Wandel in Kontinuität, in jüdischer Kontinuität, das ist ein weiteres Leitmotiv der Bergpredigt: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen … Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.“ (Mt 5,17 f.)
Was will Jesus hiermit – jenseits des Spirituellen – sagen? Doch dies: Ich stehe ohne Wenn und Aber in der jüdischen Tradition. Obwohl, ja gerade weil ich in dieser Tradition stehe, predige ich, anders als die jüdischen Rebellen, Gewaltlosigkeit. Weil ich in der Tradition der Propheten stehe, zum Beispiel des Propheten Jeremias, empfehle ich, wie er angesichts der Babylonischen Gefahr, nicht Kampf und den vorhersehbaren Untergang, sondern das Niederlegen der Waffen und das Leben beziehungsweise Überleben.
Jesus und seine Zuhörer wussten, dass auch der Prophet Jeremias in seiner Stadt nichts galt (Hebräisch: ejn Navi beiro). Sie wussten, dass die Zerstörung des Ersten Tempels (586 vor Christus) und die Verschleppung ins Zweitstromland, das (damals) Erste Exil, folgten. Jeremias 21,8–9: „So spricht der Herr: Seht, den Weg des Lebens und den Weg des Todes stelle ich euch zur Wahl. Wer in dieser Stadt bleibt, der stirbt durch Schwert, Hunger und Pest. Wer aber hinausgeht und sich den Chaldäern, die euch belagern, ergibt, der wird überleben und sein Leben wie ein Beutestück gewinnen.“ Direkt ist der Weg von Jeremias zu Jesus.
Aus der Defensive in die Offensive
Was Jesus als Mensch ahnen konnte und als „Gottes Sohn“ wissen musste: Rom war mindestens so mächtig wie einst Babylon, die Säulenhallen des Tempels hatten bereits einige Jahre zuvor gebrannt (Flavius Josephus), der Zweite Tempel war durch den jüdischen Guerillakrieg insgesamt gefährdet, und ein neues, diesmal römisch-europäisches Exil drohte.
Es half wenig. Jesus und seine Anhänger wurden nicht nur vom jüdischen Stadt-„Bürgertum“ (Schriftgelehrte und Pharisäer) und der Priester-„Aristokratie“ bekämpft, sondern natürlich auch von den jüdischen Guerillaführern. War Judas Iskariot ihr „V-Mann“ bei den Jesus-„Appeasern“?
In der Berg- beziehungsweise Feldpredigt dreht Jesus den Spieß um (Mt 55,11 f.): „Selig seid ihr, wenn die anderen euch beschimpfen, verfolgen und verleumden, weil ihr zu mir gehört. Freut euch und jubelt, denn im Himmel werdet ihr reich entschädigt. Die Propheten vor euch wurden genauso verfolgt.“ Und die Propheten wurden später auch „auf Erden“ rehabilitiert. Siehe oben.
Aus der Defensive geht Jesus in die Offensive über, vor allem gegen die jüdischen Guerillakämpfer, die meinen, mit Gewalt siegen zu können. Jesus drängt sie nicht nur tagespolitisch in die Verteidigung, sondern grundsätzlich, ethisch (Mt 5,21 ff.): „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.“ In Lukas 6,37 bezieht sich Jesus weniger auf das Gericht als Institution, er warnt Menschen – ob Richter oder nicht – grundsätzlich davor, andere Menschen zu richten: „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden.“
„Gerechtes Gericht“ statt Selbst-Justiz
Betrachten wir auch diesen Abschnitt aus dem real-, militär- und jüdisch-historischen Zusammenhang. Zunächst: „Du sollst nicht töten. (Einheitsübersetzung, Klaus Berger und unzählige andere) ist schlicht falsch. Im hebräischen Original heißt es: „Du sollst nicht morden“ („Al tirzach“).
Weiter: „Wer jemanden mordet, soll dem Gericht verfallen sein.“ Was Jesus und alle seine Zuhörer wussten und jeder weiß, der das Kleine Einmaleins des Guerillakrieges kennt: Wer mit dem Feind „zusammenarbeitet“, sogenannte „Kollaborateure“, wird von den Extremisten seines Volkes, den Guerillakämpfern, ermordet. Das war so zu Jesu Zeiten, das war so zu Zeiten der Ersten und Zweiten Palästinenser-Intifada, das wird bei jedem Guerillakrieg so sein, denn im Krieg sorgen die Kriegsherren für eiserne Disziplin; notfalls mit Gewalt auch gegen die „eigenen Landsleute“.
Genau dieser Guerilla-Selbstjustiz widersetzt sich Jesus. Er verlangt ausdrücklich ordentliche Gerichtsverfahren. Anders kann man diese Passage nicht interpretieren. Und auch hier ist die Tradition von Jeremias zu Jesus ungebrochen. Jeremias 21,12: „So spricht der Herr: Haltet jeden Morgen gerechtes Gericht.“ „Gerechtes Gericht“, nicht Selbst- oder Unrechts-Justiz, Leitmotive der alttestamentlichen Propheten-Texte.
Wer sich bei der Bekämpfung der tatsächlichen oder vermeintlichen Kollaborateure auf Gott bezieht, wird von Jesus klipp und klar seinerseits als Gotteslästerer bezeichnet und ist der „Hölle verfallen“. Jesus fordert eine ordentliche Justiz in dieser Welt und droht mit, jawohl, Gottes Rache, denn wer der Hölle verfallen ist, wurde – religiös interpretiert – von Gott verworfen; mag er sich noch so sehr auf Gott berufen.
Von der zeitgebundenen Interpretation führt diese Perspektive wieder zu Jesu „ewiger“ Botschaft beziehungsweise Ethik. Nebenbei: Man kann sie mühelos auf alle fanatischen Gotteskrieger anwenden, damals die jüdischen, später die christlichen (Kreuzritter zum Beispiel) und heute die Islamisten beziehungsweise Djihadisten.
„Versöhne dich mit deinem Bruder“, sagt Jesus unmittelbar danach (Mt 5,24). Kann es einen noch deutlicheren Aufruf zur Beendigung des jüdischen Bruderkrieges als Teil des antirömischen Guerillakrieges geben, dem der Appell zum Friedensschluss konkret-historisch mit Rom (und wieder grundsätzlich, zeitlos, ewigethisch) und dann auch mit jedem Gegner folgt? „Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner.“ Jesus verlängert die Aussage – und verkürzt damit den Zeithorizont auf die unmittelbare Gegenwart: „Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist.“ Wir erkennen wieder Jesu Muster, er verbindet das Prinzipielle mit dem Pragmatischen. Beides enthält seine Predigt. Man verkürze sie nicht auf das eine oder andere. Jesus ist gegen die Fememorde im jüdischen Bruder- und Guerillakrieg seiner Zeit, und er wendet sich gegen jedes Morden.
Jesus dachte strategisch
Die ethische Steigerung der Berg- beziehungsweise Feldpredigt, Matthäus 5,38 f.: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“
Leistet keinen Widerstand, klarer konnte er es nicht sagen. Hier, in Galiläa, der Hochburg des antirömischen Widerstands, theoretisierte Jesus nicht über „Widerstand“, sondern widersetzte sich direkt dem Willen zum gewaltsamen Widerstand. Gewaltlosigkeit hielt er für die langfristig wirksamere Strategie. Und, ja, Jesus dachte strategisch – wie (erheblich später) Mahatma Gandhi, bei dem Gewaltlosigkeit auch nicht als Schwäche, sondern Stärke und Vermeidung kollektiven Selbstmords gedacht war. Dass die jüdischen Guerillas diesen, aus ihrer Sicht zersetzenden, Geist beobachten oder gar „beseitigen“ wollten, überrascht nicht.
Nach dem „Wangen-Wort“ setzt Jesus den ethischen Höhepunkt, Matthäus 5,43 f.: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.“
Schließlich Mt 5,46–48: „Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.“
Relativierung der Gottessohnschaft
Diese prinzipiell-ewig-ethisch-religiösen Leitsätze können, ja müssen zugleich auch pragmatisch-zeitbezogen erklärt werden. Zunächst: In der Hebräischen Bibel („Ihr habt gehört“) steht nicht: Du sollst „deinen Feind hassen“. Es steht sehr wohl (Levitikus 19, 18): „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Der in der Bergpredigt unterstellte Zusatz fehlt. Er mag der aufgeheizten innerjüdischen und jüdisch-römischen Situation (oder gar nur nachträglicher Polemik des Evangelisten?) geschuldet sein.
Wen wundert’s, dass in der damals so aufgewühlten Wirklichkeit „die Menge“ nicht nur religiös, sondern tagespolitisch, militärstrategisch „sehr betroffen von seiner Lehre“ war (Mt 7,28)? Außerdem lehrte er „sie wie einer, der göttliche Vollmacht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten“ (Mt 7,29), die mit den jüdischen Rebellen auch nicht fertig wurden und durchaus mit den Römern im Rahmen einer innerjüdischen Autonomie „kollaborierten“. Der Prozess gegen Jesus hat diese „Kollaboration“ dokumentiert, wobei eindeutig Rom das letzte Wort hatte.
Es bleibt: Wer die Bergpredigt nicht auch (gewiss nicht nur) als militärhistorisches Dokument erkennt, verkennt ihre physische und metaphysische Mehrbödigkeit. Diese Aussage „entweiht“ die Bergpredigt nicht, zumal sich Jesus hier – natürlich – als tiefgläubiger, ja urgläubiger Mensch zeigt. Mensch? Die „Gottessohnschaft“ findet sich eher am Rand der Bergpredigt. Nur einmal, in Matthäus 7,21 spricht Jesus von „meinem Vater“, sonst ist von „eurem himmlischen Vater“ (Mt 5,48 und 6,32), „eurem Vater im Himmel“ (Mt 6,1), „dein Vater“ (Mt 6,6) oder „unser Vater im Himmel“ (Mt 6,9 ff. und Mt 6,18) die Rede. Lukas 6,35: „… und ihr werdet Söhne des Höchsten sein“. Das ist eine dramatische Relativierung der eigenen Gottessohnschaft, denn hier erklärt Jesus nichts weniger, als dass jeder Mensch Gottes Sohn werden könne. Eigentlich erlaubt diese Aussage nur eine Interpretation: Die Gottessohnschaft, auch seine eigene, müsse eher symbolisch als wörtlich verstanden werden, wie im „Vater unser“, wo Gott unser aller Vater ist – oder wie im Jüdischen Gebet „Awinu Malkejnu“, „Unser Vater, unser König“.
Terrorismus ist eine gotteslästerliche „Selbstermächtigung“
Der Grundgedanke ist klar und einfach: Wie für jeden tiefreligiösen Menschen ist Geschichte für Jesus Heilsgeschichte, „Gottes Werk“. Gott denkt und lenkt – nicht der Mensch. Das ist wahrer Glaube, Urglaube – und zudem urpharisäisch. (1) Der menschlichen Nachhilfe bedarf Gott nicht. Im Gegenteil, wer als Mensch Gott sozusagen nachhilft, handelt gotteslästerlich. So gesehen, waren die jüdischen Guerillas Gotteslästerer, denn sie glaubten nicht stark genug an Gott – wenn Gott denn die Juden überhaupt von den Römern befreien wollte. Wollte er? Abgeleitet aus dem (un)heilsgeschichtlichen Blickwinkel der alttestamentlichen Propheten, in deren Tradition sich Jesus stellte und stand, wollte Gott nicht. Jedes die Menschen treffende Unheil ist „von Gott“, wie die Zerstörung des Ersten Tempels und das Babylonische Exil. Wenn Gott den Juden die Geißel Roms hätte ersparen wollen, hätte er der Nachhilfe jüdischer Rebellen nicht bedurft. Auch in diesen Zusammenhang gehört „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12,17).
Die von den Hohepriestern und Schriftgelehrten Jesus und den damaligen „Pazifisten“ unterstellte Gotteslästerung kehrte sich gegen sie selbst. Dieser Bogen lässt sich weit in die nachjesuanische Zeit, sogar bis in die Gegenwart, spannen: Die jüdische Extrem-Orthodoxie bekämpft seit dem späten 19. Jahrhundert den Zionismus als „Gotteslästerung“. Ihre Begründung: Wenn Gott das Exil beenden und neue jüdische Staatlichkeit errichten wolle, bedürfe er weder der Nachhilfe eines Theodor Herzl oder Ben-Gurion oder Begin oder Scharon oder, oder, oder.
Den heutigen Islamisten kann, muss man, im Rahmen ihres eigenen Glaubenssystems, ebenfalls Unglauben vorwerfen: Im Kampf gegen die „Ungläubigen“ (oder wen sie dafür halten und erklären) warten sie nicht auf Gottes Walten, sie halten sich lieber an sich selbst. Jedweder Terrorismus ist, religiös betrachtet, eine „Art Selbstermächtigung des Menschen“ (2) ohne Gott, im Namen Gottes und letztlich Gotteslästerung.
Dies ist ein Auszug aus Michael Wolffsohns neuestem Buch „Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“, 2020, Herder-Verlag, hier bestellbar.
Dies ist der vierte Teil einer fünfteiligen Serie.
Lesen Sie morgen: Vom Winde verweht – doch nicht vergessen.
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 2 finden Sie hier.
Teil 3 finden Sie hier.
Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst und ist publizistisch und als vielbeachteter Vortragsredner tätig. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, der Deutsche Hochschulverband kürte Michael Wolffsohn 2017 zum Hochschullehrer des Jahres; 2018 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.
Anmerkungen:
(1) Vgl. Peter Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, Tübingen 2010, S. 85, Josephus zitierend.
(2) Joseph Ratzinger: Europa in der Krise der Kulturen, in: Marcello Pera/Joseph Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der Europäischen Kultur, Augsburg 2005, S. 75. Den Hinweis auf und das Geschenk dieses Buches verdanke ich Friedrich Kardinal Wetter auf der Feier zu meinem 60. Geburtstag. Wie wir kann man feiernd, unverkrampft, angeregt und unaufgeregt, einander wertschätzend Brücken zwischen Christen und Juden schlagen.