Es ist mal wieder die Rede vom Endlager für den Atommüll. Gerade hat die zuständige Kommission ein Papier vorgelegt, mit dem die Suche nach einem geeigneten Standort wieder von vorne beginnen soll. Alles ist offen. Nur eines ist klar: Der Müll soll, wo immer er hinkommt, daselbst eine Million Jahre verbleiben, gesichert, abgeschirmt. Eine Million Jahre. Auch dies ein Beispiel dafür: Wir erleben dieser Tage nur noch ganz großen Sachen, darunter geht’s nicht.
Die derzeitige Generation steht, so hören und lesen wir es tagein, tagaus, sowieso kurz davor, jene Welt zu vernichten, in der Homo sapiens in den vergangenen etwa 300.000 Jahren sein Auskommen gefunden hatte. Weil wir, die heutige Generation, gerade so ungefähr alles, was sich zwischen hundert Kilometer über oder unter der Erde abspielt, derart stark erschüttern, wie man es nicht mehr erlebt hat, seit die Dinosaurier von einem Meteoriten ausgelöscht wurden. Alle Eiszeiten waren jedenfalls nichts dagegen, die biblische Sintflut schon gar nicht.
Die einen, die heute – im Herbst 2020 – leben, werden die nächsten paar hunderttausend Jahre auf der Anklagebank sitzen für ihren Frevel. Die anderen Zeitgenossen – wenn es doch noch gut ausgeht – werden für den Rest des Menschheitslebens als die großen Retter dastehen. Und wir alle waren dabei, welch eine große Zeit. Viereinhalb Milliarden Jahre alt ist die Erde, viereinhalb Milliarden hat sie noch vor sich, nach allem, was uns die Astrophysiker sagen, und jetzt, zur Halbzeit nun der Showdown: Greta Thunberg und Rezo gegen Donald Trump und die Ölmafia. Von ihnen wird im Jahr 2.020.202 die Rede sein, nicht von Jesus oder Adolf Hitler, Adam und Eva, Kaiser Nero, Noah oder Käpt’n Kirk. Die Welt am Scheideweg.
Neues muss nicht mehr gelehrt werden
Ohne Hoffnung ist der Zeitgeist allerdings auch nicht. Eine Zukunft von einer Million Jahren gibt man der Menschheit dann doch wieder. So lange nämlich soll nun der Atommüll, für den man heute, im September 2020, einen Platz zum Endlagern sucht, abgeschirmt sein – die Mindestanforderung an die federführende Bundesgesellschaft für Endlagerung. Jetzt, da man in Zeiten der Generation Fridays for Future schon mal in großen zeitlichen Dimensionen zu denken gelernt hat, ist das ja auch nur logisch. Die Lebensspanne der Erde von insgesamt neun Milliarden Jahren wird sich später, wenn dann alles vorbei ist, und wir – so oder so, hilft alles nichts – mitsamt der Erde im „Roten Riesen“ der Sonne verschwinden werden, von der dann letzten Generation genau eingeteilt werden: in die Hälfte vor Greta und der Atommafia und die Hälfte hinterher.
Spaß beiseite: Die bizarre oder auch völlig schwachsinnige Perspektive von einer Million Jahren für ein Atom-Endlager bedeutet, bei Licht betrachtet, zweierlei. Das Gute: Zum einen gibt man dem heute nicht einmal 300.000 Jahre alten Homo sapiens noch einmal mehr als das Dreifache seiner bisherigen Lebenszeit, wie erfreulich. Das Schlechte: Man geht offenbar davon aus, dass fortan alle Forschung eingestellt wird, für eine Million Jahre eben. Wie weltfremd: Die Kernphysiker hören sofort auf mit ihren Forschungen darüber, wie der Atommüll entschärft werden könnte. Die Universitäten machen dicht, die heutigen Schulbücher reichen für Neugierige schließlich aus, Neues muss nicht mehr gelehrt werden. Und das alles für eine Million Jahre. Anders wäre diese zeitliche Anforderung an ein Endlager nicht zu rechtfertigen.
Die eine Million Jahre sind eine bürokratische Anforderung, der die Bürokraten jener Endlagerkommission vielleicht meinen, sich unterwerfen zu müssen, nach Stand der Wissenschaft über die Halbwertszeiten. Jeder ihrer Auftraggeber aber, die Bundesregierung zum Beispiel, sollte den Weitblick besitzen, von dieser absurden zeitlichen Dimension die Finger zu lassen. Man komme mir jetzt nicht mit der Allerwelts-Floskel, ich wolle hier mit einem Flugzeug starten, bevor die Landebahn gebaut ist (oder so ähnlich). Ich bleibe mit meiner Argumentation brav auf der Erde, und es geht hier um eine Jahreszahl mit sechs Nullen.
Von einer Million Jahren redet in der Fachwelt niemand
Jeder, der sich – egal ob oberflächlich oder tiefschürfend – über die Begriffe „Transmutation“, Rubbiatron Reaktor“ oder „Dual Fluid Reaktor“ informiert, erkennt, wie sehr die Dinge hierbei bereits fortgeschritten sind. Hier eine kurze, knackige Zusammenfassung des aktuellen Stands aus aktuellem Anlass, aus dem Berliner Tagesspiegel. Die Transmutation, also die Nutzung fast des gesamten Atommülls als Brennstoff, bei dessen gleichzeitiger „Entgiftung“, läuft im Labormaßstab bereits erfolgreich. Es wäre uferlos, hier in die technischen Details zu gehen, aber es überzeuge sich bei Bedarf im Netz jeder selbst, dass unter seriösen Wissenschaftlern unumstritten ist: A) Die Transmutation im industriellen Großmaßstab funktioniert heute noch nicht, auch kann noch nicht jeder Stoff (zum Beispiel Plutonium, was allerdings nur einen geringen Anteil ausmacht) entschärft werden. B) Die Entwicklung bis zum Erfolg (auch für Plutonium und so weiter) ist aber eine Frage der Zeit. Nicht von Jahren, aber auch nicht von Jahrhunderttausenden. Sehr realistisch ist eine Perspektive von zwei oder drei Jahrzehnten. Von einer Million Jahren redet in der Fachwelt niemand.
In Belgien läuft bereits ein Versuchsreaktor, in den nächsten Jahren soll dort die Forschung mit einer neuen Anlage der EU erweitert werden. Und: Die Wissenschaft hätte in Deutschland schon erheblich weiter sein können. Im Karlsruher Institut für Technologie (KIT, das einstige Kernforschungszentrum) war man dabei an vorderster Position, doch der rotgrünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder war die Transmutationsforschung ein Dorn im Auge, weil sie nicht nur den Müll, sondern damit auch eines der Hauptargumente gegen die Kernkraft („eine Million Jahre!“), entschärft hätte. Sie stoppte die Forschung per Gesetz, weil die neuen Reaktorlinien, die den Atommüll rückverwandeln sollten, dem damaligen (ersten) Atomausstieg zuwidergelaufen wären, indem sie gleichzeitig Energie erzeugten: Verboten. Fertig. Geht nach Hause.
Es steht zu befürchten, dass auf Dauer die sinnvollste Bearbeitung des Atommülls – jedenfalls bei uns – daran scheitert, dass man daraus Strom gewinnen kann. Und das darf man sich dann ruhig einmal auf der Zunge zergehen lassen: Es war die rotgrüne Regierung, die die Forschung daran, den Atommüll zu entschärfen, gestoppt hat. Die Regierungen Merkel haben daran leider nichts geändert. Mit anderen Worten: Sollte jemand doch noch einmal das unsinnige Argument mit dem gestarteten Flugzeug und der fehlenden Landebahn ins Feld führen, dann wären es genau die Grünen gewesen, die die Planierraupen für die Piste vom Platz gejagt haben.
Mach mir nicht mein Argument gegen die Atomkraft kaputt, das ist die Devise. Ihretwegen wird jene unsinnige Zeitspanne so hochgeschraubt, und deshalb wird auch heute unter den Akteuren des zweiten Atomausstiegs – immerhin eine sehr breite Front im Parteienspektrum – offenbar niemand stutzig bei der „Millionen“-Forderung. Sie soll vor allem prohibitiv klingen gegen die Atomkraft, und dabei hört jeder, der sie nur laut für sich selbst ausspricht, ihren lächerlichen Charakter: „Eine MiIlion Jahre.“ Der Leser möge es probieren.
Heiliger Bimbam, sage ich da nur.
Vor etwa 5.000 Jahren wurde das Rad erfunden, der zweihundertste Teil einer Million. Die erste elektrische Maschine lief vor 170 Jahren (1/5882), der erste Kernreaktor lief vor knapp 80 Jahren (1/12.500). Jeder, der heute verfolgt, wie schnell sich die Forschung entwickelt und auch weiß, dass die Transmutation im Prinzip bereits jetzt funktioniert – und der sich dies in diesem Zusammenhang auch vor Augen zu führen bereit ist –, kann da nur den Kopf schütteln. Dies aber auch darüber, wie die meisten Medien und Kulturverantwortlichen gerade dieser Tage wieder, weil sie sich so „klickbaiting“ bewährt, die „Million“ hochhalten. Und allesamt dabei gewollt erschrecken. Wie sie alle versuchen, ihre Leser mit dieser unfassbare Dimension einzufangen, und dabei letztlich offenbaren, dass sie dieselbe selbst gar nicht erfassen können oder wollen, es ablehnen.
In Stuttgart lief vor einiger Zeit eine Ausstellung zum Thema, die nichts als die schiere Ahnungslosigkeit offenbarte, und dessen folgsame Rezension in der Stuttgarter Zeitung ich dem Leser in einem Auszug nicht vorenthalten möchte:
„Wenn unsere Nachfahren einmal unsere kurze Strecke des Erdzeitalters benennen wollen, werden sie an der epochalen, bahnbrechenden Erfindung der Kernspaltung nicht vorbei können. Aber bis wann werden nachfolgende Generationen unsere Botschaften und Hinweise auf die gefährliche Hinterlassenschaft entziffern? Wird es ausreichen, steinerne Stelen aufzustellen? Oder werden diese von den neuen Eiszeitgletschern zermalmt werden? Wird man die Sprache noch verstehen, die Symbole für den Tod noch deuten, das Zeichen für Radioaktivität dechiffrieren können? Viele Zeugnisse der Vergangenheit sind für immer verloren oder bleiben unverstanden. Die Bibliothek von Alexandria verbrannte, Tacitus’ Annalen sind nur in einer einzigen Handschrift überliefert, Ciceros Staatsschrift De re publica wurde 1820 zufällig als Palimpsest entdeckt.“
Heiliger Bimbam, sage ich da nur.
Den Atommüll verstecken, auch noch eine Million Jahre, von Gesteinsschichten abgedeckt, womöglich unzugänglich? Nach jahrelangen Streitereien zwischen allen infrage kommenden Regionen der Republik? Nein. Besser wäre es in jedem Fall, ihn dort zu lassen, wo er ist. Wo es geht, dies vielleicht einen Stock tiefer, wenn es die Menschen vor Ort beruhigt. Bis man ihn in größerem Maßstab als heute schon verwerten kann. Nicht die „Millionen Jahre“ sind entscheidend, sondern die Rückholbarkeit, und zwar schon bald.
Vor allem aber: Endlich mal aufhören, uns im Hier und Jetzt, die Menschen im 20. und 21. Jahrhundert, und besonders die im Jahre 2020, als eine so ganz besonders herausragende Spezies herauszustellen, im Guten wie im Schlechten. Wir sind nicht so außerordentlich im Laufe der Jahrmilliarden der Erdgeschichte. Auch wenn so mancher auf den „Millionen Jahren“ sein Süppchen wärmen oder sein Mütchen kühlen mag.