Von Gunnar Kaiser.
Ein säkularisierter Messianismus hat von uns Besitz ergriffen. An die Stelle der Erwartung der Wiederkunft Jesu setzen wir den Messias der Coronaimpfung. Der Akt des Impfens ähnelt der Taufe. Als liturgische Kleidung trägt die Gemeinschaft der Gläubigen Mund-Nasen-Schutz.
Die moderne Gretchenfrage ist, für uns alle hautnah spürbar, die Frage danach, wie wir’s mit der Impfung halten. Niemand kommt daran vorbei, Seelenprüfung wird betrieben, Angst wird gemacht, Schuld wird verhängt und Sühne wird geleistet, Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen wird gewährt oder verwehrt – und schließlich soll unsere Festigkeit im Glauben darüber entscheiden, ob wir gute, d. h. solidarische, empathische, opferbereite Staatsbürger sind oder böse, d. h. egoistische, eigensinnige Volksschädlinge.
Oft wird gar nicht erst unterschieden, wovon man eigentlich genau spricht, wenn man vom „Impfen“ spricht, und auch hier steht die begriffliche Ausdifferenzierung nicht an erster Stelle. Denn derzeit bildet alles ein undeutliches Konglomerat an Problemen, Fragestellungen und (Vor-)Urteilen: Wenn in dieser Zeit die „Impffrage“ gestellt wird, schwingt eine Vielzahl von Fragen mit:
Ist es moralisch gut, sich impfen zu lassen?
Ist es moralisch gut, seine Kinder impfen zu lassen?
Ist es moralisch gut, anderen zum Impfen zu raten bzw. ihnen abzuraten?
Ist es moralisch gut, einen indirekten oder direkten „Impfdruck“ aufzubauen (über Beschämung, Nötigung oder Erpressung)?
Ist es moralisch gut, wenn der Staat seine Bürger zum Impfen zwingt und ihre Verweigerung sanktioniert?
Zur gleichen Zeit bleibt unausgesprochen, auf welche Art von Impfung man sich überhaupt bezieht – geht es um Impfstoffe allgemein, wie sie als aktive Schutzimpfung spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts erforscht und angewendet wurden? Geht es um die herkömmliche Impfung etwa gegen die Pocken, die Masern oder die Grippe – oder doch ganz spezifisch um die Covid-19-Impfung mittels mRNA- und Vektor-Impfstoffen? Dass hier oft nicht begrifflich differenziert wird, führt dazu, dass sich in unserem Urteil Erfahrungen und Einstellungen überlappen. Auf diese Weise wird, wer mit dem Thema „Impfung“ keine schlechten Erfahrungen gemacht hat und allgemein einer in vielen Gesellschaften schon lange etablierten Biotechnologie vertraut, auch gegen den Einsatz der neuen Technologie keine größeren Einwände haben. Vermeintliche Erfolgsgeschichten vergangener Impfkampagnen können so werbetechnisch geschickt ins Feld geführt werden, um das derzeitige Vorgehen als „erprobt“, „sicher“ und „alternativlos“ zu verkaufen.
Die Impfung als Erlösung
Auf diese (aus der Sicht der Pharmahersteller verständliche) Verkaufsstrategie hat sich nun aber eine penetrante Rhetorik gesetzt, die neu ist – und so neu dann doch nicht: Die Impfung als Erlösung. Die Parallelen, die man bei der öffentlichen Darstellung der Impffrage zu den Themen Religion und Glaube ziehen kann, sind eklatant. Seit jeher ist die religiöse Idee von der radikalen Zerstörung tief in unser kollektives Bewusstsein festgeschrieben. Die Vorstellung vom definitiven Ende der Menschheit durch eine todbringende Seuche diente damals wie heute der Disziplinierung der Gläubigen und dem Machterhalt der Religionen. Glaube und Gebet wurden als einziges Mittel zur Therapie angesehen und zeigten oftmals Züge eines archaischen Aberglaubens. Auch der Glaube an die Impfung, trotz niederschmetternder Erfolgsbilanz, und das geradezu fetischhafte Drängen auf Einhaltung der Hygieneregeln als einer strengen religiösen Übung ähnelt diesem Aberglauben.
Die traditionelle religiöse Erzählung der Krankheit als „Strafe Gottes“ tut ihr Übriges dazu. Apokalyptische Ängste, endzeitliche Stimmung beherrschen die Szene. In der Bibel lässt der zürnende Gott apokalyptische Reiter – TV-Moderator Markus Lanz hat Alexander Kekulé übrigens als solchen bezeichnet – losschicken, die als erbarmungslose Tyrannen Elend und Leid über die Menschen bringen. Virologen gelten plötzlich als Priester (= Klerus) einer neuen Religion, die uns Verhaltensgebote verkünden und uns ermahnen, den Glauben an die Wissenschaft und ihre Heilsbringer zu behalten. Ihren Verlautbarungen (in Talkshows, Podcasts, auf Twitter, etc.) lauschen wir wie der Predigt im Gottesdienst, wobei die Politiker auf den Ministerpräsidentenkonferenzen die assistierenden Ministranten darstellen.
Ein säkularisierter Messianismus hat von uns Besitz ergriffen. An die Stelle der Erwartung der Wiederkunft Jesu setzen wir den Messias der Coronaimpfung. Der Akt des Impfens ähnelt der Taufe, wobei der zweite, dritte oder vierte Impftermin als Kommunion oder Firmung fungiert. Als liturgische Kleidung trägt die Gemeinschaft der Gläubigen Mund-Nasen-Schutz, das ubiquitäre Desinfektionsmittel ist das neue Weihwasser.
„Impfen ist Nächstenliebe.“
Auch die politischen Maßnahmen selbst schärfen uns unentwegt ein, dass unser jetziges Leben ein Uneigentliches ist (ein Leben im Ausnahmezustand), denn das wirkliche Leben wird erst dann beginnen, wenn durch eine genügend hohe Impfquote Sars-CoV-2 endemisch geworden ist.
Folgende Verlautbarungen aus der Kirche Coronas mögen die religiösen Parallelen veranschaulichen:
„Ich brauche euch als meine Apostel. Ihr müsst hinausgehen und darüber sprechen und sagen, dass wir uns das gegenseitig schulden. Jesus hat uns gelehrt, einander zu lieben, und man kann diese Liebe zeigen, indem man sich so sehr umeinander sorgt, dass man sagt: Bitte lass dich impfen, denn ich liebe dich und ich will, dass du lebst.“
(Kathy Hochul, Gouverneurin von New York, Christian Cultural Center in Brooklyn)
„Dank Gott und der Arbeit vieler haben wir jetzt Impfstoffe, um uns vor Covid-19 zu schützen. Impfen ist Nächstenliebe.“
(Papst Franziskus)
„Das wäre der größte Schaden überhaupt, wenn die Leute nicht mehr an die Impfung glauben!“
(Alexander Kekulé)
„Das Impfen ist der Moses, der uns aus dieser Pandemie herausführt.“
(Winfried Kretschmann)
„Warum sollte diese Impfung kein Geschenk Gottes sein?“
(Bischofsvikar Karl Schauer)
Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang
Weisen diese Zitate nicht auf einen quasireligiösen Wahn hin? Ein Wahn, in dem es niemandem seltsam vorkommt, dass der Gesundheitsminister sagt, dass man nicht zu viel testen sollte, damit man nicht so viele falsch-positive Ergebnisse hat – und ein halbes Jahr später hat man die Testzahlen verzigfacht, Schnelltests auf den Markt gebracht und verfügt, dass Schüler sich täglich selbst testen sollen.
Ein Wahn, in dem es niemandem verdächtig vorkommt, dass der Gesundheitsminister sagt, dass es ein Fehler war, den Einzelhandel zu schließen und dass das nicht wieder passieren wird – während ein paar Monate später der Einzelhandel erneut geschlossen wird.
Ein Wahn, innerhalb dessen es niemand absurd findet, dass der Gesundheitsminister sagt, das Virus mache vor geschlossenen Grenzen nicht halt – und ein Jahr später fast alle Grenzen geschlossen sind.
Oder dass der Staatsvirologe sagt, dass man die Pandemie mit Masken nicht aufhält – und ein halbes Jahr später selbst die Kinder in den Grundschulen Masken tragen.
Oder dass der Staatsvirologe sagt, dass man als Normalbürger nicht mit der ständigen Angst vor Infektionen herumlaufen sollte – und ein paar Jahre später alle Menschen jederzeit so handeln sollen, als wären sie infiziert.
Immer noch von Lockdown und Impfpflicht die Rede
Innerhalb dieses Wahns scheint es nicht suspekt, dass der Präsident der Bundesoberbehörde für Gesundheitsfragen im Januar 2021 sagt: „Je mehr wir impfen, umso mehr Varianten werden auftreten“ – und nachdem man dann monatelang massenhaft geimpft hat, tatsächlich neue Varianten auftreten, mit denen man dann den nächsten Lockdown sowie die Impfpflicht rechtfertigt.
Diesem religiösen Wahn ist es nicht etwa abträglich, sondern förderlich, wenn die amtierende Bundeskanzlerin im Oktober 2020 sagt, es werden uns vier schwere Monate bevorstehen – und im März 2021 das Gleiche über die Monate bis Juni sagt.
Es bestätigt den Wahn, wenn die amtierende Bundeskanzlerin im November 2020 sagt, dass wir uns jetzt nur noch für ein paar Wochen anstrengen müssen – und im Frühling 2022 immer noch von Lockdown und Impfpflicht die Rede ist.
Dieser Wahn äußert sich in der Auffassung, dass Begleiterscheinungen bei der Impfung ein Zeichen dafür sind, dass sie wirkt, das Fehlen von Begleiterscheinungen aber ein Zeichen dafür ist, wie verträglich sie ist.
Dieser Wahn findet es normal, wenn man Millionen von Menschen impft, damit wir alle bald wieder „frei“ sein können, aber die Geimpften trotzdem Maske tragen, sich testen lassen und in Quarantäne gehen müssen, weil nicht bewiesen ist, dass sie nicht infektiös erkranken?
Religiöse Überhöhung
Wenn eine Idee religiös überhöht wird, ist Vorsicht geboten. Zu katastrophal waren die Folgen, die die kritiklose Verherrlichung einer Idee zur Staatsräson im letzten Jahrhundert gezeitigt hat. Wenn Ideen zur nicht hinterfragbaren Weltanschauung werden, zur Ideologie, ist Vorsicht geboten und Kritik und Skepsis vonnöten. Das Gleiche ist der Fall bei der unhinterfragbaren Verklärung einer neuen Technologie. In unserem technischen Zeitalter gilt das umso mehr, je stärker der Einfluss von Technologien auf das Leben der Menschen, auf ihre Denk- und Fühlweise, auf die Art, wie Politik gemacht wird oder wie die Gesellschaft sich selbst sieht, ist. Denn nicht nur Ideen, die zur Staatsräson gemacht werden, können gefährlich sein, sondern ebenso all die Technologien, die unser Leben schleichend verändern, ohne dass wir ihrem verheißenen Nutzen eine unvoreingenommene Betrachtung der gesellschaftlichen und menschlichen Kosten entgegenstellen würden.
Woran merkt man nun, dass eine Technologie überhöht und verherrlicht wird? Das ist z. B. der Fall, wenn etwa der Stern oder Der Spiegel Propaganda in bester Sowjetmanier betreibt. Oder wenn RTL- und Spiegel-Journalist Nikolaus Blome dazu aufruft, auf Impfgegner mit dem Finger zu zeigen: „Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“
Das ist der Fall, wenn Eckart von Hirschhausen sagt: „Wer sich nicht impfen lässt, ist ein asozialer Trittbrettfahrer“, und Dieter Nuhr die Menschen auffordert, ihre „kleine Angst“ zu überwinden und sich für die Volkswirtschaft spritzen zu lassen. Und wenn prominent und offiziell auf dem Düsseldorfer Fernsehturm „Impfen gleich Freiheit“ steht.
Wenn Berufsverbote für Ungeimpfte vorgeschlagen werden
Es handelt sich um eine Überhöhung, wenn in den Medien eine Technologie unkritisch verherrlicht wird und Technologiekritiker pauschal verteufelt werden: als „bekloppt“ (Joachim Gauck), „menschenfeindlich“ (Peter Tauber), „unsozial und egoistisch“ (Lamya Kaddor), als „Gruppe von asozialen Vollidioten“ (Christoph Waltz), als „Blinddarm der Gesellschaft“ (Sarah Bosetti), als „Gefährder“ (Peter Maffay), die man „konsequent ausgrenzen“ müsse (Uli Hoeneß). Und so weiter und so fort.
Und ebenso ist das der Fall, wenn z. B. CSU-Generalsekretär Blume findet, Impfen sollte zur patriotischen Selbstverständlichkeit werden, oder wenn CDU-Politiker Ruprecht Polenz sagt, Geimpfte und Ungeimpfte seien nicht gleich, und hätten daher auch keine Gleichbehandlung vor dem Gesetz verdient. Wenn Berufsverbote für Ungeimpfte vorgeschlagen werden, wie es etwa NRW-Justizminister Peter Biesenbach tut, wenn Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer Pensionszahlungen oder den Zutritt zum Arbeitsplatz vom Impfnachweis abhängig machen will oder Wolfram Henn, Mitglied im Deutschen Ethikrat, fordert, wer partout das Impfen verweigern will, der sollte sein Intensivbett und sein Beatmungsgerät anderen überlassen.
Wenn also Politik und Medien ins gleiche Horn stoßen, indem sie eine von einer milliardenschweren Industrie entwickelte Technologie verklären und ihre Kritiker pauschal verteufeln – dann sollten wir vorsichtig sein.
Auszug aus dem Buch „Die Ethik des Impfens. Über die Wiedergewinnung der Mündigkeit“ von Gunnar Kaiser, Europa Verlag, München 2022. Hier bestellbar.
Gunnar Kaiser ist Philosoph und YouTuber.