Gastautor / 18.11.2014 / 07:00 / 0 / Seite ausdrucken

Der Rangverlust der technischen Daseinsvorsorge: Zur Krise der Infrastruktur (Teil III)

Von Gerd Held


Wenn hierzulande eine Misere der Infrastruktur eingerissen ist, sind offenbar nicht nur einzelne Fehlsteuerungen im Spiel. Die Misere betrifft die ganze Breite technischer, rechtlicher und finanzieller Aufgaben und sie hat sich über Jahrzehnte aufgebaut. Daraus kann man folgern, dass etwas mit den Problemwahrnehmungen und Zukunftserwartungen in Deutschland – und in anderen hochentwickelten Ländern – nicht stimmt. Politik und Öffentlichkeit haben eher andere Themen auf dem Schirm. Verbreitet ist die Vorstellung, in Zukunft würden sich Wirtschaft, Ausbildungsgänge und Lebensformen immer weiter „dematerialisieren“ - Straßen und Brücken sind bekanntlich ein sehr materielles Thema.

Doch das Problem reicht noch tiefer, es betrifft überhaupt die Mitte des Landes, in der Infrastrukturen angesiedelt sind. Wer die Themen und Werte der Gegenwart Revue passieren lässt, stellt fest, dass sie in zwei völlig getrennten Horizonten liegen: Entweder im Horizont „Mensch“, dem es besser gehen soll und um den sich alles drehen soll. Oder im Horizont „Natur“, die bei allen Problemlösungen inzwischen als letzte Instanz gilt. Während diese beiden Pole hohe Aufmerksamkeit finden, wird die Aufgabe, zwischen beiden Seiten zu vermitteln, entwertet. Unternehmen, Haushalte und staatliche Einrichtungen, die sich ohne diese tägliche Vermittlungsarbeit gar nicht behaupten können, müssen immer Abstriche von der Höhe des Menschenglücks und der Reinheit der Natur machen. Deshalb ist es leicht, ihnen abwechselnd einen sozialen („roten“) und ökologischen („grünen“) Prozess zu machen.

So bilden die Obsessionsthemen der Gegenwart, wie der Klimawandel oder die soziale Spaltung, einen realitäts- und handlungsfernen Dualismus. Auch das Abenteuer der Energiewende und die nicht weniger abenteuerlichen sozialen Versorgungszusagen sind eingegangen worden, ohne beide Seiten auch nur ansatzweise zusammenzurechnen. Auch in der Programmatik der großen Volksparteien ist das Ping-Pong von „möglichst viel Mensch“ und „möglichst viel Natur“ auf dem Vormarsch. So gerät die sachliche Mitte des Landes, in der seine praktischen Hebel liegen und seine realen Möglichkeiten bestimmt werden müssen, aus dem Blick. Die Rechtfertigung von Härten, die mit Infrastrukturen verbunden sind, fällt ebenso schwer wie die Rechtfertigung von Rücklagen für langfristige Investitionen. Die Infrastrukturkrise ist auch eine Legitimationskrise. Sie zeigt einen grundlegenden Aufstellungsfehler von Staat und Öffentlichkeit.

Vor diesem Hintergrund ist der offene Ausbruch der bisher schleichenden Infrastrukturkrise erfreulich. Allerdings wird sie gegenwärtig unter dem Stichwort der „Lücke“ adressiert. Eine „Investitionslücke“, wie sie Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung diagnostiziert, soll durch zusätzliche Geldaufwendungen geschlossen werden. Der genannte Betrag ist riesig (200 Milliarden Euro), aber das Denkschema ist recht schlicht: Etwas wurde unterlassen und nun muss etwas getan werden. Zum diesem Denkschema passt, dass man hier leicht keynsianistische Konjunkturprogramme und Vorwürfe gegen das Sparen in der Schuldenkrise anschließen kann.

Doch das Grundproblem der Infrastrukturkrise ist nicht eine Lücke, sondern eine Verdrängung. Hinreichend Geld für Investitionen ist längst in die öffentlichen Kassen geflossen – es wurde und wird für andere Dinge ausgegeben. Würde von den Steuermitteln, die im Straßenverkehr generiert werden, ein etwas höherer Anteil für dortige Investitionsaufgaben verwendet, wäre das Sanierungsproblem nachhaltig zu lösen. Doch hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine Strukturverschiebung zu Gunsten der Sozialausgaben gegeben. Das relative Gewicht des Infrastrukturbudgets im Gesamthaushalt sank. Teilweise kam es zu direkten Transferbeziehungen – wie bei der 1999 eingeführten „Ökosteuer“ auf Energieverbrauch, die ausdrücklich als Zusatzfinanzierung von Renten eingesetzt wurde („Rasen für die Rente“ hieß es damals im Volksmund). Die damalige rotgrüne Koalition dachte nicht im Traum daran, dies Geld für Straßen und Brücken einzusetzen. Diese Steuer – sie besteht weiter und erbringt circa 18 Milliarden Euro im Jahr – zeigt exemplarisch den Vorgang der Verdrängung, der zur Krise der Infrastrukturen geführt hat. Der Sozial- und Umweltstaat frisst den Infrastrukturstaat.

Nun gibt es Stimmen, die darauf verweisen, dass die aktuellen Probleme leicht als Vorwand genutzt werden können, um neue Zusatzsteuern oder neue Nutzungsgebühren (ohne Steuerausgleich) einzuführen. Sie raten dazu, das Thema der Infrastrukturen nicht zu hoch zu hängen – es könnte allzu leicht auf ein falsches Gleis geraten. Die Sorge ist berechtigt. Und doch führt sie hier in die Irre. Die Krise ist zu ernst. In ihr kommen Grundströmungen zum Ausdruck, die Wirtschaft und Staat in Deutschland in der Substanz bedrohen.

Der schleichende Verfall der Infrastruktur ist auch nicht ein Problem „neben“ der Schuldenkrise. Er ist Teil der Schuldenkrise. Denn die verschobene Sanierung bedeutet, dass die Substanzverluste bei Brücken und Straßen nicht in den öffentlichen Haushalten auftauchen und diese über eine Finanzmasse verfügen können, die eigentlich schon gebunden ist – bis die Schäden so groß sind, dass eine Brücke ihren Dienst versagt und deutlich wird, dass hier materielle Schulden gemacht wurden, die letztlich doch beglichen werden müssen. Man kann der Auseinandersetzung mit dieser versteckten Seite der Schuldenkrise nicht ausweichen und sollte sie jetzt nicht – auf welche Zeiten? – verschieben.

Es gibt eine Reihe bedenkenswerter Einzelvorschläge. Dazu gehört die Idee, die Bedeutung der Infrastruktur in die Verfassung zu schreiben und damit einen einklagbaren Sachverhalt zu schaffen, wie es Stefan Ruppert und Dieter Posch in der FAZ vom 7.8.2014 vorgeschlagen haben. Ebenso gibt es den Vorschlag, die Investitionsmittel in einem Sonderfonds „Infrastruktur“ auszulagern und damit zu verhindern, dass eingeplante Mittel unter dem Druck von Sozialkampagnen zweckentfremdet werden. Ein sehr berechtigtes Anliegen. Doch gibt es inzwischen die Erfahrung, dass die Autonomie solcher Einrichtungen in größeren Krisen dem politischen Druck nicht standhält.

Es führt also kein Weg daran vorbei: Die Infrastrukturkrise muss in den zentralen Instanzen von Legislative und Exekutive ausgetragen werden. Die Durchsetzung anderer Prioritäten in den öffentlichen Haushalten kann nicht unterhalb der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin und des Haushaltsrechts des Bundestages erreicht werden. Auch für die rechtlichen Änderungen, die den Bau und den Betrieb von Infrastrukturen vor überhöhten Umweltauflagen und vor Streikblockaden schützen, braucht man parlamentarische Mehrheiten. Dazu gehört auch, dass die technischen Eliten, über die das Industrieland Deutschland glücklicherweise in beträchtlicher Zahl verfügt, sich wieder stärker in politische Grundentscheidungen einschalten.

(Dr. Gerd Held ist Privatdozent am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin)

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