Betritt der Besucher die beiden Lichthöfe des Senkenberg-Naturkunde-Museums in Frankfurt, empfängt ihn eine klare Botschaft: Size matters, auf die Größe kommt es an. Die Lichthöfe im Eingangsbereich dominieren Tyrannosaurus, Triceratops und Co. Der Kopf eines Diplodocus überragt die Ausstellung so ähnlich wie die Chefetage der Deutschen Bank die Stadt. Andächtig blicken Schulkinder empor zu massigen Schädeln mit Augenhöhlen so groß wie Suppenteller. Dieser Tempel der Wissenschaft ist den Herrschern im Tierreich gewidmet, den Giganten der Evolution, die alles, was auf Erden kreucht und fleucht mit einem einzigen Tritt oder einem Schwanzschlag vernichten konnten. Allerdings erlitten die großen Tiere einen Karriereknick: Sie sind allesamt ausgestorben.
Die Großen dieser Welt mögen uns faszinieren, aber die Kleinen zählen. 99 Prozent aller Lebewesen sind nicht größer als ein Hühnerei. Nur einige Tausend Arten brachten es im Laufe der Evolution zu jener Größe, die wir bei dem Wort „Tier“ assoziieren, also einer Körperhöhe irgendwo zwischen Katze und Kuh und einer Akustik zwischen Miau und Muh. Um das Wohlleben der allermeisten Mäusearten beispielsweise müssen wir uns keine Sorgen machen. Eher im Gegenteil: Ein erheblicher Teil der menschlichen Nahrungsvorräte wird auch heute noch von Mäusen stibitzt. Sogar im Permafrost moderner Kühlhäuser gedeiht die gemeine Hausmaus prächtig. Mäuse sind einfach überall und sie müssen wohl weder ein Treibhausklima mit steigenden Meeresspiegeln noch die nächste Eiszeit fürchten.
Und damit sind wir bei der Schweiz. Während der Koloss Europa ächzt und stöhnt, geht es der kleinen Schweiz prächtig. Sie ist eines der reichsten Länder der Welt und der Schweizer Franken kennt gegenüber dem Euro derzeit nur eine Richtung: Nach oben. Für die Politiker der Nachbarländer ist die blühende Schweiz deshalb ein einziges Ärgernis. Oder besser: Ein Armutszeugnis. Beweist sie doch: Ohne den europäischen Wasserkopf kommt hier ein urdemokratisches kleines Land besser zurecht als das umgebende Riesenreich. Das spricht sich immer mehr unter den europäischen Bürgern herum, weshalb sie ihr Erspartes hinter den Schweizer Bergen in Sicherheit bringen. Die Existenz einer erfolgreichen Schweiz ist für die politische Klasse in Europa eine ständige Provokation. Da die europäische Nomenklatur pausenlos das Wort „alternativlos“ für ihre Politik bemüht, stört es sie mächtig, dass man bei Basel nur über den Rhein schauen muss, um eine leibhaftige Alternative zu sehen.
Und so rotieren und kreisen die Gedanken in europäischen Regierungsstuben darum, wie diese Aussicht denn abgeschafft werden könnte. Verhüllen geht leider nicht. Eine Mauer darum herum bauen, dürfte auch keine gute Presse geben. Langfristig muss die Schweiz sich wohl auf folgendes Angebot aus Brüssel einstellen: „Entweder ihr ruiniert euch selbst oder wir übernehmen das“. Die Schweizer Politiker scheinen bereits ernsthaft zu überlegen, was ihnen lieber ist. Doch vorauseilender Gehorsam ist eine ganz schlechte Idee. Er zahlt sich gegenüber großen Tieren nicht aus. Besser ist es von der Maus zu lernen, denn das heißt siegen lernen: Tarnen, täuschen, schneller und schlauer sein. Und vor allem: Mausefallen erkennen. All das erzeugt im übrigen Sympathie beim europäischen Bürger, der von seiner alternativlosen Politbürokratie nur noch genervt ist.
Wie man sich klug wehrt, zeigt derzeit ein Land, das sogar noch kleiner ist als die Schweiz: Island. Die Isländer zählen gerade mal 300.000 Einwohner, können es zahlenmäßig also noch nicht mal mit Zürich aufnehmen. Ihre Kopfstärke ist dennoch beeindruckend: Erst entschieden sie ihre durch Spekulationsgeschäfte hochverschuldeten Banken nicht zu retten. Dann lehnten sie per Volksentscheid ein europäisches Hilfsangebot ab. Das Land hätte sich dafür sämtlichen EU-Regelungen unterwerfen, den Euro anschaffen und seine erweiterte Fischereizone abschaffen müssen Doch die Isländer sagten nein (siehe oben: „Mausefallen erkennen“). Also wurde ein weiteres bewährtes Brüsseler Verfahren anberaumt: So lange abstimmen, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt. Diesmal sollten die Isländer britische und niederländische Gläubiger entschädigen, die zuvor abenteuerliche Zinsen kassiert hatten, ihre Verluste jetzt aber auf das isländische Volk umlegen wollten. Doch die Isländer sagten noch mal „nein danke.“
Und was ist passiert? Wurde die Kavallerie entsandt? Oder die britische Marine? So wie beim berühmten Kabeljaukrieg mit Island in den 70er-Jahren? Schon damals haben sie sich an den Isländern die Zähne ausgebissen. Diesmal bestand die hilflose Drohung darin, die britischen Anti-Terrorgesetze auf die säumigen Nordmänner anzuwenden. Doch das wurde in Reykjavik eher als Kompliment verstanden. Man ist stolz auf seine Wehrhaftigkeit. Wer vom tosenden Nordmeer und ein paar hundert aktiven Vulkanen umgeben ist, den haut so schnell nichts um. Und es geht auch schon wieder aufwärts: Die isländische Krone hat stark abgewertet und die Wirtschaft wächst wieder. Das kleine Land kann seine Probleme ohne die Hilfe der Großen besser lösen.
Das Erfolgsgeheimnis: Die Isländer haben offenbar ein eingebautes Widerstands-Gen gegen Autoritäten. Worin sie den Schweizern ähnlich sind. Beide können eine Menge voneinander lernen. Wie wäre es mit der Gründung einer europäischen Verteidigungs-Gemeinschaft für den soliden Bürgerverstand? Die Achse Bern-Reykjavik wäre unschlagbar. Und die Schweiz hätte endlich eine Marine.
Erschienen in der Basler-Zeitung vom 8.7.2011