachtet. Der Abschied von den osteuropäischen Billigarbeitern hat ein Riesenloch auf dem Arbeitsmarkt und in der Versorgung gerissen, weil die zurückgebliebenen Engländer keine Kartoffeln ernten und Rinder schlachten wollen. Die Grenzbürokratie hat viele kleine Unternehmer erdrückt, die vorher problemlos mit den EU-Ländern Handel getrieben haben.
Eine Revolution der Brexit-Enttäuschten ist nicht in Sicht
Boris Johnson und sein Königreich hätten weniger Schwierigkeiten, wenn sie keinen so harten Brexit gewählt hätten, sondern nach dem Abschied von der EU in der Handels- und Zollunion geblieben wären. Aber das war den Brexit-Fundamentalisten zu unmännlich. Und wer sich einmal fürs Fundamentale entschieden hat, tut sich schwer, wieder zum Kompromiss zurückzufinden. Also heißt es: Augen zu und durch. Egal was: In Regierungskreisen ist das Wort „Brexit“ als Ursache jedweden Problems ein striktes Tabu. Weil nicht schuld sein kann, was nicht schuld sein darf.
Das Publikum ist mehr und mehr verärgert. Aber der Abschied von den Kontinentaleuropäern ist weiterhin relativ populär. Eine Revolution der Brexit-Enttäuschten ist nicht in Sicht. Die größere Gefahr droht dem Premierminister aus den eigenen Reihen, weil er in den Augen vieler Abgeordneter nicht mehr als Zugpferd bei künftigen Wahlen gilt. Man bangt um den Platz auf den grün gepolsterten Bänken im Unterhaus. Aber man bangt noch nicht genug, um ihn in absehbarer Zeit abzuwählen. Durch wen soll man ihn auch ersetzen?
Europas Politiker werden es wohl noch eine Weile mit dem schwierigen und trickreichen Boris Johnson zu tun haben, dessen Auftritte als strubbeliger Clown fester Bestandteil seines politischen Erfolgsrepertoires sind. Er hat mehr als seine Vorgängerin Theresa May erkannt, wie stark verwurzelt der englische Exzeptionalismus ist, diese insulare Variante des bayerischen „Mir san mir“.
Das dritte Ende einer Königinnen-Ära naht
Europa hat es nicht nur mit einem schwierigen Premier, sondern auch mit einem innerlich zerfledderten Königreich zu tun. Die Schotten sind sauer, dass man ihnen den Brexit aufgezwungen hat. Sie flirten mit der Unabhängigkeit, fürchten sich aber vor einer harten Grenze zwischen Schottland und England, die auf beiden Seiten fast unvorstellbar ist. Nordirland hat, so scheint es, das große Los gezogen, weil es weiter freien Handel mit der EU treiben darf. Der Norden der irischen Insel ist der einzige Teil des Königreichs, der trotz Brexit boomt, was für die Politiker in Westminster höchst peinlich ist. Erschwerend für sie kommt hinzu, dass die nordirischen Protestanten das Projekt torpedieren, weil sie einen kalten Abschied vom Königreich und eine sanfte Vereinigung mit der überwiegend katholischen irischen Republik fürchten.
Soweit das Zeitenwenden-Chaos, mit dem es her majesty's government zu tun hat. Und als wäre das nicht genug der Unruhe, erleben die Briten nun den stillen und unaufhaltsamen Abschied von der Frau, die wie eine Mutter das leicht verrückte Inselreich, diese komplizierte Familie zusammenhält. Sie hat darin Übung: Ihre eigene, engere Familie ist ja kompliziert genug ist.
Zum dritten Mal erlebt England das Ende einer Ära, die von einer großen, langlebigen Frau auf dem Thron geprägt war. Shakespeares erste Elizabeth, dann das Viktorianische Zeitalter und nun die 70 Jahre der zweiten Elizabeth. Als sie Königin werden musste, war sie gerade in Kenia unterwegs, das damals noch als eine afrikanische Perle des britischen Weltreichs galt. Aber dort standen die Signale schon auf Abschied. In ihren 70 Jahren hat sich England unter Blut und Tränen von seiner Rolle als Weltreich verabschiedet. Dem scheinbaren Niedergang folgte eine solide Vorstellung als Industriemacht von Weltgeltung, lange Zeit, wenn auch zögerlich als Mitglied der Europäischen Union.
Dass Elizabeth in ihren letzten Jahren noch erleben muss, wie der Geist des alten Empires wieder auflebt, ist eine Ironie der Geschichte, die sich bekanntlich allenfalls als Farce wiederholt. Brexit als Traum vom Global Britain. Der Queen ist es erspart geblieben, noch einmal Boris Johnsons Regierungserklärung vorlesen zu müssen. Ihr Sohn Charles las den Text auffallend stockend vor. War es die ungewohnt königliche Aufgabe oder war es der Kampf mit dem großsprecherischen Inhalt? Der König in spe wird sich daran gewöhnen müssen, regelmäßig diese Rolle als meinungsbefreiter Vorleser zu spielen.