Die Deutsche in mir

Ich bin Deutsche unter Deutschen. Früher war ich eine unter Rumänen. Hätte man mich nachts geweckt und gefragt, was ich bin, ich hätte schon als Kind gesagt: deutsch. Es ist meine Muttersprache, in der ich träume. Preußische Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit standen unter den Deutschen in Siebenbürgen hoch im Kurs.

Nichts scheint den Deutschen zwischen Ost und West derzeit ferner als die „Einheit“, die kürzlich wieder in allerlei Festtagsreden beschworen wurde. Das Deutschsein an sich ist in weiten Teilen des politischen Establishments sowieso ein problematischer Zustand, den man lieber abschaffen möchte. Wer etwas auf sich hält, ist heute lieber „Europäer“ oder gleich „Weltbürger“ einer No-Border-Gesellschaft. Die deutsche Fahne an Autos oder gar Hausfassaden – sie macht verdächtig, die falsche politische Gesinnung zu besitzen und das Deutschsein gar großartig zu finden. Wenn nicht einmal die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mehr schwarz-rot-gold, sondern Regenbogenfarben flaggt und lieber „Die Mannschaft“ ohne Nation sein will, für wen läuft man da eigentlich (inzwischen erfolglos) auf dem Platz noch auf?

Kein Volk weltweit scheint mehr damit beschäftigt, sich selbst zu hinterfragen als die Deutschen. Volk – ist das Wort, obwohl es immer noch auf der Fassade des Deutschen Bundestages steht, nicht auch bereits auf dem Index „völkischen“ Gedankengutes? Was ist dieses Deutschland, das manche linke Milieus am liebsten abschaffen würden?

Die Frage von Heimat, wohin wir gehören, weil wir von dort stammen, wo wir uns selbst verorten, woran wir hängen, was uns ausmacht – Herkunft, Identität, Sprache, Erinnerung, Musik, Essen, Familie. Der Mensch hat Wurzeln, die man ihm nicht nehmen kann und auch nicht nehmen sollte. Die aktuelle Migrationspolitik folgt der Illusion, man könne Menschen einfach in eine neue Kultur, ein neues Land umsiedeln und das führe nicht etwa zu Problemen, sondern nur zu Bereicherung und Glückseligkeit. Nach über drei Jahrzehnten haben wir Deutschen jedenfalls nicht einmal zwei deutsche Mentalitäten restlos miteinander vereinen oder gar versöhnen können – wie anmaßend, zu glauben, wir könnten die ganze Welt kulturell auf deutschem Boden verschmelzen.

Deutschsein für Zugezogene

„In welches Deutschland zieht ihr denn?“, fragte mich das große Mädchen. Ich war neun Jahre alt, lebte in Rumänien – und wusste die Antwort nicht. Wir schrieben das Jahr 1984, und ich hörte das erste Mal, dass es überhaupt zwei Deutschlands gibt. Meine Mutter hatte eine Brieffreundin in Karl-Marx-Stadt. Sie hatte uns mit ihrer kleinen Tochter den Sommer zuvor besucht. Zwei meiner Onkel waren bereits mit Familie vorausgezogen und wohnten in Freiburg. Alles irgendwie Deutschland.

Solange ich zurückdenken kann, drehten sich die Gespräche der Erwachsenen in meiner Kindheit im rumänischen Siebenbürgen immer wieder nur um ein Thema: nach Deutschland ziehen. Wer wann die Genehmigung vom kommunistischen Staat bekommen hatte, endlich gehen zu dürfen. Wir lebten im Abglanz von Ceausescus real existierendem Kommunismus, aber wir waren doch Deutsche, oder nicht? Und wenn ja, zu welchem Deutschland gehörten wir denn nun?

33 Jahre später ist diese Frage immer noch aktuell; scheint das Land immer noch von einer unsichtbaren Mauer geteilt; sind plötzlich alle erschrocken, dass die Grenze des gefallenen Eisernen Vorhangs nach wie vor ihre Spuren in Mentalitäten, Gewohnheiten und politischen Hinterköpfen hinterlassen hat; zeichnet der Ort unserer Heimat immer noch seine Spuren bis tief in unsere DNA.

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Deutschen Einheit kann die Frage danach, was denn nun deutsch sei, was Heimat, Volk und Nation bedeuten und ob es das alles auch für Deutsche überhaupt gäbe, nicht mehr freimütig beantwortet werden – weht für manche gar etwas Anrüchiges in diesen Fragen mit. Wer ist deutsch – und wenn ja, wie viele?

Am Rand der politischen No-Go-Area

Im Jahr 2023 ist es manchen eher peinlich, dass auf dem Reichstagsgebäude immer noch gut lesbar die Politik, die darin gemacht werden soll, „Dem deutschen Volke“ gewidmet ist. „Volk“. Ein Wort am Rand der politischen No-Go-Area.

Und obwohl uns im Auslandsurlaub jeder hundert Meter gegen den Wind offenbar eindeutig als Deutsche erkennt, tun wir uns selbst mit der Frage, was uns als Nation von Deutschen ausmacht, so unfassbar schwer. „Nation.“ Auch so ein Wort, das demnächst mit Triggerwarnungen versehen werden muss.

So scheint es oft einfacher, zu definieren, was wir als Deutsche nicht sind oder nicht sein wollen, als das, was uns über alle Bundesländer, Sitten und Gebräuche hinweg als Deutsche eint. Das, was mehr ist als die Unterscheidung zwischen denen, „die schon länger da sind“, um die ehemalige Kanzlerin Merkel zu zitieren, und denen, die gerade in Strömen neu dazukommen und ausgelöst haben, dass sich neue Gräben aufgetan haben. Unter Deutschen.

Frage nach Heimat, Kultur, Herkunft und Tradition

Was ist dieses Deutschland, das in manchen linken Milieus gerne als „mieses Stück Scheiße“ bezeichnet wird und das jedenfalls für meine Familie doch das Land der Verheißung war und geblieben ist? Dieses Land, in dem wir leben wollten, weil wir in unserer Heimat in Rumänien als „die Deutschen“ galten, um dann in Deutschland zu realisieren, dass uns hier viele als „die Rumänen“ bezeichneten.

Ich stamme aus Siebenbürgen. Es ist jedenfalls meine Heimat. Dieser Landstrich hinter den Karpaten, den ich später meinen Mitschülern in Deutschland immer als „Transsilvanien“ vorstellte, weil ein Hauch von Dracula irgendwie cooler klang als der Name dieser kleinen Stadt, aus der ich stamme, mit der kleinen Kirchenburg in der Mitte und mit genau einer Ampel. Schon vor Jahren las ich, die Grüne Jugend würde uns gerne dazu anhalten, den Begriff „Heimat“ nicht mehr zu benutzen, weil er ausgrenzend sei.

Die „BUMS“-Seminare” (Beziehungen, Unanständigkeit, Macht und Sexualität) dieser Jugendorganisation haben offenbar ernsthafte intellektuelle Schäden hinterlassen. Kein Land dieser Erde ließe sich ohne die Antwort auf die Frage nach Heimat, Kultur, Herkunft und Tradition und der Eingrenzung all dieser Dinge definieren. Nicht um andere auszugrenzen. Sondern um sich seiner selbst zu vergewissern.

Deutsche unter Deutschen

Würde jemand im politischen Raum die Behauptung aufstellen, es gäbe jenseits der gemeinsamen Sprache gar nicht so etwas wie eine französische oder italienische oder türkische Kultur, man wäre in Sekundenschnelle als Rassist verschrien. Aber das tat ausgerechnet die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung ungestraft mit dem Deutschsein, dessen Miteinander mit den Neu-Dazu-Gekommenen im Land sie täglich neu verhandeln wollte.

Ich bin Deutsche unter Deutschen. Früher war ich eine unter Rumänen. Hätte man mich nachts geweckt und gefragt, was ich bin, ich hätte schon als Kind gesagt: deutsch. Es ist meine Muttersprache, in der ich träume. Preußische Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit standen unter den Deutschen in Siebenbürgen hoch im Kurs.

Ich habe die gleichen Kinderlieder gesungen wie die Kinder in Deutschland, musste den „Knecht Ruprecht“ auswendig lernen, damit der Nikolaus mir was bringt, habe „Heidi“ gelesen und Karl May. Siebenbürgen bleibt Heimat, ganz egal wie weit ich mich davon entferne, egal wie lange ich schon nicht mehr dort war und wie sehr ich lange Zeit versucht habe, es abzustreifen.

Meine Ururgroßeltern wagten einst wie so viele die Überfahrt in die Vereinigten Staaten und suchten ihr Glück in den Orangenhainen von Florida. Lange sind sie nicht geblieben. Sie hatten Heimweh. Denn man kann zwar sein Hab und Gut mitnehmen und sogar seine Familie, die Fotoalben, die Kochbücher, die Sitten, Gebräuche und den Glauben an einen Gott – und doch wird es nicht zwingend eine neue Heimat. Man wird nicht Amerikaner, nur weil man dort wohnt. Und man wird kein Deutscher, nur weil man nach Deutschland kommt. Man bleibt aber immer Deutscher, wenn man es einmal ist.

Meine Vorfahren hatten ihr Herz nicht nach Florida mitgenommen, sondern in der Heimat gelassen. Deswegen mussten sie umkehren. Und bis zuletzt meinten meine Großeltern, die doch ein Drittel ihres gut 90-jährigen Lebens zuletzt in Deutschland verbracht hatten, wenn sie „zu Hause“ sagten, immer noch Siebenbürgen. Sie waren Deutsche unter Deutschen geblieben.

Eine zweite Heimat?

Immer mehr Menschen leben dauerhaft in Deutschland, stammen aber aus einem anderen Land, einer anderen Kultur. Ich glaube, viele fühlen sich hier zu Hause, sie wollen auch für immer bleiben, aber sie hatten mal eine andere Heimat, die sie in ihrem Leben nicht loslassen wird. Deutschland ist nun ihr Zuhause. Es drängt sich spontan die Frage auf, ob man wohl eine zweite Heimat haben kann, oder ist dies etwas, was es im Leben nur einmal gibt?

Ich tendiere zu Letzterem. Ein neues Zuhause ist schnell gefunden, eine Heimat manchmal nur schwer ersetzt. Zu Hause – das wählt man sich aus. Man zieht aus dem Elternhaus aus, geht studieren, in ein neues Land, manchmal temporär, manchmal dauerhaft. Man kommt zurecht, man gewöhnt sich ein, lernt neue Menschen kennen, man lernt die Sprache. Herrlich altmodisch hieß es früher noch, man „wird heimisch“ – es ist also ein Prozess, der länger dauert. Zu Hause, das sind die Menschen, mit denen ich lebe, meine Familie. Das Lieblingskissen auf dem Sofa, der Goldene Fisch von Paul Klee, der schon in zahlreichen Wohnungen hing. All das könnte ich auch in die Fremde mitnehmen und dort ein anderes, neues Zuhause schaffen. Bis es eine „zweite Heimat“ wird, muss wohl sehr viel Zeit verstreichen. Meine Urgroßeltern haben diesen Punkt in Florida einst nicht erreicht. Sie hatten Heimweh, sie wollten wieder in die Heimat, sie sind zurückgekehrt. Weil es nicht reicht, seine Liebsten um sich zu haben, man lässt einen Teil zurück. In der Heimat.

Nostalgie und Verklärung

Wenn also das Zusammenwachsen von Deutsch und Deutsch sich bereits derart langwierig gestaltet, wie schwer muss erst das Zusammenwachsen von Deutsch und Nichtdeutsch in Wahrheit sein? Wenn man sich den Realitäten stellt, dass multikulturelle Gesellschaften nicht etwa Regenbogenparadiese sind, sondern der mühsame Versuch, Dutzende von Parallelgesellschaften auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, auch wenn der Zähler im Herzen immer noch einen anderen Puls vorgibt.

Dann fange ich an nachzuvollziehen, warum manche – trotz Mauer und Stasi, trotz Reisesperre und Repressionen – immer noch von Spreewaldgurken und Rotkäppchen-Sekt reden und in den guten alten Zeiten der DDR schwelgen. Weil es ihre Heimat war und ist. Und weil die Teilung von Deutschland sich nicht einfach auflöst, nur weil man einen Grenzzaun entfernt. Was sich in Menschen verwurzeln konnte, trägt auch nach Jahren noch Knospen.

Und dann beginne ich zu verstehen, warum meine ehemalige polnische Putzfrau auch nach 20 Jahren in Deutschland und mit drei Kindern auf dem Gymnasium immer noch kein Deutsch spricht. Weil sie ihr Stück Heimat in ihrer polnischen Gemeinschaft und mit Satellitenfernsehen bewahrt. Und auch wenn ich es inakzeptabel finde, so gewinnt die Schar der Erdogan-Anhänger in Deutschland Sinn aus der Perspektive verlorener Heimat.

Identifikation geht immer einher mit Abgrenzung

In Wahrheit sind wir als Menschen alle so. Die unterschiedlichen Deutschen bindet nur schon sehr lange ein gemeinsamer Weg. Der Bayer war auch schon immer anders als der Franke, der Schwabe, der Preuße oder der Berliner. Mir warf einst im Konfirmationsunterricht in einer badischen Kleinstadt eine 13-jährige Mitschülerin den Satz vor die Füße, ich hätte als Zugezogene hier im Ort sowieso nichts zu melden.

Im tiefen Sauerland gelten bis heute in manchen Orten Ehen zwischen Katholiken und Evangelischen immer noch als „Mischehen“. Identifikation geht immer einher mit Abgrenzung. Nicht selten ist man stolz auf das Eigene, das Andere, das Besondere. „Mia san mia.“ Der gemeinsame Nenner bleibt dennoch tief in uns verwurzelt.

Sachsen ist auch Deutschland. Thüringen und Hessen und selbst Siebenbürgen und die Russlanddeutschen. Eine gemeinsame Geschichte, eine christlich geprägte Kultur, selbst für diejenigen, die nicht an den dazugehörigen Gott glauben mögen, eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Sitten, Gebräuche, Essen, Musik, Literatur, Humor.

Heimat ist Normalität

So betrachtet, hatte ich bereits viele Zuhause, wir sind nach dem Auswandern oft umgezogen – nur meine Heimat blieb immer am gleichen Ort. Denn das ist ein anderes Gefühl. Der Gedanke an Heimat ist sehr mit kindlichen Erfahrungen verhaftet. Es ist diese unglaubliche Mischung aus Sprache, Landschaft, Aromen, Gerüchen, Essen und Klängen, an die wir uns von Kindheitstagen an gewöhnt haben. Die wir schon im Mutterleib erfahren haben und unbewusst aufsaugen. 

Heimat ist Selbstverständlichkeit. Eine Normalität, die man nicht hinterfragt und die einem oft erst bewusst wird, wenn sie in der Fremde fehlt. Heimat, das sind die Straßen, durch die unser Kinderwagen geschoben wurde und in denen wir uns später intuitiv auskennen, die gewohnten Gesichter, der Kleidungsstil, der alte Mann auf dem Markt, das Glockenläuten, Lieder. Man kann es nicht an einzelnen Faktoren festmachen, sie gehören alle zusammen und sie prägen uns, ob wir nun wollen oder nicht. Man kann sie leider nicht einfach mitnehmen an einen anderen Ort.

Geboren bin ich in Siebenbürgen, Rumänien. Wir gehörten einer von zwei deutschen Minderheiten im kommunistischen Land an. Als ich neun Jahre alt war, sind wir nach Deutschland ausgewandert. Nach Deutschland, das war das Ziel von allen in unserem Bekanntenkreis. Ich erinnere mich jetzt noch an die Gespräche der Erwachsenen, die Wortfetzen, die auch kleine Kinder begreifen. Warten, Genehmigungen, die nicht kommen und dann die Aufregung, wenn wieder einmal jemand im Freundeskreis endlich ausreisen durfte. Ja, wir waren doch Deutsche, und Sie hätten mit der Aussage, dass wir ja eigentlich Rumänen sind, unsere Familie schwer beleidigen können, auch wenn es laut Pass völlig korrekt war. 

Deutsch ist unsere Muttersprache, ich habe die gleichen Kinderlieder gesungen wie die Kinder hier. Meine Großmutter ist eine geborene Müller und meine Freundin hatte den Nachnamen Schmidt. Ich habe „Heidi“ gelesen, sobald ich lesen konnte, die Märchen der Gebrüder Grimm, und an Fasching ging ich mit meiner besten Freundin als Max und Moritz. Eine normale deutsche Kindheit, aber in einem anderen Land. Wenn man in meiner Großfamilie fragt, würde man sehr unterschiedliche Antworten bekommen darüber, wo wir Zuhause sind. Wir sind viele und wir leben inzwischen alle in Deutschland, verstreut in verschiedenen Bundesländern und haben an unterschiedlichen Orten unser Zuhause gefunden. Auf die Frage nach der Heimat gäbe es aber vermutlich bis in meine Generation hinein nur eine Antwort: Es ist immer noch dieser Ort in Siebenbürgen, in dem wir alle geboren sind. 

Essen ist Heimat

Und doch, ein bisschen Heimat haben wir hier rüber gerettet. Besonders auffällig war es bei der Generation meiner Großeltern, aber auch noch bei der meiner Eltern. Sie sprechen alle noch den alten Dialekt untereinander, den meine Generation noch versteht, aber nicht mehr – oder nur mit größter Mühe – spricht. Wenn meine Oma von „Zuhause“ redete, dann meinte sie Siebenbürgen. Wenn wir als Großfamilie zusammenkommen, dann sind die opulenten Mahlzeiten ganz wichtig. Es muss genug da sein, auch das eine Erinnerung aus Rumänien, denn es war ja nicht immer genug von allem da. 

Geschmacklich gibt es bei den Mahlzeiten das eine wichtige Kriterium: Es muss wie früher schmecken. Das ist Güteklasse A. Wenn einer von uns im Urlaub in der alten Heimat war, bringt er von dort Lebensmittel mit. Den Schafskäse von den Bauern, den selbst gebrannten Schnaps, Polentamehl aus dem rumänischen Supermarkt oder löslichen Kaffee in Dosen – nicht weil es objektiv so besonders schmeckt, sondern einfach so wie früher. Denn das ist ein Stück Heimat hier auf dem Teller. Wie die Salzkartoffeln mit Petersilie, die sich überall in Deutschland finden. Damit sind wir nicht anders als all die Deutschen, die sich anderswo auf der Welt – sei es den USA oder in Afrika – in Gemeinschaften als Auswanderer zusammenfinden. Man bildet Bündnisse in der Fremde – nur dass wir Deutsche unter Deutschen sind. Und wir sind wie alle Chinesen, Italiener oder Türken, die ihr Glück in einem anderen Land suchen. Man tut sich zusammen in China Town, Little Italy und in Kreuzberg und hört die Musik von früher, kocht das Essen wie früher, erzählt Geschichten von damals. Man schleppt sein Stück Heimat mit sich herum. 

In guter Erinnerung

Ich war nun schon fast 40 Jahre nicht mehr in meinem Heimatort, und ich wollte lange Zeit auch explizit nicht mehr hin. In meiner Erinnerung war alles schön. Selbst die staubigen Straßen, auf denen Pferdemist lag, weil es mehr Fuhrwerke als Autos gab. So viel hat sich seither geändert, ich wollte die Kindheitsperspektive behalten. Meine Heimat fehlt mir nicht mehr, ich hab sie einfach in guter Erinnerung. 

Ja, in den ersten Jahren in Deutschland, da habe ich meine Schulfreunde beneidet. Darum, dass sie sich schon so lange kennen. Dass sie hier schon immer gewohnt haben. Banal, aber es war eben etwas, was ich nicht hatte. Heute gibt es keine Wehmut, nur eine Vergangenheit, die aber Teil von mir ist. Bis heute verstehe ich viel der rumänischen Sprache, obwohl ich es nie wirklich gelernt habe als Kind. Ich hab es offenbar einfach mit auf den Weg bekommen. Aufgesogen. Erinnerungen an den großen Hof mit den Weintrauben, die mein Vater und mein Großvater auf Drähten daran hochzogen. Das Fahrrad mit den roten Reifen.

Das große Hoftor, die Straße zum Friedhof, wo immer noch das Schild „Ort der Ruhe“ hängt, das mein Großvater angefertigt hat. Opa Hans, wie er braungebrannt in der Sonne sitzt und Ziehharmonika spielt zu selbst komponierten, lustigen Texten. Kinderlachen. Meine Cousinen, die alle in meiner Straße wohnten und alle in meiner Schulbank saßen. Die Trachtengruppe, die auf der Straße tanzt, unser Dackel „Blacky“. Der Nussstrudel, das Spanferkel, die Kümmelsuppe meiner Mutter, wenn wir Bauchschmerzen hatten. Es ist meine kindliche Idylle, ich wusste nichts von Politik, dafür war ich zu jung. Mir hat nichts gefehlt. Ich möchte es so in Erinnerung behalten. 

Und jedes Mal, wenn sich ein Sommergewitter entlädt und dieser typische Geruch aufsteigt, wenn heißer, staubiger Asphalt dampft, dann bin ich wieder dieses kleine Mädchen, das in der alten Straße steht, in dem Ort hinter den schwarzen Wäldern. Das ist meine Heimat. Ich war Deutsche unter Rumänen. Heute bin ich Deutsche unter Deutschen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Birgit Kelles Substack-Profil.

Foto: Kerstin Pukall

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Leserpost

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AR Göhring / 16.10.2023

Wollen linke Deutsche tatsächlich die Kulturen der Welt hier “verschmelzen”? Eher nicht. Schon in den 90ern hörte ich auf dem Gymnasium von linksfühlenden Mitschülern, Deutschland sei spießig, und sie wollten weg. Oder “ich will eine multikulturelle Gesellschaft!” Und was machen eben diese Mitschüler heute? Wohnen in der vom Heimatdorfe nächstgelegen Großstadt. Waren zwar mal in Paris oder Berlin-Kreuzberg, aber das “war alles zu dreckig und zu kriminell”. “Kriminell” ist der politkorrekte Code für “zu migrantisch”. Es ist alles eine eitle Illusion - je linker und fortschrittlicher, desto weißer und homogener wohnen die Illusionisten.

Holger Hertling / 15.10.2023

Vielen Dank für diesen emotionalen Text - als bereits ständig hier Lebender (und hoffentlich auch in einem lebenswerten Deutschland Sterbender) berührt er mich auf eigentümliche Weise sehr. Vielleicht gar nicht so eigentümlich, da Sie das tief verwurzelte - über Generationen angesammelte Wissen von Kultur ansprechen. Herzlichen Dank Frau Kelle.

Werner Arning / 15.10.2023

Man kann tatsächlich auch anderswo heimisch werden und sich sogar heimischer fühlen als in seinem Herkunftsland. Entscheidend dabei ist die innere Einstellung zur Wahlheimat. Wer dieser grundsätzlich positiv gegenüber eingestellt ist, wohlwollend, anerkennend und sich selber in dieser Wahlheimat anerkannt und gemocht wahrnimmt, der kann eine neue Heimat finden. Der kann gegenüber seiner ursprünglichen Heimat eine Distanz entwickeln. Sie kann ihm sogar fremd werden. Zuhause fühlt sich dieser Protagonist dann in seiner Wahlheimat. Jedoch hoffentlich ohne seine Ursprungsheimat zu verleugnen. Für das Wohlbefinden in der neuen Heimat, ist es wichtig und unabdingbar, dass er freimütig zu seinen Ursprüngen steht und auch diese wohlwollend und mit Empathie beschreibt. Wer auf diese bejahende Weise im Leben steht, der kann Vergangenes und Zukünftiges nebeneinander stehen lassen und dabei zufrieden und im Einklang mit sich sein. Wer jedoch sein „Aufnahmeland“ innerlich ablehnt, der sollte dort nicht lange bleiben. Er wird schlechte Laune haben und schlechte Laune verbreiten. Er wird sein neues Land und die Einheimischen zu hassen beginnen und allenfalls Kontakt zu anderen „Nicht-schon-länger-hier-lebenden“ unterhalten. Er wird ständig unzufrieden und schimpfend durch die Gegend rennen, den wirtschaftlichen Vorteil einstreichen und ansonsten in Nostalgie erstarren. Wenn er dann als Rentner endlich in seine Heimat zurückkehrt, legt sich seine innere Verbitterung häufig jedoch nicht mehr und er stirbt an verbittertem Herzen. Alles eine Frage der inneren Einstellung und eine Frage nach der Fähigkeit mehr oder weniger liebend durch das Leben zu wandeln.

Ulla Schneider / 15.10.2023

In der Maltherapie der Psychotherapie bedeuten die Wurzeln eines Baumes die verankerte Kraft der Seele. Sie halten den Baum fest - in den Stürmen unseres Lebens. Es gibt viele Gründe, warum in dieser Zeit bei vielen Kindern diese nur als kurz oder gar nicht vorhanden sind.  Man könnte meinen, daß es beabsichtigt ist. - Sie haben feste und tiefe Wurzeln. Herzlichen Dank.

Maria Busold / 15.10.2023

Vielen Dank. Bleibt als jahreszeitliches Gegenstück zum Geruch von dampfendem Asphalt noch der Geruch von nasser Wolle zu erwähnen.

Hans Bendix / 15.10.2023

Nun, es entspricht dem inhumanen Menschenbild des Sozialismus, Heimat, Volk, Kultur und christlichen Glauben als zu überwindende Atavismen anzusehen. Menschen nämlich, die darin verwurzelt sind, fallen kaum auf die schalmeienblasenden Sirenen des Transhumanismus herein, weshalb dieser Wurzelgrund für den Sozialismus der eigentliche Feind ist. Wer nämlich Menschen heimatlos macht und sie völkisch, kulturell und religiös entwurzelt, liefert sie natürlich de m Sozialismus als neuer Heilslehre aus. So bezeugen gerade die ganzen Kevins, Nancys, Marvins, Vanessas und Emilys, die Baldurs, Freyas, Ragnilds und Gangolfs die kulturelle Entwurzelung ihrer Eltern; und obwohl ich mich schweren Herzens und zur Not vielleicht noch mit Hope, Charity und Faith anfreunden könnte, hat man von sinnvollen neudeutschen Namen wie Truth, Obedience oder Punctuality bislang kaum etwas gehört. - Der Sozialismus vertritt ein völlig dekonstruktivistisches Menschenbild: Du bist nicht der, der du in deinen natürlichen Begrenzungen wie Herkunft, Alter, Geschlecht, Begabung, Glaube (etc.) bist, sondern du bist nur, was du sein willst, wozu du dich selbst machst. - Derart Entwurzelte “Selbsterfinder” sind in ihrer inneren Haltlosigkeit natürlich willfährige Opfer ökosozialistischer Narrative: Sei, wer du sein willst und fühle dich mächtig, weil du damit die Welt rettest. - Für meinen Horizont braucht die Welt aber keine weiteren Retter, weil sie bereits einen Messias hatte.

Gert Friederichs / 15.10.2023

Danke für diesen wunderbaren Text. Er enthält so ziemlich alles, was diese heutige Polikaste mit ihrem schreienden Anhang, der Vernichtung preisgegeben haben.

Sam Lowry / 15.10.2023

Was ist denn die “Heimat” genau? Eine Stadt, ein Dorf, die Menschen dort? Ein ganzes Land? Sein Geburtsort? Sein Haus, seine Wohnung, damals? Ist es letztlich denn nicht einfach “nur” die Familie, die Eltern, meine Kindheit? Ich wurde in der Schweiz geboren, dann wäre das meine Heimat. Aber wir sind früh wieder weg gezogen, keinerlei Erinnerung mehr. Danach in Schwaneberg gewohnt, da erinnere ich mich zum erstenmal. Kühe gefüttert. Wüsste jetzt nicht einmal, wo das liegt. Erst viel später kommen lebendige Erinnerungen. Aber ich weiß nicht einmal, wie damals der Wind blies, sonst müsste ich weinen. Und nichtmal jetzt sehe ich genau, denn je weiter weg etwas ist, umso weiter liegt es in der Vergangenheit. Den REWE sehe ich so wie vor 0,000001 Nanosekunden. Der Mond, der in der Nacht darüber leuchtet, so wie er vor 1,28 Sekunden aussah. Am Tag ist die Sonne bereits 8 Minuten 19 Sekunden alt, wenn ich sie sehe. Die Sterne darüber bereits einige Jahre oder gar Jahrtausende alt. “Jetzt” existiert genausowenig wie “damals” oder “Heimat”.

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