Gastautor / 09.01.2016 / 13:00 / 2 / Seite ausdrucken

Der Brexit und ein zeitgemäßes Modell für Europa

Von Joseph Zammit-Lucia

Auch im neuen Jahr werden die Strukturen der Europäischen Union mit diversen Herausforderungen konfrontiert sein. Dies betrifft unter anderem die Belastung der europäischen Einheit durch den kontinuierlichen Zustrom an Immigranten und Flüchtlingen, die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten, die Eurozone zusammenzuhalten, das kraftlose Wirtschaftswachstum und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sowie die damit einhergehenden menschlichen und politischen Kosten, die Zunahme des Euroskeptizismus, die Aushöhlung liberaler, demokratischer Prinzipien in einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten, fortwährende Spannungen mit Russland und zweifellos noch weitere schwelende oder noch nicht absehbare Probleme.

In einer solchen krisengeschüttelten Situation betrachtet so mancher in Europa das anstehende britische Referendum zur weiteren Mitgliedschaft in der EU als unnötige Irritation - als der britischen Launenhaftigkeit geschuldete, überflüssige Ablenkung, die wertvolle Zeit und institutionelle Ressourcen in Anspruch nimmt, die besser für die Bewältigung anderer, größerer Herausforderungen eingesetzt werden sollten. Doch eine solche Sichtweise ist falsch. Einige von uns, die sich mit der britischen Politik befassen, waren angesichts des EU-Referendums verärgert. Dieses wird von Kritikern häufig als interne politische Angelegenheit der britischen Conservative Party bewertet und weniger als Frage von nationalem Interesse. Da das Referendum nun jedoch unausweichlich ist, ist eine differenziertere Perspektive angebracht.

Viele von uns halten es für unbestreitbar, dass es im Interesse Großbritanniens wäre, in der EU zu verbleiben und nicht aus dem Verbund auszutreten. Doch ob auch die Mehrheit der britischen Wähler dieser Meinung ist, bleibt abzuwarten. Im Folgenden möchte ich mich jedoch mit der Bedeutung des britischen Referendums für Europa selbst sowie für die Zukunft der EU beschäftigen. Hierzu möchte ich zunächst eine gewagte Behauptung aufstellen: Das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen und in der Folge das Ergebnis des Referendums werden die zukünftige Form und Ausrichtung der EU sowie den Erfolg beziehungsweise das relative Scheitern des europäischen Projekts bestimmen.

Lassen Sie mich dies ausführen.

Grob umrissen gibt es zwei Zukunftsperspektiven für die Europäische Union: Die erste Möglichkeit zeichnet die EU als Modell, das auf die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts ausgerichtet ist. Ein europäisches Modell, das aus innereuropäischen Kriegen und den Widrigkeiten einer globalisierten Welt gestärkt hervorging, um gemeinsam nach noch größerer Einheit zu streben. Dieses Modell zielt rasch auf einen Wandel von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer politischen Gemeinschaft ab. Die Führung soll hierbei bei einer zentralen Organisation liegen, die als eine politische und wirtschaftliche Einheit zu agieren versucht. Die Rolle der einzelnen Mitgliedstaaten ist den Bedürfnissen und Wünschen der Mehrheit weitestgehend untergeordnet. In diesem Europa marschieren alle 28 oder in Zukunft noch mehr Mitgliedstaaten im Gleichschritt - ungeachtet der aktuellen und weiterhin bestehenden kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede.

Die zweite Möglichkeit ist ein Europa der Nationalstaaten, in dem die Rolle der EU-Institutionen darin besteht, für das reibungslose Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen Nationen zu sorgen. Ein solches Modell zielt statt auf ein föderales Europa vielmehr auf eine Konföderation souveräner Einzelstaaten ab. Ein gemeinsames Rahmenwerk würde unterschiedliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Nationen in Fragen von gemeinsamem Interesse ermöglichen. Gruppen von Ländern könnten dadurch immer, wenn sie es für angebracht hielten, auf beliebige Weise Allianzen bilden und zusammenarbeiten. Wenn diese Kooperationen sich als erfolgreich erweisen (oder eben nicht), können sie als Beispiel dienen und andere Länder können sich daran beteiligen, wenn aus ihrer Sicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Sollte eine bestimmte Art der Zusammenarbeit für manche nicht funktionieren, kann diese modifiziert werden. Nach Wunsch könnte auch die Beteiligung daran beendet werden. Ein solches Europa bietet ein Menü à la carte statt eines vorbestimmten Menüs zum Festpreis. Die Rolle Brüssels würde darin bestehen, bei der Zusammenstellung des Menüs zu helfen und das Know-how sowie die Infrastruktur zur Bildung solcher Allianzen bereitzustellen.

Die erste Möglichkeit basiert auf dem zentral verwalteten, bürokratischen Organisationsmodell des 20. Jahrhunderts, wie es beispielsweise von multinationalen Unternehmen genutzt wird. Politisch entspricht dies eher dem französischen Dirigismus als, sagen wir, dem politischen Modell der Schweiz. Dieses Modell ist nach meinem Dafürhalten zu schwerfällig, veränderungsresistent und unüberschaubar. Darüber hinaus läuft es den gegenwärtigen kulturellen Tendenzen zuwider. Im 21. Jahrhundert - in einer ungewissen Welt, die nach Flexibilität sowie nach Möglichkeiten für Experimente, Veränderungen und schnelle Reaktionen auf immer neue Umstände verlangt - ist dieses Modell zum Scheitern verurteilt.

Viele multinationale Unternehmen, also weitaus kleinere und einfacher verwaltbare Organisationen als die EU, haben erkannt, dass dieses zentral geplante, bürokratische Modell nicht mehr praktikabel ist. Folglich sind Unternehmen, die als selbstorganisierende Netzwerke aufgestellt sind, auf dem steigenden Ast – denn sie sind flexibel, sie sind organisch gewachsen und sie können besser auf neue, unvorhersehbare Herausforderungen reagieren.

Auf Europa übertragen würde die seine EU erschaffen, die organisch und auf unvorhersehbare Weise wachsen würde. Ein Alptraum für jeden Bürokraten, der an eine Verwaltungspolitik glaubt, in der alles dem Schein nach unter Kontrolle ist und am besten von einem Zentrum aus gelenkt wird, das sich mit dem Entwurf einer europäischen Utopie beschäftigt, die jeden einzelnen der 500 Millionen EU-Bürger zufriedenstellt. Meiner Vorstellung nach würde das Netzwerkmodell durch die Schaffung von Flexibilität und Reaktionsfähigkeit Experimente ermöglichen und die Macht streuen, statt diese zentral zu konzentrieren. Hierdurch würde die EU kulturell, politisch und wirtschaftlich gestärkt und bedeutend widerstandsfähiger.

Die beiden hier präsentierten Modelle stellen Extreme dar und die Wirklichkeit wird irgendwo in der Mitte liegen. Dennoch muss Europa irgendwann eine konkrete Entscheidung hinsichtlich dessen treffen, in welche grobe Richtung es zukünftig gehen soll. Das britische Referendum ist das erste bedeutende Ereignis, das diese Entscheidung auf die Probe stellen wird. Die britische Regierung drängt in Richtung eines Europas, das flexibel ist statt dirigistisch. Eines Europas, in dem verschiedene Länder Teil einer Gemeinschaft sein können, in der flexible Zusammenarbeit stattfindet und ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den verschiedenen länderspezifischen Kulturen, Wirtschaftssystemen und Nationalinteressen herrscht – und in dem alle von den Vorteilen gemeinsamen Handelns profitieren würden.

Die Verhandlungen werden die Fähigkeit Europas auf die Probe stellen, einen institutionellen Reformprozess loszutreten bzw. sie werden zeigen, ob Europa nicht dazu in der Lage ist, Reformen vorzunehmen und sich auf das 21. Jahrhundert einzustellen. Und das, obwohl die EU ihren eigenen Mitgliedstaaten extreme Reformen auferlegt und deren Umsetzung erwartet.

Großbritannien wird fortbestehen und vorankommen - ob innerhalb oder außerhalb der EU. Ebenso wird der Erfolg des europäischen Projekts auch nicht dadurch bestimmt, ob Großbritannien in der EU verbleibt oder aus dieser austritt. Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass eine EU, die keine Einigung mit dem Vereinigten Königreich zustande bringt, sich für ein rigides, bürokratisch-hierarchisches Modell entschieden hat, das keine Weiterentwicklung erlaubt. Dies steht ganz im Gegensatz zu einem flexiblen, reaktionsfähigen Organisationsmodell als Netzwerk. Die Entscheidung für ersteres Modell würde auf eine EU hindeuten, die stärker mit den Geistern ihrer Vergangenheit befasst ist als mit den Herausforderungen der Zukunft. Eine solche EU ist zum Scheitern verurteilt - mit oder ohne Großbritannien.

Dr. med. Joseph Zammit-Lucia ist Künstler, Autor, unabhängiger Wissenschaftler und Berichterstatter. Außerdem ist er Arzt, Privatunternehmer und Präsident der WOLFoundation.org. Zu erreichen ist er unter:
joezl@me.com . Website hier.  Photographic Art hier.

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Martin Wolff / 10.01.2016

Weder - noch. Es geht momentan vor allem darum, ein linkes Europa zu schaffen. Wenn aber die Schwäche der Nehmerländer auf Dauer größer ist als die Stärke der Geberländer, kollabiert der Transfermechanismus. Im übrigen muß der Kontinent für diejenigen attraktiv bleiben, die ihre Rechnungen gern selbst bezahlen. In beiden vorgestellten Szenarien sehe ich vor allem eine um sich greifende sozialistische Armut. Denn jeder Erfolg wird ja von den erfolglosen Staaaten “wegefressen”. Und ohne Mittel wird dieser EU die Macht ausgehen. Schon jetzt zeigt sich beispielsweie an der Ukraine-Krise, wie wenig Einfluß Europa hat. Auch die “Flüchtlingskrise” offenbart, dass es diesen gemeinsamen europäischen Geist oder eine entsprechende Identität nicht gibt. Die Menschen denken national. Das Personal, dass für die EU verantwortlich ist, wird niemals willens und in der Lage sein, ein liberaleres Modell à la Schweiz, wie Sie es vorschlagen, zu Wege zu bringen. Und: Ein Staat oder ein Staaten-System kann sich nicht aus sich selbt heraus reformieren. Das scheitert. Veränderungen wie Sie sie vorschlagen, müssten von außen erzwungen sein. Es wird genau so sein wie im Sozialismus unter Gorbatschow. Ein schlagartiger Zerfall mit langem Siechtum danach.

Arne Stocker / 09.01.2016

“Die Führung soll hierbei bei einer zentralen Organisation liegen, die als eine politische und wirtschaftliche Einheit zu agieren versucht.” Dieses Modell erscheint mir reichlich undemokratisch, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie diese ‘zentrale Führung’ von der Bevölkerung legitimiert werden soll. Derzeit ist es ja nicht so, dass wir Europäer die Mitglieder der EU-Kommission, die in bedenklicher Weise Legislative, Executive und teilweise auch Judikative in einem Organ vereinigt, direkt wählen könnten. Wir können auch keine europäische Volksvertretung wählen, welche die EU-Kommission wählt und in der z.B. politische Parteien mit bestimmten Positionen um Wählerstimmen werben können. Das EU-Parlament erfüllt diese Aufgabe nicht. Und wenn dieser ‘politische Zusammenschluss’ erst einmal umgesetzt wurde, dann zeigen alle Erfahrungen aus Vergangenheitt und Gegenwart, dass eine einmal geschaffene Machtstruktur (EU-Kommission oder die o.g. politische Führung) freiwillig und ohne entsprechenden Druck niemals bereit ist, ihre Machtbefugnisse auf demokratische Strukturen (Gewaltenteilung und direkte Wahlen eines europäischen Souveräns) zu übertragen. Im schlimmsten Fall können dann die von uns gewählten nationalen Parlamente noch bestimmen, wo Parkverbotsschilder aufgestellt werden und wo nicht.

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