Flankiert von Medienfunktionären und einer Armada subventionierter Vorfeldorganisationen hat sich ein Machtkomplex entwickelt, der mit ideologischer Schlagseite die Interessen der Allgemeinheit übergeht und Rechtsstaat und Demokratie unterminiert.
Kürzlich war ich bei einer Freundin zu Besuch, die nach der Wende vor über dreißig Jahren von Ost- nach Westdeutschland rübergemacht hat. Wir sprachen über Gott und die Welt und landeten schließlich bei der Demokratie. An einem Punkt unserer Diskussion sagte ich: „Demokratie heißt, dass die Mehrheit sagt, wo es langgeht, und nicht, dass alle möglichen Minderheiten der Mehrheit auf der Nase herumtanzen.“ Für mich ist das eine absolute Selbstverständlichkeit, die völlig außer Frage steht. In einer Demokratie trifft die Mehrheit die Entscheidungen. Es wird demokratisch abgestimmt und wer mehr Stimmen hat, hat gewonnen und sagt, wie's gemacht wird.
Meine Freundin aber schaute verdutzt aus der Wäsche und meinte, dass sie das noch nie so gesehen habe. Auf meine Nachfrage, was sie denn unter Demokratie verstehe, dachte sie einen Moment nach und meinte dann: „Das, was für alle Menschen das Beste ist.“ So hatte ich das wiederum noch nie gesehen. Hat das vielleicht etwas mit ihrer DDR-Sozialisation zu tun? Ich meine: Wer, bitteschön, könnte denn für sich in Anspruch nehmen, zu wissen, was für alle am besten sein soll? Das kann doch nur jemand sein, der sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt oder der zumindest glaubt, über ein größeres, höheres oder fortschrittlicheres Wissen als die Allgemeinheit zu verfügen.
Und dann kam Erding und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger mit seinem Aufruf, sich „unsere Demokratie“ wieder zurückzuholen. Markus Lanz versuchte in einer seiner folgenden Sendungen Aiwanger darauf festzunageln, ob er denn ernsthaft die Meinung vertrete, dass die Demokratie weg sei. Aiwanger, der sich insgesamt wacker geschlagen hat, hätte an dieser Stelle frei nach Habeck antworten können, dass die Demokratie ja nicht weg sei, sondern nur woanders.
Aber wo? Bei wem? Und: Wenn es „unsere Demokratie“ gibt, gibt es dann auch „die Demokratie der Anderen“? Vielleicht hat die grassierende Unzufriedenheit mit der Ampelregierung – auf einer abstrakteren Ebene – ja auch mit unterschiedlichen Vorstellungen von Demokratie zu tun. Das Demokratieverständnis diverser Vertreter der Ampel scheint wohl eher von einer behütenden, um nicht zu sagen: bevormundenden und erzieherischen Haltung geprägt zu sein. Dieser generelle Eindruck hat sich unlängst wieder in der Lanz-Sendung mit Wirtschafts- und Klimaminister Habeck bestätigt, wo dieser Gesetze als „Bevormundungen“ definierte und davon schwadronierte, dass die Bürger dankbar seien, wenn die Regierung sie von den Zumutungen politischer Entscheidungsfindung entlaste.
Offenbar wird der Bürger von einem nicht unerheblichen Teil unserer Politiker weniger als mündiges Subjekt seines eigenen Lebensentwurfs angesehen, sondern vielmehr als Objekt staatlicher Lenkung und Fürsorge begriffen. Der Bürger als unreifes, minderbemitteltes und prinzipiell hilfsbedürftiges Wesen, dessen falsches Bewusstsein gegebenenfalls von einer politischen und medialen Elite auf Spur gebracht werden muss? Abgenutzte Parolen wie „abholen, wo sie stehen“, „niemand wird allein gelassen“, „sich unterhaken“ wie auch die sicherlich gut gemeinten Ratschläge: öfter mal einen Waschlappen benutzen, am Heizungsthermostat drehen oder bei Hitze das Trinken nicht vergessen und in den Schatten gehen – von der infantilen Comic-Sprache des „Doppel-Wumms“ ganz zu schweigen – stehen allesamt für ein Menschenbild, das die Bürger wie kleine Kinder dastehen lässt, die noch erzogen und zum richtigen Weg hingeführt werden müssen.
Die politische Kaste maßt sich an, der Staat an sich zu sein
In diese Logik fügt sich nahtlos die Einsicht vorgaukelnde, aber letztlich vor Eitelkeit strotzende Selbstkritik, dass man den Menschen die Politik offenbar nicht gut genug erklärt habe (weil sie ihr sonst begeistert folgen würden, oder was?). All das offenbart ein Politikverständnis einer – wenn man so sagen kann – „Demokratie von oben“, bei der sich die politische Kaste anmaßt, der Staat an sich zu sein und über dem Bürgerwillen zu stehen. Dazu passt auch die trotzige Missachtung der aktuellen Umfrageergebnisse sowie die Aussage von Außenministerin Baerbock, dass ihr egal sei, was ihre deutschen Wähler dächten.
Unsere Regierenden scheinen wohl wirklich davon überzeugt zu sein, es besser zu wissen als alle anderen. In ihrem megalomanischen Glauben, mit ihrer Wendepolitik zur Rettung des Klimas und der Menschheit – ja der ganzen Welt beizutragen, schlagen sie die Einwände und Warnungen andersdenkender Fachleute mit dreister Arroganz in den Wind und setzen sich kaltschnäuzig über den Mehrheitswillen der Bevölkerung hinweg. Das lässt tief blicken, was deren Demokratieverständnis angeht. Es gehört zu den Grundsätzen echter Demokratie, dass der Volkssouverän (also die wahlberechtigten Staatsbürger) in freien und geheimen Wahlen einer Regierung, die als Volksvertretung (!) fungiert, die politische Macht überträgt, damit diese die Regierungsgeschäfte im Sinne der Bürger für einen festgelegten Zeitraum erledigt.
Soweit die Idealvorstellung. In der Realität unserer Parteiendemokratie stellt sich das jedoch so dar, dass sich mehrere politische Parteien zu Zweckkoalitionen zusammenschließen müssen, um überhaupt demokratische Mehrheiten organisieren zu können. Im Zuge dessen büßen die Parteien ihr ursprüngliches Profil zunehmend ein und gleichen sich inhaltlich und weltanschaulich immer mehr einander an. Flankiert von geneigten, mit Mitteln der sogenannten „Demokratieförderung“ großzügig bedachten Medienfunktionären und einer Armada staatlich (d.h. mit Steuergeldern) subventionierter Vorfeldorganisationen hat sich ein problematischer gesellschaftspolitischer Machtkomplex entwickelt, der mit ideologisch-programmatischer Schlagseite die Interessen der Allgemeinheit übergeht und wesentliche Prinzipien des Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterminiert. In Fachkreisen wurde für dieses schon länger zu beobachtende Demokratieversagen der Begriff der „Postdemokratie“ geprägt (vgl. J. Rancière, S. Wolin, C. Crouch).
Oppositionelle diffamieren, Meldestellen einrichten
Der Philosoph Karl Jaspers hatte einst davor gewarnt, dass sich eine Demokratie auch in einen autoritären Staat und sogar in eine Diktatur verwandeln könne. In seiner Streitschrift „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ von 1966 kam er zu folgender Diagnose: „Aus dem Jahrhunderte währenden Obrigkeitsstaat sind, ohne helles Bewusstsein, Gesinnungen geblieben, die heute noch mächtig sind.“ Mir scheint, der zentrale Begriff ist hier: „helles Bewusstsein“; was man in diesem Kontext vielleicht auch mit „demokratischer Reife“ umschreiben könnte – an der es offensichtlich noch immer (oder wieder?) an allen Ecken und Enden mangelt. Für das politische System der damaligen Bundesrepublik fand Jaspers den Begriff der „Parteienoligarchie“.
Damit wollte er das fragwürdige Herrschaftsverständnis einer politischen Klasse entlarven, die sich selbst mit dem Staat identifiziert und der es primär um die Sicherung ihrer politischen Macht geht. Auch das kommt dem aufmerksamen Beobachter von heute nicht unbekannt vor, wenn etwa Oppositionelle von Politik und Medien als Staats-, Demokratie- und Freiheitsfeinde diffamiert werden und Innenministerin Faeser pointierte Kritik an der Regierung als „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ahnden lässt. Oder wenn staatlich geförderte Meldestellen installiert werden, bei denen denunziationsfreudige Bürger ihre andersdenkenden, „abweichlerischen“ Mitmenschen verpetzen können. Hieß es nicht einmal: Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden? Es spricht Bände, dass man ausgerechnet eine linke SPD-Politikerin – und weiß Gott nicht nur die – daran erinnern muss.
In seiner Replik auf die kritischen Reaktionen zu seinem Buch schrieb Jaspers: „Je deutlicher die Staatsbürger die Tendenzen (zur Parteienoligarchie und zum autoritären Staat, Anm. H.S.) wahrnehmen, desto größer ist die Chance, dass sich diese nicht vollenden werden.“ Und weiter hinten im Text resümiert er: „Ein Volk wird reif zur Demokratie, indem es selber politisch aktiv ist. Daher ist Voraussetzung einer Demokratie, dass dem Volk ein Maximum von Mitwirkung zur Aufgabe wird oder dass es sich diese nimmt...".
Damit wären wir wieder bei der „demokratischen Reife“ und der wahrscheinlich ältesten Frage der Demokratie, die heute wieder brandaktuell ist: Welche Demokratie wollen wir haben? Und: Was sind wir bereit, für „unsere Demokratie“ zu tun?
Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.