Thilo Sarrazin / 09.03.2021 / 06:15 / Foto: Achgut.com / 185 / Seite ausdrucken

Die Gesellschaft hat die Politiker, die sie verdient hat

Ich bin 76 Jahre alt, erfreue mich guter Gesundheit und lebe gern noch etwas länger. Also halte ich seit einem Jahr penibel alle Corona-Regeln ein – so, wie sie gerade gelten. Das ist streckenweise langweilig und auch ein wenig deprimierend, aber was wäre die Alternative? Ich maße mir kein Wissen an, das ich objektiv nicht besitze, und bleibe im Zweifel auf der sicheren Seite. Die Autorität der Experten stelle ich nicht infrage und sehe ohne Häme, dass sie – auf zweifellos höherem Erkenntnisniveau, als ich es besitze – häufig unterschiedlicher Meinung sind und ihre Meinung auch öfters ändern.

Ich habe registriert, dass Erkrankungen an Covid-19 zu schweren Spätfolgen führen können, auch wenn sie nicht tödlich verlaufen – z.B. was die Leistungsfähigkeit der Lunge angeht. Ich habe aber auch zur Kenntnis genommen, dass die Verläufe in jungen und jüngeren Jahren überwiegend sehr milde sind und häufig gar keine Symptome auftreten. 85 Prozent aller Corona-Toten in Deutschland sind älter als 70 Jahre, und das Median-Alter der an und mit Covid-19 Gestorbenen liegt bei 84 Jahren.

Schaut man sich die Corona-Häufigkeit, die sog. Inzidenz, nach Altersgruppen an, so sticht ins Auge, dass die über Achtzigjährigen am stärksten und die Kinder bis 14 Jahre am geringsten betroffen sind. Gering betroffen, fast so gering wie die Kinder, ist aber auch die Altersgruppe von 64 bis 79 Jahren, der ich angehöre. Diese können ja größtenteils noch für sich selber sorgen und halten sich, genau wie ich, offenbar weitgehend an die Corona-Regeln. Außerdem ist diese Gruppe jenseits der Zwänge des Berufslebens und der Kinderaufzucht und kann ihre Kontakte besser steuern. Das geschieht offenbar auch mit Erfolg. 

Kampf der Mutanten

Bei den Hochbetagten über 80 ist es dagegen offenbar der Kontakt mit dem Pflegepersonal – egal, ob Familienangehörige oder andere – der für die die hohen Ansteckungsraten und in dieser Altersgruppe auch für die Todesfälle gesorgt hat.

Diese kurzen Hinweise zeigen, wie kompliziert alles ist und dass man mit schlichten Formeln nicht weiterkommt. Das Corona-Virus verändert seine Eigenschaften durch Mutationen. Gegenwärtig macht die britische Mutante B.1.1.7 von sich reden, sie ist offenbar noch ansteckender und gefährlicher und verdrängt gegenwärtig in Deutschland weitgehend die ursprüngliche Virenform. Dies löst im Infektionsgeschehen eine Gegenbewegung zum nur langsam wachsenden Schutz der Bevölkerung durch Impfung aus. Die unvermeidliche Schlussfolgerung ist, dass eine No-Covid- oder gar Zero-Covid- Strategie zumindest in Europa gescheitert ist. Das Virus ist gekommen, um zu bleiben.

Deshalb können (und dürfen) Politik und Gesellschaft sich nicht länger vor der Abwägung drücken, welche sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten man für die Bekämpfung des Virus auf sich nehmen soll. Man gerät damit allerdings auf ein Gebiet, das der Mainstream der gesellschaftlichen und politischen Debatte bisher sorgfältig vermieden hat: 

- Wie viele wirtschaftliche Existenzen dürfen vernichtet werden, 

- wie viele zusätzliche Arbeitslose darf es kosten,

- welche Bildungslücken unserer Kinder müssen wir akzeptieren,

damit weniger Menschen an Corona erkranken und am Ende auch sterben?

Grenzkosten und Grenznutzen

Jeder Corona-Tote ist einer zu viel. Aber der gesellschaftliche Preis der Vermeidungskosten muss auch diskutiert, benannt und abgewogen werden. Moralisch gesehen hat jedes menschliche Leben einen eigenen Wert, der auch nicht bezifferbar ist. Aber die Bildungschancen der Kinder, die Lebenschancen der beruflich aktiven Generation, die wirtschaftlichen Existenzen in Einzelhandel und Gastgewerbe und die beruflichen Perspektiven von Schauspielern, Musikern und Künstlern müssen gleichwohl gegen das Ziel eines absoluten Lebens- und Gesundheitsschutzes abgewogen werden.

Das ist vor allem eine Aufgabe der Politik. Aber die meisten Politiker scheinen in dieser Hinsicht von Sprachlosigkeit – und mehr noch, von begleitender Gedankenleere – befallen zu sein. Sie sperren sich gegen jede Denkfigur, die die Grenzkosten der umfassenden Lähmung der Gesellschaft gegen den Grenznutzen der Vermeidung von Krankheit und Tod aufrechnet. Wie ein unmündiges Kind, das sich Entscheidungszwängen verweigert, möchte man alles gleichzeitig.

Die Explosion der staatlichen Schulden hat in diesem Zusammenhang jenseits ihrer realen Problematik einen zutiefst symbolischen Charakter. Aber klagen wir nicht, die Gesellschaft hat in dieser Pandemie jene Politiker, die sie sich durch ihre eigene Widersprüchlichkeit verdient hat.

Zuerst erschienen in de Zürcher Weltwoche

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Leserpost

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J. Heini / 09.03.2021

Ja, was werden wir nur machen, wenn es Männer wie Herrn Sarrazin nicht mehr gibt? Einen Schritt zurücktreten und öffentlich nüchtern abwägen, das ist nicht mehr gefragt. Das Henne - Ei Problem. Bei uns kommt noch der Hahn dazu. Und das sind immer mehr zur Einseitigkeit neigende “Bildung” und Medien. Unter diesem Gesichtspunkt: Ja, die Gesellschaft bekommt die Politiker, die sie verdient.

Dr. Christian Menzel / 09.03.2021

Ich denke, ich hätte diese Pandemie wohl besser organisiert - das muss man auch mal sagen dürfen. Es war und ist nicht immer alles alternativlos und ich bin vom Fach, nicht zu doof und habe v.a. keinerlei Angst vor dem Absacken in völlige Bedeutungslosigkeit, wenn ich mal mein Amt verlieren sollte. Es wäre wohl besser verlaufen, denn ich hätte auch unseren uralten Pandemieplan nicht nur abgeheftet und vergessen. Aber wir haben diese sich leider nur noch inzestuös selbstbefruchtende Kaste der Politiker, die wir verdienen. Auch meine Schuld! Dafür leben wir in Zeiten einer “cancel culture”, die das Verwenden von Verstand und politisch unerwünschten Informationen verbietet. So zum Beispiel auch die Frage nach dem Migrationshintergrund der Mehrzahl unserer Intensivpatienten und warum in deren “Leben mit Kommunikationshindernis” und Kulturverweigerung die Virusverbreitung sich lockdownresitent zeigt. Dass wir zusätzlich unsere vulnerablen Gruppen nicht schützen konnten, ist nur ein weiteres Versagen - in Tübingen wurde es exemplarisch besser gemacht. Und so hat das vermerkelte System einmal mehr den Wohlstand unserer Nation zum verschwenderischen Zukleistern von ungelösten Problemen und deren Verschieben in unbestimmte Zukunft verwandt. Ein schlimmer Verdacht drängt sich geradezu auf: Wenn diese Pandemie das Versagen und die Hilflosigkeit der Politik so drastisch offen legt, weil die Konsequenzen so unmittelbar spürbar sind, dann könnte man auf die Idee kommen, es wäre ähnlich dilettantisch auch bei anderen Problemen gearbeitet worden. Energiewende ? Eurokrise ? Migrationskrise ? Sozial- und Außenpolitik ? Ach ja, gerade letztgenannte Außenpolitik findet ja gar nicht mehr statt - prima, dann geht da auch nichts schief ?

Bernhard Joseph / 09.03.2021

Man muss hier doch einige Aussagen korrigieren. “Ich habe registriert, dass Erkrankungen an Covid-19 zu schweren Spätfolgen führen können, auch wenn sie nicht tödlich verlaufen – z.B. was die Leistungsfähigkeit der Lunge angeht. “ Dieser Satz erweckt den Anschein des Faktischen. Tatsache ist aber, dass selbst das RKI bezüglich Spätfolgen deutlich zurückhaltend ist. Ich darf hier mal aus dem RKI Lagebericht zitieren: “Bei Infektionen mit Pneumonien werden grundsätzlich längere Genesungszeiten beobachtet und sind prinzipiell nicht ungewöhnlich…Auch bei COVID-19 können Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome vorhanden sein oder neu auftreten. Allerdings existiert aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes und den sehr unterschiedlichen klinischen Präsentationen bis jetzt keine einheitliche Definition für Langzeitfolgen…Verlässliche, repräsentative Daten zum Anteil der Erkrankten mit Langzeitfolgen liegen derzeitig nicht vor.” In Fachberichten von Lungenfachärzten ist zu lesen, dass insbesondere bei jüngeren Patienten, auch nach schweren Krankheitsverläufen sich die Lunge nach längerer Zeit wieder vollständig regeneriert. Das RKI weist explizit keine Daten zu Invalidität aus. “Dies löst im Infektionsgeschehen eine Gegenbewegung zum nur langsam wachsenden Schutz der Bevölkerung durch Impfung aus.” Auch hier stellt Sarrazin eine Behauptung auf, die wissenschaftlich längst nicht gesichert ist. Die WHO hat noch letzte Woche offiziell erklärt, dass davon ausgegangen werden müsse, dass die Impfungen weder einen 100 prozentigen Schutz gegen eine Infektion noch gegen die Weitergabe des Virus bieten. Welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen erst zu erwarten sind, wenn sich herausstellen sollte, dass die Impfstoffe weitaus schlimmere Spätschäden verursachen als sie nutzen, kann sich jeder angesichts von millionenfachen Massenimpfungen selbst ausrechnen. Dem anderen Inhalt kann ich zustimmen.

Martin Landvoigt / 09.03.2021

Das alles ist nüchtern und führt zu einer tiefen Traurigkeit, denn wir sehen nicht wirklich Licht am Ende des Tunnels. Es wird auf unbestimmte Zeit alles schlechter werden, denn die Probleme der Zeit werden nicht mehr gelöst, sondern akkumuliert und verschärft. Selbst wenn das Infektionsgeschehen saisonbedingt in den nächsten Monaten abnimmt, so lastet doch das angesammelte Erbe des Chaos zu schwer auf der Gesellschaft. Es ist dann schwer, die Flucht ins Private nicht als Ausweg zu sehen.

Frank Volkmar / 09.03.2021

Jedes Jahr sterben laut RKI 10.000 bis 20.000 Menschen an Infektionen, die sie sich im Krankenhaus zugezogen haben. Das sind rd. 800 bis 1.600 pro Monat, oder 200 bis 400 pro Woche. Wurde das abgewogen und als akzeptabler Preis im Sinne der Verhältnismäßigkeit resümiert ? Das sind nur die Todesfälle ! Darin sind nicht die “Spätfolgen” enthalten, die zum Beispiel nach Wundinfektionen drohen. Nach der destatis Sonderauswertung der Sterbefälle gab es im Jahr 2020 eine Untersterblichkeit von rd. 3 % gegenüber dem “schlechtesten” Jahr 2018 bei unter 80 Jährigen und bei den über 80 Jährigen eine Übersterblichkeit von rd. 7,4 %, die aber erst seit November ´20 gegenüber 2018 erkennbar ist.Wo ist das Problem ? Wo ist das Problem wenn ich Vergleiche mit anderen Ländern anstelle ? Es tut mir leid, ich sehe eher das Problem von Fehldiagnosen und Infektionen auf die ich keinen Einfluss habe, als bei diesem so völlig neuartigen Virus vor allem wenn bei Maßnahmen noch nicht einmal im Ansatz auf die Verhältnismäßigkeit geachtet wird !

Wolf von Fichtenberg / 09.03.2021

Alles schön und gut ( nee, ist es nicht), doch wenn ich Artikel von jenen Leuten lese, die x-Jahre in der Verantwortung waren und somit eine Mitverantwortung an den Zuständen tragen—(Das bezieht sich nicht nur auf diesen Autor, sondern auch auf kommentierende Ex-Berater, Ex-Nachrichtensprecher,  Ex-Journalisten, Ex-Irgendwas - zumeist nach der gut bezahlten Karriere, jetzt abgesichert mit überzogenen Pensionsansprüchen),—stelle ich mir stets die nie beantwortete Frage: Ist jenen bewusst das genau sie selbst eben die Mitverantwortung für das Heute tragen? Mir ist keine Verlautbarung bekannt in der irgendwer sagt: “Ja, ich war Teil des Systems. und trug zum Jetzt bei.” - Solange dieses Eingeständnis nicht kommt, passiert nur dies (- und das stelle ich im vemehrt im Umfeld fest-)  : “Ach, schreibt XY mal wieder.? Schön… Das ist aber belanglos.” ...  Die Texte werden nicht einmal mehr überflogen, ganz gleich welche Thematik es ist. - Und das ist die ausgeblendete Wirklichkeit.

Eugen Richter / 09.03.2021

Nur die Headline gelesen. Stimmt. Meine Rede. Jüngster Beleg für Massenpsychosen: Früh morgens in der Kälte Schlangen vor einem Supermarkt wegen einem Coronaschschnelltest, welcher eher zweifelhaft ist und das bei einer Krankheit, welche due WHO mittlerweile als mindestens nicht gefährlicher als die bekannte Influenza ansieht.

Gerd Quallo / 09.03.2021

Wenn jeder Corona-Tote einer zu viel ist, dann auch jeder Grippe-Tote. Machen wir bei der nächsten Grippewelle auch den Laden dicht? Und verbieten wir Autofahren? Und warum galt diese Feststellung nie für größtenteils vermeidbare Erkrankungen wie etwa MRSA-Infektionen? Die Deutschen kriegen nicht nur die Politiker sondern auch die Politik, die sie wollen. Was erwartet man von Leuten, die Spielplatzgeräte abbauen lassen, weil sich die Kinder daran verletzten könnten. Hätte es keine Maßnahmen gegeben, hätten die Deutschen spätestens nach der ersten BILD-Zeile “Killervirus schlägt wieder zu” nach dem Lock-Down-Knast geschrien.

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