Von Madlen Vartian.
„Die Türkei wird mit allen Mitteln und mit vollem Herzen ihrem Bruder Aserbaidschan beistehen“, verkündete der Staatspräsident der Türkei nur wenige Stunden nach Beginn der Militäroffensive Aserbaidschans gegen die international nicht anerkannte Republik Arzach, wie die Region Berg-Karabach auf Armenisch genannt wird, am frühen Abend des 27.09.2020.
Tage später erklärte Erdogan, dass „Armenien für die Region die größte Bedrohung für den Frieden darstellt“ und warnte „diejenigen, die diesen Banditenstaat unterstützen", würden "vor dem Gewissen der Menschheit zur Rechenschaft gezogen werden“. Unter tosendem Beifall der Abgeordneten des türkischen Parlaments fügte er noch die bedeutungsschwere Formel hinzu: „Wir" – Türkei und Asebaidschan – "sind zwei Staaten, aber eine Nation. Das nicht nur in Worten, sondern auch in Taten“.
Stepanakert steht unter Dauerbeschuss
Seit dem 27.09.2020 herrscht Krieg zwischen Armenien und der international nicht anerkannten Republik Arzach (Berg-Karabach) auf der einen und Aserbaidschan auf der anderen Seite. Es handelt sich um die schwerste militärische Aggression, die von Aserbaidschan seit Beginn des Kriegszustands Ende der 1980er Jahre gegen die Armenier Arzachs ausgegangen ist.
Stepanakert, die Hauptstadt der Republik Arzach (Berg-Karabach), steht seit dem 02.10.2020 unter Dauerbeschuss. Die Einwohner harren mit ihren Kindern in den unterirdischen Bunkern aus; wer die Möglichkeit hat, flüchtet nach Armenien. Die Stromversorgung ist längst unterbrochen.
Gezielt beschießt Aserbaidschan zivile Einrichtungen und zerstört die zivile Infrastruktur, wobei auch die international geächteten Cluster-Bomben zum Einsatz kommen. Bis zu 2.300 Tote wurden auf armenischer Seite in den ersten 7 Tagen des Krieges gezählt. Von Tag zu Tag kommen weitere Todeszahlen hinzu. Die Armenier sitzen in der Falle und hoffen auf Beistand.
Die Nachbarn unternehmen nichts
Es scheint aber, als seien sie erneut auf sich allein gestellt, denn weder der vielbeschworene „große Bruder“ Russland schreitet ein, noch ist mit Beistand der beiden Nachbarn – Georgien und Iran – zu rechnen. Georgien im Norden hat die Grenzen zu Armenien bereits zu Beginn des Krieges auf türkische Initiative hin geschlossen. Der Iran im Süden hat sich bisher lediglich als „Mediator“ angeboten.
Im Westen des Landes werden die Armenier von der Türkei und im Osten von Aserbaidschan eingeschlossen. Die Türkei hält die Grenzen seit der Unabhängigkeit Armeniens wegen der Forderung nach der Anerkennung des Genozids durch die Türken in 1915 geschlossen. Aserbaidschan führt – ermutigt durch die Türkei und ihren Präsidenten Erdogan – den Angriffskrieg gegen Arzach mit aller Entschlossenheit fort und droht täglich, Jerewan, die Hauptstadt Armeniens, zu zerstören.
Die Armenier stehen mit dem Rücken zur Wand gegen eine türkisch-aserische Übermacht. Armeniens Einwohnerzahl und die der Republik Arzach beträgt zusammen gerade einmal 3 Mio. Die Militärausgaben für Waffen und Kriegsgerätschaften lagen für den Zeitraum 2009 bis 2018 bei insgesamt 4 Mrd. US-Dollar.
Dem stehen 10 Mio. Einwohner und 24 Mrd. US-Dollar Ausgaben Aserbaidschans für denselben Zeitraum gegenüber, was sich am Einsatz modernster Drohnensysteme und Raketen mit erheblicher Zerstörungskraft gegen armenische Ortschaften in der Region Arzach deutlich zeigt.
Türkei liefert die Waffen
Aserbaidschan liegt am Kaspischen Meer und konnte aufgrund seines Ölreichtums und einer aggressiven Öl-Politik politische Instrumente etablieren, um andere Staaten in seine Abhängigkeit zu bringen und mittels Drohungen und Erpressungen seine überwiegend gegen Armenien gerichteten Interessen durchzusetzen.
Als würde diese Überlegenheit Aserbaidschans nicht Grund genug zur Sorge sein, wird Aserbaidschan zusätzlich von der Türkei personell und mit modernsten Waffensystemen unterstützt.
Die Geschichte wiederholt sich, wie der Tweet des Chefredakteurs der AKP-Nahen Zeitung „Yeni Safak“ vom 27.09.2020 zeigt. „In das Zentrum Jerewans sollten Raketen hageln. Nach 100 Jahren sollten wir erneut die Islamische Kaukasus Armee (Kafkas Islam Ordusu) wiederaufleben lassen.“
Was damit gemeint ist, erklärt ein Blick in die Geschichte. Nach dem Genozid an den Armeniern durch die osmanische Türkei 1915 gründete der Drahtzieher des Völkermordes, Enver Pascha, im März 1918 die Islamische Kaukasus Armee.
Ein Reich für alle Türken
Ihre Mission sollte darin bestehen, die im Kaukasus lebenden Armenier vollständig zu vernichten und den pantürkischen Traum zu realisieren. Der Panturkismus bzw. Turanismus war die staatstragende Vision der im Westen als „Jungtürken“ bezeichneten Mitglieder der Partei „Einheit und Fortschritt“, welche die Gründung eines rassisch homogenen groß-türkischen Reiches anstrebten, das vom Bosporus bis in die Mongolei reichen und alle Turkstaaten umfassen sollte, kurz: Turan.
Der Realisierung dieses rassisch homogenen Gebildes stand allerdings sowohl im anatolischen Kernland als auch im Kaukasus eine einzige Volksgruppe im Weg: Armenier, die Christen waren und bereits seit biblischen Zeiten in den „Armenian Highlands“ und dem Südkaukasus lebten.
Die Armenier im Südkaukasus auf dem Gebiet der heutigen Republik Armenien und der Republik Arzach nahmen die Überlebenden des Genozids auf und gründeten die erste Demokratische Republik Armenien. Noch 1921 waren 94% der Bevölkerung Arzachs (Berg-Karabach) Armenier.
Mit der Machtübernahme der Bolschewiken entschied daher das Kaukasusbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei am 4.7.1921, dass Arzach (Berg-Karabach) unter Beibehaltung seines Autonomiestatus an die Republik Armenien angeschlossen werden sollte.
Stalin greift ein
Doch bereits am 5.7.1921 intervenierte Josef Stalin höchstpersönlich, um Arzach als Autonome Region Aserbaidschan zuzusprechen.
Aserbaidschaner siedelten sich auch in den folgenden Jahrzehnten in der Region kaum an, und wenn doch, erfolgte dies auf Direktive der SSR-Aserbaidschan. So stellten die Armenier im Jahr 1988 noch immer die Mehrheit der Einwohner mit etwa 80% (145.000) gegenüber 20% Azeris (35.000).
Im Zuge der Perestroika Ende der 1980er flammten die Ideen des Turanismus in Aserbaidschan allerdings erneut auf.
Im Februar 1988 verübten bewaffnete aserische Schlägertruppen ein Massaker an der armenischen Bevölkerung der aserbaidschanischen Stadt Sumgait am Kaspischen Meer. Der aufgestachelte aserische Mob drang sogar in ein armenisches Krankenhaus ein und ermordete die Neugeborenen.
Die Armenier, die jahrhundertelang die tragende Oberschicht in den Hauptstädten des Kaukasus Baku, Jerewan und Tiflis bildeten, wurden – da sie der Etablierung eines homogenen aserischen Nationalstaates im Wege standen – durch Pogrome und Anschläge in Aserbaidschan erneut dezimiert.
Nie wieder!
Sumgait und Baku waren jedoch lediglich der Auftakt zu einer im Vorfeld geplanten großangelegten Vernichtungsaktion gegen die Armenier der Region Arzach (Berg-Karabach) gewesen. Ziel der aserbaidschanische Regierung war es, das ca. zu 80% von Armeniern bewohnte Gebiet ethnisch zu säubern. Als die Panzer nach Karabach rollten und irreguläre Truppen die Städte zu überfallen begannen, formierten sich die Armenier Arzachs (Berg-Karabach) zum Widerstand und besiegten die aserischen Aggressoren. „Nie wieder werden wir einen erneuten Genozid am armenischen Volk zulassen“, hatte der Berater des damaligen armenischen Präsidenten, Gerard J. Libaridian, verkündet.
Am 2.9.1991 verkündete dann die Republik Arzach (Berg-Karabach) ihre Unabhängigkeit.
Aserbaidschan erklärte seine Unabhängigkeit erst am 18.10.1991. Insoweit war Arzach nie ein Teil Aserbaidschans, sondern hat sich im Einklang mit der Verfassung der Sowjetunion im Zuge der Perestroika für unabhängig erklärt und den Anspruch auf Souveränität gegenüber Aserbaidschan im Krieg behauptet.
Es ist daher längst überfällig, die Republik Arzach (Berg-Karabach) international anzuerkennen.
Die Aseris wollen diese Realität nicht anerkennen und berufen sich ausschließlich darauf, dass doch Stalin persönlich das Gebiet Arzach (Berg-Karabach) ihnen zugesprochen habe. Damals wie heute setzen Türkei und Aserbaidschan auf die Vernichtung der Armenier im Kaukasus. Die Türkei liefert hochentwickelte Waffen aus dem NATO-Arsenal, entsendet Kampfeinheiten und heuert syrische Islamisten an, um den Aseris im Angriffskrieg gegen die Armenier beizustehen.
BBC, The Guardian, Reuters und CNN führten Interviews mit syrischen Islamisten im Konfliktgebiet und berichten, was auch ausländische Geheimdienste bestätigen, dass über 1.000 syrische Islamisten der Terrororganisationen Jabhat al-Nusra, Firqat Al-Hamza und Sultan Murad Division sowie extremistische kurdische Gruppen von der Türkei nach Aserbaidschan zum Krieg nach Arzach (Berg-Karabach) geschickt wurden.
Die Armenier stehen erneut vor der Gefahr, Opfer eines Völkermordes durch die gleichen Täter zu werden. Daran ändert auch die am Wochenende unter russischer Vermittlung ausgehandelte Waffenruhe zwischen Aserbaidschan und Armenien nichts. Für Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev ist die Feuerpause eine „letzte Chance auf eine friedliche Lösung". Der Konflikt solle jedoch zuerst militärisch beendet werden. Erst später könne man über eine dauerhafte politische Lösung sprechen. Armenien müsse Bergkarabach aufgeben.
Madlen Vartian ist Rechtsanwältin mit armenischen Wurzeln. Sie lebt und arbeitet in Köln.