Wolfram Weimer / 28.04.2013 / 10:18 / 0 / Seite ausdrucken

Die Mär vom Sparen

Merkels “Spardiktat”, eiserne “Austeritätspolitik”, germanisches “Kaputtsparen”. In Europa wird so getan als unterwerfe man sich deutschem Druck und einer brutalen Sparpolitik. Die Wahrheit zeigt das ganze Gegenteil. Die Schuldenberge wachsen munter weiter.

José Manuel Barroso sagt, was alle Südeuropäer denken: Genug gespart! Für die “Austeritätspolitik” schwinde die gesellschaftliche Unterstützung, die sie benötige, um erfolgreich zu sein – dialektisch und im Tonfall des Therapeuten erklärt der EU-Kommissionspräsident seinen plötzlichen Kurswechsel. Barrosos Wenderede und ihr begeistertes Echo im Süden ist in etwa so, als würde eine Gruppe Komasäufern jubeln, weil ihr Klassenlehrer erklärt, Abstinenz sei halt nicht vermittelbar.

Der Vorgang ist schon deshalb grotesk, weil die Staaten Europas in Wahrheit ihre Schuldenabstinenz noch nicht einmal begonnen haben. Die politische Klasse von Lissabon bis Limassol schwadroniert zwar gerne über Sparprogramme, Haushaltskonsolidierung und Austerität. Sogar das Wort “Kaputtsparen” macht die Runde und viele schimpfen über das “deutsche Spardiktat”. Tatsächlich aber spart niemand. Das europäische Statistikamt hat den Diätplauderern in diesen Tage die Waage vorgehalten. Danach haben die 17 Länder der Euro-Zone alleine im vergangenen Jahr 375 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Neue! In den 27 EU-Ländern waren es sogar 576 Milliarden Euro. Der Schuldenberg der EU-Länder ist auf gut elf Billionen Euro gestiegen.

Die gefühlte Sparpolitik und die tatsächliche Schuldenmacherei fallen eklatant auseinander. Nicht weniger als 17 Staaten verstießen 2012 gegen die Stabilitätsvorgaben von Maastricht, wonach die Neuverschuldung bei maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen darf – allen voran das wegen seiner Sparbemühungen auch in Berlin hoch gelobte Spanien. Dort lag die Neuverschuldung bei hänebüchenen 10,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Griechenland erreichte die Neuverschuldung 10 Prozent, in Irland waren es 7,6 Prozent, in Portugal 6,4 Prozent. Und selbst in Frankreich, nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone, badet in frischen Krediten. Dort lag das neue Defizit bei 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Wie man es dreht und wendet, die Schuldenbremsen-Strategie bleibt bislang reine Rhetorik. Ende 2012 entsprachen die aufgelaufenen Schulden 85,3 Prozent des EU-Bruttoinlandprodukts – nach 82,5 Prozent im Jahr zuvor. Anstatt endlich Staatsausgaben und Einnahmen in halbwegs seriöse Verhältnisse zu bringen, sucht die Politik lieber nach Sündenböcken – von Banken über Deutschland bis zu Steuersündern. Und sie läßt räsonieren, ob nicht 90 Prozent Verschuldungsquote auch noch ganz akzeptabel sei.

Wenn also das, was Europa in dieser Schuldenkrise bislang abliefert, “Austerität” ist, dann kann man Völlerei auch Askese nennen. Außer Deuschland hat kein einziges Land auch nur ausgeglichene Einzeletats – vom dringend nötigen Abbau des Schuldenbergs gar nicht zu reden. Europa steigt immer weiter hinauf ins gefährliche Schuldengebrige. Dabei müßte es aus dem Massiv dringend absteigen, um nicht abzustürzen. Das ist mühsam, langwierig und manchmal auch riskant. Aber es ist unabdingbar. Austeritäts-Selbstlügen helfen so wenig wie fortgesetztes Kreditkomasaufen.

Zuerst erschienen auf Handelsblatt-Online

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