Ist es ein Zufall, dass die rotgrüngelbe Koalition dieser Tage ein „Strategiepapier gegen Einsamkeit“ auf den Markt geworfen hat? Natürlich nicht. Erstens ist Weihnachtszeit und Weihnachtszeit ist Einsamkeitszeit.
Die einen sind einsam, weil allein zu Hause, die anderen sehnen sich nach Einsamkeit, weil ihnen die Familienfestivitäten seelisch über den Kopf wachsen. Eine alte Geschichte. Aber eine politische? Was hat die Regierung nur dazu veranlasst, auf hoher politischer Ebene ein solches Strategiepapier zu verfassen? Und warum gerade jetzt? Warum nicht vor einem Jahr? Warum nicht vor zehn Jahren? Warum überhaupt?
Die Antwort auf diese Fragen liegt auf der Hand. Das Strategiepapier gegen Einsamkeit richtet sich an die Politiker selbst. Es war schon immer einsam an der Spitze, aber noch nie waren unsere Politiker so einsam wie heute. Von ihren potenziellen Wählern verlassen, dürften sie sich wie eine verlorene, wenn nicht gar die letzte Generation fühlen. Also haben sie sich zur Selbsttherapie durch Strategie entschlossen.
Der ganz große Einsame ist natürlich Olaf Scholz. Er ist dort oben auf der kalten Höhe der Macht so allein, dass es ihm über lange Strecken die Sprache verschlägt. Seine zusammengekniffenen Lippen sind permanenter Ausdruck des großen einsamen Schweigens. Kann man diese anscheinend fest verschlossenen Lippen wenigstens um die Weihnachtszeit einen Spalt weit öffnen und ihnen gar ein einnehmendes Lächeln entlocken? Ein Lächeln, das die Menschen anzieht und ihn aus seiner Einsamkeit wenigstens für eine Weile befreit?
Am ehesten geeignet, ein solches befreiendes Lächeln hervorzuzaubern, dürfte das bereits bestehende, aber nunmehr strategisch eingebettete „Silbertelefon“ sein. Es schenkt Menschen ab 60, also Menschen mit silbernem Haar, Gehör und berät sie.
Olaf Scholz darf sich zur Zielgruppe des Silbertelefons zählen, da er über 60 ist und die Zugangsberechtigung nicht von der Anzahl der silbernen Haare abhängt. Im Falle Scholz ist aber auch denkbar, dass er zu denjenigen gehört, die sich nach Einsamkeit sehnen, weil die bunte Regierungsfamilie seine Nerven über Gebühr strapaziert. Sollte das so sein, so wäre eine Therapie zu empfehlen, die in der regierungsoffiziellen Strategie gegen Einsamkeit nicht vorgesehen ist: eine Auszeit möglichst in einem Kloster mit Schweigepflicht.
Nummer gegen den Kummer
Die strategisch empfohlene „Nummer gegen Kummer“ berät eigentlich Kinder und Jugendliche. Aber da es den Grünen noch nicht gelungen ist, das passive Wahlalter auf zehn Jahre herabzusetzen, sollte man mit der Altersgrenze in diesem Fall nicht so streng sein. Unsere vergleichsweise jugendliche Außenministerin hat viele Gründe, sich der „Nummer gegen Kummer“ anzuvertrauen. Auf ihren zahlreichen Reisen um die Welt hat Annalena Baerbock zu ihrem Kummer immer wieder feststellen müssen, dass ihre feministische Außenpolitik in Nah und Fern gegen eine Macho-Wand stößt. Auch ihre Empfehlung, Deutschland möge sich den afrikanischen Staat Kenia als ökologisches Vorbild nehmen und ihm nacheifern, hat in der Heimat ein Echo gefunden, das in ihr das Gefühl tiefster Vereinsamung ausgelöst haben dürfte
Die Einsamkeit unseres Finanzministers ist von anderer Art. Christian Lindner ist der Außenseiter in doppelter Hinsicht. Erstens ist er – rechnerisch betrachtet – der Benjamin, der numerisch Kleinste in der Regierungsfamilie. Er darf zwar den Geldbeutel in der Hand halten, kann aber nicht verhindern, dass ihm die Großen immer wieder einfach hineingreifen. Und dann hat er noch diese merkwürdigen liberalen Neigungen, zum Beispiel die Überzeugung, dass der Staat nicht alles besser weiß und nicht alles besser kann. Damit kann er bei den roten und grünen Besserwissern natürlich nicht landen.
Eigentlich würde man dem kleinen einsamen Liberalen empfehlen, es mal mit einem der 530 vom Bund unterstützten Mehr-Generationen-Häuser zu probieren, wo Groß und Klein, Alt und Jung sich in heiterer Harmonie ergänzen. Aber es ist zu fürchten, dass Christian Lindner das klassische Beispiel des Einsamen in der Menge ist und bleibt. Man kann nur hoffen, dass die Strategie gegen die Einsamkeit auch ihm irgendwie ein bisschen helfen kann.
Kompetenzzentrum Einsamkeit
So weit und beispielhaft diese drei betroffenen Politiker. Aber was hat es nun mit dieser Strategie eigentlich genauer auf sich? Nun, das Strategiepapier sieht zum Beispiel vor, „die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren“, also sicher auch für die Einsamkeit der Regierenden. Außerdem soll „durch Forschung das Wissen über Vorbeugung und Linderung von Einsamkeit vergrößert werden“. Das kann natürlich dauern. Darum sollen den Betroffenen kurzfristig „niederschwellige Hilfsangebote“ gemacht werden.
Vor allem aber: „Die Erkenntnisse aus den vom Bund unterstützten Projekten werden über das Kompetenzzentrum Einsamkeit bundesweit zugänglich gemacht.“ Donnerwetter. Das ist mal was Neues. Aber Moment mal. Das Kompetenzzentrum Einsamkeit fördert der Bund ja schon seit 2019. Also doch nichts Neues? O doch. Ab sofort gibt es das Ganze als Strategie. Und Strategie heißt, dass die bereits vier Jahr existierende Sache nunmehr „längerfristig angelegt ist“.
Also wohl mindestens noch zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl. Damit haben die betroffenen Regierungspolitiker die Chance, noch während ihrer Amtszeit vom Kompetenzzentrum Einsamkeit zu profitieren. Danach können sie sich im Kreise ihrer Familien und Freunde von der berufsbedingten Einsamkeit erholen. Es sei denn, der eine oder die andere muss nach der Bundestagswahl in neuer Formation weiter seine oder ihre einsamen Kreise ziehen.
So oder so: Dem Kompetenzzentrum Einsamkeit dürfte die Arbeit nicht ausgehen.
Rainer Bonhorst arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen-Zeitung.