Ein Aspekt der neutestamentlich biblischen Judas-Vielschichtigkeit blieb bislang weitestgehend verborgen: der nationaljüdische und militärgeschichtliche. Diesen wollen wir erörtern.
Der jüdisch-partikularistischen Welt stehen zwei universalistische gegenüber: die römische und jesuanische Welt. Wohlgemerkt jüdisch-jesuanische, denn der Konflikt zwischen Jesus und Judas Iskariot betraf wohl weniger die Person(en) oder die Theologie als die Politik, genauer: die Frage Widerstand und Krieg, als Guerilla-Krieg, gegen die römischen Besatzer oder, wenn nicht Annahme des Römischen, so doch dessen Hinnahme, denn weltliche Weltreiche kommen und gehen, während Gottes Reich bleibt. Diese Welt- und Heilssicht verkörperte Jesus, jene Judas Iskariot. In meinem Buch „Juden und Christen“ habe ich diese These ausführlich belegt, hier kann sie nur vorgelegt werden.
Galiläa, „Jesusland“, war spätestens seit Herodes’ Tod (4 nach Christus) die Hochburg der jüdischen Guerilla- und Terrorkrieger gegen Rom, Römer, jüdische Kollaborateure und Abwiegler. Flavius Josephus’ „Der Jüdische Krieg“ und seinen „Jüdischen Altertümern“ verdanken wir die besten Informationen. Von ihm wissen wir auch, dass die Priesterklasse den jüdischen Aufstand, später Krieg, zu verhindern suchte.
Lieber tot als Rom
Judas der Galiläer, „Jehuda haglili“, also nicht „unser“ neutestamentlicher Judas, hat hier, natürlich in Galiläa, um die Zeitenwende den bewaffneten Widerstand der „Zeloten“ (hebräisch „kanaim“) gegen die römische Besatzungsmacht eingeleitet. Auch seine Eltern, die Namensgeber, dürften nicht im assimilationistischen römisch-hellenistischen Milieu gelebt haben, sonst hätten sie ihn nicht „Jehuda“ genannt. Dieser Name war in dieser Zeit das nationale beziehungsweise nationalistische Personal-Signal schlechthin: wie Judas Makkabäus gegen die Götzendiener kämpfen. Und wie hießen seine Söhne? Wir kennen zwei: Jakob und Simon. Wir finden weitere Nachfahren dieses Judas im antirömischen Widerstand der Juden: Elasar Ben Jair und Menachem, den Sikarier.
Elasar Ben Jair führte die kleine Schar der Juden auf der Bergfestung Massada am Toten Meer. Lieber tot als Rom – so könnte man ihr kollektiv-selbstmörderisches Credo beschreiben. Was sie glaubten, taten sie: 73 nach Christus war Massada durch ihren Massen-Selbstmord blutrot. Wie des galiläischen Judas Nachkomme Elasar hielt auch der andere, Menachem, die nationale Fahne bis zum Untergang hoch. Er führt uns als „Sikarier“ auf die militärhistorische Judas-Iskariot-Spur.
Die Sikarier waren der noch militantere „Arm“ der ohnehin schon militanten Zeloten. Mit einem Dolch (lateinisch „sica“ der Dolch, „sicarius“ der Meuchelmörder) verübten sie ihre Attentate gegen Römer und meist wohlhabende jüdische „Kollaborateure“ oder wen sie für „Kollaborateure“ hielten. „Terror“ nennt man so etwas heute. Der Kampf der Sicarier und Zeloten war demnach sowohl nationaler Befreiungskampf als auch, von einem Nie-und-nimmer-Marxisten marxistisch formuliert, „Klassenkampf“.
Woher stammt Judas?
Judas Iskariot. „Iskariot“? War er, hebräisch, Jehuda-Judas „isch krijot“, also Judas, der Mann aus Krijot oder war Judas Iskariot ein Sikarier? Krijot, das war eine Region Judäas und das war der Name zweier Städte (besser Ortschaften) in Judäa. (1) Die anderen elf Apostel stammten aus Galiläa, Judas wäre demzufolge der einzige aus Judäa gewesen.
Vielleicht stammte Judas Isakariot doch nicht aus Judäa? „Judas Iskariot“ – Sikarier – Iskarijot. Sollte Judas ein Sikarier gewesen sein? Nein, sagen die meisten Althistoriker, denn die Sikarier traten als Gruppe erst in den 50er und 60er Jahren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts auf. Das wäre dann definitiv zu spät für den Jesus-Verräter. Gewiss, aber es wäre durchaus denkbar, dass er den an die Sikarier erinnernden Beinamen erst nach seinem Tod erhielt.
Ausgeschlossen? Die Forschung rätselt. Ich kann das Rätsel nicht lösen, doch zumindest die Bestandteile historisch und inhaltlich auflösen und so, vielleicht, hoffentlich einen bescheidenen Beitrag zur Lösung vorschlagen. (2)
Jesus musste gegen Kleinkrieg und Terror predigen
Trotz, ja wegen Gewaltverzicht am Ende der Sieg, das war die Botschaft der jesuanischen Bergpredigt. Es war die Quadratur des Kreises. In den Himmel kommen konnte man außerdem, doch ganz so eilig musste man es nicht haben. Man vergesse nicht, dass auf jenem Berg (oder in jenem Feld, bezieht man sich auf den Evangelisten Lukas) nicht gedankenversunkene, weltvergessene, gottbesessene Männer und Frauen, sozusagen Betbrüder und Betschwestern saßen, sondern mehrheitlich eher derbe, wahrscheinlich auch darbende Handwerker, Bauern, Fischer. Mit reiner „Spiritualität“ hätte Jesus seine Wirkung weder auf dem Berg (oder im Feld) noch woanders erzielt.
Man übersehe außerdem nicht, dass mindestens einer der zwölf Apostel mit den Zeloten sympathisierte und wohl „gebändigt“ werden musste. Papst Benedikt XVI. schreibt in seinem Jesus-Buch, es sei „möglich, dass der eine oder andere der zwölf Apostel Jesu – Simeon der Zelot und vielleicht auch Judas Iskariot aus dieser Richtung“ der Zeloten „kamen“. (3) Das ist, bezogen auf Simon Kananäus (Mt 10,4) nicht nur „möglich“, sondern neutestamentlich bezeugt: „Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus; sie nannte er auch Apostel. Es waren … und Simon, genannt der Zelot“ (Lk 6,13–15). Von Simon, dem Zeloten, lesen wir auch in der Apostelgeschichte 1,13.
Und Judas Iskariot? Dazu wieder Papst Benedikt XVI: „Das Wort Iskariot kann zwar einfach ›der Mann aus Chariot‹ bedeuten, kann ihn aber auch als Sikarier bezeichnen, eine radikale Variante der Zeloten“. (4) Die Zeloten waren militaristische Guerilla- und Terror-„Eiferer“, die Sikarier übertrafen sie noch an Grausamkeit und Entschlossenheit. Nicht nur bei der allgemeinen Bevölkerung musste Jesus gegen Kleinkrieg und Terror predigen, auch mitten in seinem engsten Kreis, und offensichtlich nicht unbedingt erfolgreich.
Jetzt handelte Judas
Der historische Ansatz hilft uns weiter, und wir sehen plötzlich den Verrat des Judas in einem ganz anderen, politisch-militärischen Licht. Wenn Judas tatsächlich Sikarier war, könnte er als „U-Boot“ dieser Gruppe zum „Friedensaktivisten“ Jesus gestoßen sein, um auszuspionieren, was dieser wann und wo und mit wem unternehmen wolle. Denkbar wäre auch, dass er die „Friedenspartei“ ideologisch unterwandern, „psychologische Kriegsführung“ einleiten wollte. Seine Bemühungen halfen wenig. Das zeigte Jesu triumphaler Einzug nach Jerusalem. Weite Teile der öffentlichen Meinung sympathisierten offenbar mit Jesus und der Friedenspartei. Jetzt handelte Judas. „Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohepriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere. Und sie zahlten ihm dreißig Silberstücke. Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern“ (Mt 26,14–16). Hier ging es nicht nur um Geld, sondern um Krieg oder Frieden. Wenn Judas die Offensive gegen die Friedenspartei Jesu gesucht haben sollte, wählte er mit den Hohepriestern nicht den politisch richtigen Partner. Die Hohepriester = Sadduzäer waren eindeutig prorömische Kollaborateure. (5) Suchte Judas, als (vermeintliches) Mitglied der Sikarier, antirömische Aufrührer schlechthin, eine „antagonistische Kooperation“ (Mao Tse-tung) ausgerechnet mit den Kollaborateuren? Welchen Sinn hätte diese Zusammenarbeit haben sollen? Aus einer Position sikarischer Schwäche, könnte man vermuten. Doch der Rückhalt der Sikarier, zumindest der antirömischen Aufständischen, war, wie gleich zu zeigen, in der öffentlichen Meinung alles andere als schwach.
Judas scheint ein schwankender Charakter gewesen zu sein – wenn er denn Sikarier war. Erst Sikarier, dann aufrichtiger oder nur scheinbarer Jesus-Jünger, dann Verräter und schließlich am Verrat verzweifelnd und Selbstmord begehend. „Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war, reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohepriestern und den Ältesten die dreißig Silberstücke zurück und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert … Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich“ (Mt 27,3–5).
Ob Sikarier oder nicht, er war nicht mit sich selbst im Reinen, die innerjüdische Spaltung zwischen Aufrührern und Friedenspartei (jenseits der religiösen Dimension) kennzeichnete auch sein Innenleben, sonst wären Verrat und Selbstmord ausgeschlossen.
Jesus oder Barrabas
So eindeutig jubelnd wie Jesu Einzug nach Jerusalem nahelegte, war die öffentliche Meinung ihm gegenüber aber keineswegs. Von der Vergeblichkeit des gewaltsamen Kampfes gegen Rom konnte Jesus einen großen Teil der jüdischen „öffentlichen Meinung“ bis an sein Lebensende nicht überzeugen. „Wen soll ich freilassen, Barabbas oder Jesus, den man den Messias nennt“, hatte Pontius Pilatus bekanntlich das in Jerusalem versammelte Volk, die Meinung der dortigen Öffentlichkeit („öffentliche Meinung“?), gefragt (Mt 27,17). Die Meinung war einhellig: Barabbas. Unbefangene Leser staunen, und sie sollen staunen. Das wollen die Evangelisten. Ein „berüchtigter Mann“ sei dieser Barabbas gewesen, schreibt Matthäus (27,16), und für Johannes (18,40) war er „ein Straßenräuber“. Das war er gewiss nicht, und „berüchtigt“ war er nur in den Augen der Römer und jüdischer Aufstandsgegner wie Jesus und die Evangelisten. Jener offenbar wüste Haudegen zählte zu den antirömischen Guerilleros und Terroristen, und deshalb „saß … Barabbas im Gefängnis, zusammen mit anderen Aufrührern, die bei einem Aufstand einen Mord begangen hatten“ (Mk 15,7).
In den Augen des Volkes, für die öffentliche Meinung war er kein „Terrorist“ oder „Straßenräuber“ oder „Mörder“, sondern als „Aufrührer“ ein ganz offensichtlich populärer Widerstandskämpfer, ja ein Volksheld. (6) Diese Interpretation ist ganz und gar nicht ketzerisch, sie ist fast kanonisch, denn auch Papst Benedikt schreibt: Das „griechische Wort für Räuber konnte in der politischen Situation von damals in Palästina eine spezifische Bedeutung bekommen. Es besagte dann so viel wie ›Widerstandskämpfer‹. Barabbas hatte an einem Aufstand teilgenommen“. (7) Mehr noch: „Wenn Matthäus sagt, Barabbas sei ein ›berühmter Gefangener‹ gewesen, so zeigt dies, dass er einer der herausragenden Widerstandskämpfer, wohl der eigentliche Anführer jenes Aufstands gewesen ist (27,16).“(8)
Die öffentliche Meinung zugunsten des vermeintlichen „Straßenräubers“ schlüsselt der Evangelist Matthäus (27,20) sogar soziologisch auf: „[D]ie Hohepriester und die Ältesten“, also die jüdische Aristokratie der Geburt und des Geistes, hatten die „Menge“ überredet, „die Freilassung des Barabbas zu fordern.“ Ob es der „Überredung“ bedurfte, darf bezweifelt werden, denn für eben diese – das legt der Text von Matthäus ebenso nahe wie dessen Vertonung durch Johann Sebastian Bach – geradezu bestialisch-grausame Menge war jener „Aufrührer“ ein Kriegsheld.
Zwei messianische Figuren
Die meisten Leser (und Bachs Hörer) bewerten die Gerichtsszene traditionell so: Hier Jesus, der Messias, dort Barabbas, der vom entmenschten Pöbel bevorzugte Abschaum. Angesichts der historischen Analyse darf man – sogar mit päpstlichem Segen – den neutestamentlichen Text neu lesen. „Barabbas war eine messianische Figur. Die Wahl Jesus – Barabbas ist nicht zufällig; zwei messianische Gestalten, zwei Formen des Messianismus stehen sich gegenüber. Das wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, dass Bar-Abbas ›Sohn des Vaters‹ heißt. Es ist eine typisch messianische Benennung, der Kultname eines herausragenden Anführers der messianischen Bewegung. Der letzte große messianische Krieg der Juden im Jahr 132 wurde von Bar-Kochba – ›Sternensohn‹ – geführt. Das ist dieselbe Namensbildung; dieselbe Absicht.“ (9)
Daher stehen sich vor Gericht nicht Messias und Abschaum gegenüber, sondern Messias und Messias. Was mir als „Ketzerei“ unterstellt würde, sei wieder „kanonisch“ abgesichert: „Die Wahl steht also zwischen einem Messias, der den Kampf anführt, der Freiheit und das eigene Recht verspricht, und diesem geheimnisvollen Jesus, der das Sich-Verlieren als Weg zum Leben verkündet. Ist es ein Wunder, dass die Massen Barabbas den Vorzug gaben?“(10)
Dies ist ein Auszug aus Michael Wolffsohns neuestem Buch „Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“, 2020, Herder-Verlag, hier bestellbar.
Dies ist der dritte Teil einer fünfteiligen Serie.
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 2 finden Sie hier.
Teil 4 finden Sie hier.
Lesen Sie morgen: Die Bergpredigt als militärhistorisches Dokument.
Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst und ist publizistisch und als vielbeachteter Vortragsredner tätig. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, der Deutsche Hochschulverband kürte Michael Wolffsohn 2017 zum Hochschullehrer des Jahres; 2018 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.
Anmerkungen:
(1) http://en.wikipedia.org/wiki/Judas_Iscariot (letzter Abruf am 3.1.2020). In http://
de.wikipedia.org/wiki/Judas_Ischariot (Abruf 29.3.2009, 14h) heißt es dagegen, es
habe ein (!) jüdisches Dorf dieses Namens zu jener Zeit gegeben.
(2) Im Folgenden übernehme ich weitgehend den Text aus meinem Buch, Wolffsohn: Juden und Christen, S. 37 ff.
(3) Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Band 1, Freiburg 2007, S. 39.
(4) Ebd., S. 214.
(5) Die neueste und wichtigste, empirisch gesättigte Studie über die Sadduzäer veröffentlichte Eyal Regev: The Sadducees and their Halakhah. Religion and Society in the Second Temple Period, (Hebräisch), Jerusalem 2005.
(6) Vgl. David Flusser: Jesus, 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 133 ff.
(7) Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, S. 69.
(8) Ebd.
(9) Ebd., S. 69 f. Dem Papst ist hier ein kleiner Irrtum unterlaufen: Der Krieg währte drei Jahre, von 132 bis 135. Der Verlag, sicher nicht der Papst, hat hier zudem „dieselbe“ mit „die gleiche“ verwechselt.
(10) Ebd., S. 70.