Am vierten Samstag hintereinander gingen Franzosen gegen die Diskriminierung von Nichtgeimpften auf die Straße. Es waren diesmal nach den offiziellen Verlautbarungen 240.000 in mehr als 150 Demonstrationen landesweit. Den offiziellen Zahlen ist nur bedingt zu trauen. Ich war in Nizza selbst dabei, da schwanken die offiziellen Angaben zwischen 10- und 20-Tausend Teilnehmern.
In den französischen Staatsmedien wird versucht, die Demonstranten zu diskreditieren. Es wird von medienernannten Experten gerätselt, ob es nun 30 oder mehr Prozent Gelbwesten waren, ob die extremen Linken anwesend waren und vielleicht wurde sogar ein Anhänger von Le Pens Front National gesichtet. Dabei hält sich die Rechte extrem zurück. Die Medien mussten aber zugeben, dass viele Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Feuerwehrleute dabei waren und dass Familien mit Kindern in großer Zahl vertreten waren. Das verwundert mich überhaupt nicht, strebt doch auch die französische Regierung die Kinderimpfung an. So gab es viele Plakate: „Pas toucher aux enfants“ – sinngemäß „Finger weg von den Kindern“. Das unterschreibe ich vollinhaltlich für meine Enkel.
Die Demonstration in Nizza startete vom Place Garibaldi und führte durch die ganze Stadt im großen Bogen über die Promenade des Anglais zurück, der Prachtstrasse, auf der am 14. Juni 2016 ein islamischer Attentäter 86 Menschen tötete und 458 verletzte, darunter viele Kinder.
Die Franzosen sind demonstrationsgeübt. Es herrschte eine fröhliche Demo-Atmosphäre, in Nizza völlig frei von Gewalt und Aggression. Die wenigen Ordner arbeiteten gut mit den wenigen begleitenden Polizisten zusammen. Einige Polizisten bekamen von Demonstrantinnen Blumen geschenkt. Zwischen „Macron Rücktritt“, „Wir sind nicht Eure Versuchskaninchen“, „Freiheit“ und dem Singen der Marseillaise wurde viel gescherzt, aber auch freundlich kontrovers diskutiert – eine Kunst, die in Deutschland abhandengekommen zu sein scheint.
Ja, die französische Nationalhymne ist kriegerisch
Ungeimpfte, Geimpfte, Impfgegner und Impfbefürworter, Alte und Junge, Behinderte in Rollstühlen, Kinder, ganze Familien, Frauen in typischer arabischer Kleidung mit ihren Kinderwagen, Farbige, Chinesen – alle waren sie mit vielen hundert Nationalflaggen und selbstgebastelten Transparenten unterwegs, um der Regierung ihren Unwillen über den Impfpass und seine diskriminierenden Folgen für viele Bürger zu zeigen. Es war schlichtweg ein Querschnitt der Bevölkerung zur Demonstration angetreten und sang: „Zu den Waffen, Bürger, Formt eure Truppen, Marschieren wir, marschieren wir! Unreines Blut Tränke unsere Furchen! …“. Ja, die französische Nationalhymne ist kriegerisch.
Franzosen lassen sich nicht gern zu etwas zwingen, schon gar nicht von der Regierung. Regierungen kommen und gehen in Frankreich, nach Mitterrand und Chirac sind 16 Jahre schier undenkbar. Macron und seine elitären Berater haben sich schwer verkalkuliert. Vor ein paar Monaten wurde für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens noch jeden Abend um acht landesweit geklatscht. Heute werden sie von der Regierung bezichtigt, als Ungeimpfte ihre Patienten potentiell zu töten und sollen sich bei Strafe der Nichtbezahlung zwangsimpfen lassen. Dies betrifft auch andere Berufsgruppen. Deshalb singen sie jetzt: „Aux armes, citoyens, Formez vos bataillons, Marchons, marchons! Qu’un sang impur Abreuve nos sillons!...
Was die Franzosen am meisten kränkt, ist die schier unglaubliche Arroganz der Regierungseliten gegenüber dem Souverän – dem Bürger. Ohne Diskussion einfach etwas so Persönliches wie eine Impfung für ganze Berufsgruppen anzuweisen und mit Entlassung drohen, wenn nicht gespurt wird.
Unfassbar bevormundende Respektlosigkeit
Was soll eine Krankenschwester, die ihren Patienten seit 25 Jahren täglich den Hintern abputzen muss, von einem 44 jährigen Schnösel denken, der sich in seinem Leben noch nie die Hände schmutzig gemacht hat? Was soll ein Feuerwehrmann denken, der einen Clochard anfassen muss, um ihn zu retten, einen bedauernswerten Menschen, der so riecht, wie Macron noch nie etwas in seinem Leben gerochen hat? Was sollen diese hochbelasteten und schlechtbezahlten Berufsgruppen von einem Regierungschef denken, dessen Frau für 50.000 Euro Steuergeld neues Geschirr für den Palast der Seligen kauft, wo doch schon vorher dort nicht von Papptellern gegessen wurde.
In Frankreich werden die Dinge ausdiskutiert, das kann dauern, ist aber Kultur. Was die Regierung übers Knie zu brechen versucht hat, wird als arrogante Erpressung wahrgenommen, als unfassbar bevormundende Respektlosigkeit gegenüber den Bürgern. Und das lassen sich Franzosen nicht bieten. Die Quittung kommt.
Die Staatsmedien framen, dass die „viertel Million Demonstranten eine Minderheit wären“ und dass die Umfragen „nur“ 37% Zustimmung zu den Protesten ergäben. Aber liebe Journalisten-Framer – es ist gerade August, die den Franzosen heilige Urlaubszeit. Trotzdem nehmen die Proteste jede Woche um 25 Prozent zu. Was ergibt das im September? Ab Montag gehen erst mal die Feuerwehrleute in einen unbegrenzten Streik. Und am Dienstag geht das Gesundheitswesen für einen Tag in den Warnstreik. Ich freue mich auf den September. Und nächstes Jahr sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen.
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