Judas hat Jesus verraten. Dennoch gab es auch „danach“ selbst in der frühchristlichen Gemeinschaft den einen oder anderen Judas. Der Name war offenbar nicht gänzlich stigmatisiert, zumindest nicht im judenchristlichen Milieu, dem beispielsweise der Judasbrief zuzurechnen ist. Klaus Berger datiert ihn „um 75 nach Christus“. (1) Auch rund ein Jahrhundert später war der Name unter Frühchristen immer noch nicht tabuisiert, was das 2006 „neugefundene“ Judas-Evangelium aus dem „späten 2. Jahrhundert nach Christus“ beweist. (2) Mehr noch: In diesem Text ist Judas „der Lieblingsjünger Jesu“, was der „krönende Abschluss, die Spitze der Karriereleiter im theologischen Ansehen Judas’“ wäre, „das sich in den vergangenen fünfzig Jahren kontinuierlich gebessert hat“. (3) Die Ein- und Zuordnung des Judas-Evangeliums ist nicht unser Thema, die heilsgeschichtlich normative Rehabilitierung, geradezu Nobilitierung des Judas ist es. So beginnt das „Evangelium nach Judas Iskariot“: „Die geheimen Worte der Offenbarung, die Jesus während einer Woche, drei Tage bevor er das Passah-Fest feierte, zu Judas Iskariot sprach.“ Die Gemüter der Jünger „waren zu schwach“, sich Jesus entgegenzustellen, außer dem des Judas Iskariot. (4)
Wir lernen, dass auch unter (Früh-)Christen dieser Name keineswegs höllisch vermieden, sondern geradezu himmlisch, heilsgeschichtlich er- oder gar überhöht wurde, denn – theologisch „wasserdicht“ – ohne Judas’ Verrat keine Kreuzigung und ohne Kreuzigung keine Auferstehung und letztlich kein Jesus als Christus.
So bedeutungsvoll einige der späteren Jehudas/Judas, sie alle stehen im Schatten der beiden sozusagen Ur-Namensträger, Jakobs Sohn und dem Jesus-Verräter. Dabei tut man dem einen oder anderen der späteren Judas/Jehudas grobes Unrecht. Dem Patriarchen Rabbi Jehuda Hanassi (ca. 165–217 nach Christus) zum Beispiel. Dieser tanaitische Rabbiner stammte aus dem Hause Davids, und er war ein Nachfahre Rabbi Hillels, der wiederum der eigentliche Lehrmeister Jesu war. Rabbi Jehuda Hanassi – hanassi = der Prinz oder Präsident – wird im Talmud seiner Autorität wegen oft nur „Rabbi“ genannt, ohne jeden Zusatz, denn „Raw“, Rabbiner, das ist eben er. Um das Jahr 200 nach Christus hat er den ersten Teil des Talmud kodifiziert, die Mischna. Nicht nur bei Juden genoss er als geistig-geistliches Oberhaupt der Juden Palästinas höchstes Ansehen, sondern auch beim römischen Kaiser.
Vor und nach Rabbi Jehuda Hanassi gab es eine Handvoll anderer Rabbis gleichen Namens, unter den Tanaiten der Mischna und den Amoräern der Gemara, also des zweiten Talmudteiles. Keiner wirkte so nachhaltig wie „Rabbi“.
Judas symbolisiert jüdischen Nationalismus
Bedeutende Judas/Jehudas finden wir auch im Mittelalter sowie in der Neuzeit. Wieder gilt: Bei aller Bedeutung, welthistorisch wuchtig wie Jakobs Sohn und der Jesus-Verräter war keiner. Selbst nicht der spanisch-jüdische Arzt und „Dichterfürst“ Jehuda Halevi. Er wurde 1075 im spanischen Tudela geboren und starb 1141 auf mysteriöse Weise auf dem Weg ins Heilige Land, wohl in Ägypten.
Christen nannten und nennen ihre Kinder traditionell nicht selten „Christian“, „Christoph“, „Christa“, „Christiane“ oder so ähnlich. Nannten und nennen Juden vergleichbar stetig ihre Nachkommen Judas, Jehuda, Jehudia (= Jüdin), Jehudith oder Judith?
So viele Judas oder Jehudas wie bei Christen Christian und Christian-Derivate findet man bei Juden nicht, weder auf der historischen Ebene der Einzelpersonen seit Judas Makkabäus oder Judas Iskariot noch in der empirisch-repräsentativen Historischen Demoskopie. Das gilt nachweisbar von 1860 bis 1938 sowie von 1945 bis heute fürs deutsche und von 1882 bis zur Gegenwart fürs zionistisch-israelische Judentum. (5)
Bemerkenswert und kennzeichnend für die „klassisch-jüdische“ Identifizierung der vorstaatlichen und staatlichen Gemeinschaft in „Zion“/„Palästina“/Israel ist der zeitliche Verlauf. Von 1882 bis 1919 erhielten zwischen 60 und 70 Prozent aller neugeborenen Jungen Vornamen dieser Kategorie, die sich eindeutig mit dem wie auch immer subjektiv empfundenen, verstandenen „jüdischen Erbe“ identifizierte. Von 1919 bis 1944 ging der Anteil zurück: 65 Prozent bis 42 Prozent. Nach Holocaust und Staatsgründung Israels stieg die Hinwendung zum Jüdischen an sich in den Jahren 1945 bis 1950. 1951 bis 1969 – dramatischer Rückgang, 50 Prozent bis 22 Prozent. Danach, bis 1980, ein weiterer Rückgang auf Werte zwischen 20 Prozent und zehn Prozent. (6)
Jehuda/Judas symbolisiert seit jeher jüdisch-zionistisch-israelischen Nationalismus. Auch der ist „nicht mehr, was er war.“
Nicht wirklich „in“, sondern eher „out“
Mit „Judas“ gingen und gehen erst recht Diaspora-Juden sparsamer um als Christen mit „Christian“. Von 1860 bis 1938 fand man unter den bei deutschen Juden zehn beliebtesten männlichen Vornamen auf den Plätzen eins bis drei Max, Julius und Her(r)mann. Siegfried landete zu dieser Zeit, verglichen mit nichtjüdischen Deutschen, bei Juden erheblich weiter vorne, nämlich auf Platz sieben. Nur einen jüdischen Namen gab es damals unter den ersten zehn: Jakob/Jacob auf Platz neun.
Auch nach dem Holocaust, in den Jahren 1945 bis 1999, kein Judas/Jehuda weit und breit. Auf Platz eins David, gefolgt von Daniel und Michael, Benjamin, Samuel, Rafael, Mark, Jonathan und Simon. Auf Platz fünf – altneu-hellenistisch, wie in der Ära kurz nach Judas Makkabäus – Alexander.
Und ewig dreht sich das Rad der Geschichte? Mag sein, doch diesen geschichtstheoretischen Diskurs führen wir hier nicht. Wir stellen nur fest: Judas/Jehuda ist in der israelischen und diaspora-jüdischen Welt als nationales Symbol nicht wirklich „in“, sondern eher „out“. Wer sich in der jüdischen Welt oder in Israel mit klassisch Jüdischem nicht identifiziert, identifiziert sich auch nicht mit Judas/Jehuda. Jehuda ist von historischem und symbolischem Interesse. „Vom Winde verweht“ – doch nicht vergessen.
Dies ist ein Auszug aus Michael Wolffsohns neuestem Buch „Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“, 2020, Herder-Verlag, hier bestellbar.
Dies ist der letzte Teil einer fünfteiligen Serie.
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Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst und ist publizistisch und als vielbeachteter Vortragsredner tätig. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, der Deutsche Hochschulverband kürte Michael Wolffsohn 2017 zum Hochschullehrer des Jahres; 2018 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.
Anmerkungen:
(1) Klaus Berger in der Einleitung zum Judasbrief, in: Das Neue Testament, S. 682.
(2) Klaus Berger, Die Welt, 12.4.2006, S. 29; vgl. hierzu grundsätzlich Elaine Pagels und
Karen L. King: Das Evangelium des Verräters. Judas und der Kampf um das wahre Christentum, München 2008.
(3) Ebd.
(4) Ebd.
(5) Sasha Weitman: Prenoms et orientations nationales en Israel, 1882–1980, in: Annales
42 (1987), S. 879–900.
(6) Ebd., S, 884, Grafik S. 888.