Gerd Held / 25.12.2021 / 06:15 / Foto: Pixabay / 54 / Seite ausdrucken

Das Weihnachtsessen

Zu Weihnachten finden sich an unzähligen Tischen im Lande sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Wird diese große kulturelle und soziale Errungenschaft für den „Endsieg“ über das Corona-Virus geopfert?

Es gibt sie auch in diesen Advents- und Weihnachtstagen in viel tausendfacher Zahl: die festlich gedeckten Tische, an denen Menschen in geselliger Runde essen und trinken. Ein Weihnachtsessen kann opulent sein, mit großer Tafel und großem Glanz. Aber auch kleinere Tische, mit bescheidenen Speisen und wenigen Lichtern, können mit Sorgfalt und Liebe hergerichtet sein. Es ist ein schöner und keineswegs selbstverständlicher Brauch in diesen Tagen. Denn es gibt gegenwärtig viele Dinge, die das Herz eng machen können. Doch ist das Weihnachtsessen ein Brauch, der darauf angelegt ist, Menschen trotz großer Unterschiede zusammenzubringen. Ob im Familienkreis, im Betrieb, im Wohnhaus, im Verein – die festliche Tafel dient nicht einem bestimmten beruflichen, politischen oder kulturellen Interesse. Oft sitzen auch Menschen am Tisch, die sich selten sehen, und die sich vielleicht in vielen Dingen fremd sind oder fremd geworden sind. Doch können sie bei dieser Gelegenheit etwas Gemeinsames finden.

Aber gilt das im Jahr 2021 auch für das Miteinander von Geimpften und Ungeimpften? Ist dieser Gegensatz nicht zu groß, um die Tischgemeinschaft zu Weihnachten eingehen zu können? Hat dieser Gegensatz nicht die Gesellschaft so sehr zerrissen, dass eine so elementare Geselligkeit nicht mehr gelingt? Wenn das der Fall wäre, dürfte man allerdings in diesem Land nicht mehr den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ beschwören. Denn dieser Zusammenhalt ist jetzt keine Frage abstrakter Absichtserklärungen, sondern eine ganz praktische Frage. Gibt es die Fähigkeit und Bereitschaft von Geimpften und Ungeimpften, ein Essen miteinander zu teilen – in welchem Rahmen auch immer.      

Stell’ Dir vor, unsere „Leitmedien“ säßen mit am Tisch

Das Thema ist auch in den Medien aufgetaucht. Vor ein paar Tagen stieß ich beim abendlichen Zappen durch die Fernsehprogramme auf eine Sendung, in der gefragt wurde: Wie können Familien, Belegschaften oder Freundeskreise mit dem Gegensatz von Geimpften und Ungeimpften umgehen? Und wie soll man, wenn die Tischrunde zustandegekommen ist, verhindern, dass sie nicht ganz schnell auseinanderfliegt? In der Sendung wurde auch ein Psychologe gefragt. Er gab zwei Ratschläge: Erstens könne man dafür sorgen, dass jede Seite zu Wort kommt und die jeweils andere Seite ihr Gehör schenkt. Das Ganze natürlich nicht den ganzen Abend lang, sondern zeitlich begrenzt. Zweitens könne man das Thema auch ausdrücklich bei diesem Essen ausklammern. Also im Streit eine Weihnachtsruhe vereinbaren.

Ich finde, beides sind gute Vorschläge. Es sind Vorschläge, die voraussetzen, dass das gemeinsame Zusammensein als solches von den Beteiligten als wertvoll empfunden wird. Dass also „der Tisch“ als ein gemeinschaftliches Gut einen eigenen Wert hat. Aber als ich dann weiterzappte und sah, wie auf allen Kanälen wieder eifrig die Menschen nach „einsichtig“ und „gefährlich“ sortiert wurden, ging mir die Vorstellung durch den Kopf, was wohl geschehen würde, wenn die Medien als Personen am Tisch unseres Weihnachtsessens säßen. Würden sie sich an den Rat des Psychologen halten? Würden sie einen Ungeimpften seine Gründe vortragen lassen und ihm einfach mal ruhig zuhören? Oder würden die Medien als Tischgäste sich bereitfinden, das strittige Thema ruhen zu lassen – für einen Moment des Weihnachtsfriedens?

Nein, dachte ich, das kann ich mir nicht vorstellen. So sind die Zustände in Deutschland nicht. Selbst wenn alle anderen sich auf so einen Moment verständigen könnten, die Medien würden versuchen, die Öffentlichkeit des Tischs in ihre Medien-Öffentlichkeit zu verwandeln. Und in dieser Medien-Öffentlichkeit regiert eine höhere „Wahrheit“, die alles öffentliche Sprechen immer schon vorsortiert. Und das Thema ausklammern? Einfach mal das ständige Corona-Trommelfeuer unterbrechen? Völlig undenkbar! Unsere Medien-Leute leben inzwischen viel zu selbstverständlich in ihrem Leit-Modus. Sie können gar nicht mehr anders. 

Wie die Tisch-Gemeinschaft gelingen kann

An einem anderen Tag tauchte das Thema noch einmal bei einem anderen Sender auf. Da wurden in einer mittelgroßen Stadt im Osten Deutschlands in Industrie- und Handwerksbetrieben nachgefragt, wie das Miteinander von Geimpften und Ungeimpften bewältigt würde. Ob das nicht sehr schwierig sei „mit den Ungeimpften“, wollte der Reporter immer wieder wissen. Seine Fragen waren deutlich darauf angelegt, Schwierigkeiten heraufzubeschwören und sie in einer bestimmten Richtung zu verorten. Doch die Antworten der Kollegen, die der Beitrag dann präsentierte, waren bemerkenswert. Es gab keine einzige Stimme, die das bestätigen wollte, was der Reporter immer wieder antippte. Ja, es gäbe im Betriebe Geimpfte und Ungeimpfte. Aber es sei durchaus möglich, sich zu arrangieren. Es herrsche keine rigorose Trennung zwischen Geimpften und Ungeimpften. Die Abstände am Arbeitsplatz seien oft recht groß, aber es gäben auch ganz unvermeidlich engere Kontaktsituationen. Ja, es gäbe ein Restrisiko, aber bisher habe man kein dramatisches Geschehen feststellen können, das auf die betriebliche Situation zurückzuführen sei. Wenn der Film also Empörung über die angeblichen „unsolidarischen“ Ungeimpften dokumentieren sollte, war er ein glatter Fehlschlag. Er dokumentierte das Gegenteil: In einem festen Kollegenkreis mit langjähriger Zusammenarbeit lassen sich „Empörte“ kaum finden.

Sind so nicht alle Voraussetzungen für ein gemeinsames Weihnachtessen gegeben? Die Einen können sagen: Ich bin geimpft und dadurch vor den schlimmsten Verläufen ziemlich weitgehend geschützt. Deshalb ist die Anwesenheit von Ungeimpften bei Tisch für mich kein Problem. Die Anderen können sagen: Ich halte die Gefahr des Virus nicht für so groß, dass ich mich impfen lasse. Aber deshalb stören mich die Geimpften nicht. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen. War das nicht die gute ursprüngliche Idee, mit der die Impfkampagne begann? War das nicht die Lösung aller Realisten? Sie enthielt noch die Einsicht, dass dieses Virus in absehbarer Zeit nicht völlig aus der Welt zu schaffen ist, sondern in immer neuen Varianten auftauchen kann. Und die Konsequenz: Sich darauf einstellen, mit dem Virus zu leben.

Wie verheerend ein überzogenes Ziel wirken kann

Doch genau hier ist der kritische Punkt, der die Corona-Krise inzwischen ins Unermessliche und Unlösbare wachsen lässt. Man hat dem Land ein ganz anderes Ziel eingeimpft, indem man sagte: Freiheit gibt es erst wieder, wenn das Virus aus der Welt geschafft ist. Wenn es „endgültig“ besiegt ist. Damit hat man das Land in eine Auseinandersetzung gestürzt, die alle Konflikte ungeheuer auflädt. Und die doch nicht zu gewinnen ist. Wenn der neue Gesundheitsminister bei Amtsantritt die Losung ausgibt „Wir werden das Virus besiegen“, so ist das alles andere als eine harmlose Bekundung engagierter Amtsführung. Es ist ein verheerendes Alles oder Nichts. Aber man sollte da nicht gleich einen neuen „Faschismus“ an der Macht sehen, und denjenigen, die sich impfen lassen, eine „Untertanen-Mentalität“ unterstellen. Auch das steigert diese Krise ins Unlösbare.   

Mehr Toleranz wagen 

Deutschland hat noch kaum angefangen zu lernen, was es heißt, „mit dem Virus zu leben“. Es bedeutet ganz praktisch: Geimpfte müssen lernen, mit Ungeimpften zu leben. Und Ungeimpfte müssen lernen, Geimpfte zu respektieren.

In diesen Tagen ist sehr viel von „Solidarität“ die Rede. Diese Solidarität wird besonders dann beschworen, wenn heftige Anklagen gegen „die Anderen“ vorgebracht werden. Geimpfte und Ungeimpfte halten sich gegenseitig vor, „unsolidarisch“ zu sein. Aber der Maßstab, an dem in dieser Situation das Solidarische zu messen wäre, kann gar nicht die Befolgung eines bestimmten („alternativlosen“) Verhaltensgebots sein. Es müsste um die gegenseitige Toleranz unterschiedlicher Verhaltensweisen gehen. Solidarität ist also eine Toleranzaufgabe. Das ist eine zwischenmenschliche Aufgabe, aber es geht im Grunde um eine Toleranz in der Sache: Die dauerhafte Existenz der Virusgefahr in unserem Land muss – in einem bestimmten Maße – toleriert werden. Dies Land wird seine Freiheit erst wiedergewinnen, wenn es in diesem Sinn seine Toleranzen vergrößert.     

„Wir wollen mehr Toleranz wagen.“ Das wäre der Satz, den man sich in einer Regierungserklärung wünschen würde. Und seine beharrliche Wiederholung für die ganzen 2020er Jahre in Deutschland. Aber wir müssen ja gar nicht auf die Regierung warten. Wir haben ja das Weihnachtsessen, und können dort schon jetzt unsere Gläser darauf erheben.

Foto: Pixabay

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Bernhard Maxara / 25.12.2021

Marie von Ebner-Eschenbach meinte einmal, ein Kennzeichen echter Freundschaft wäre es, wenn jeder es als Ehre betrachten würde, der Freund des anderen zu sein. Eine solche Freundschaft wird mit Leichtigkeit selbst diese sehr grundsätzliche Meinungsverschiedenheit aushalten! - Es gibt so etwas sogar in dieser Zeit der Oberflächlichkeit noch, - ich kenne Beispiele.

Albert Pflüger / 25.12.2021

Ist es denn wirklich so, daß die “Impf”- Verweigerer den Gentherapierten Vorwürfe wegen ihrer Haltung machen? Ich kenne das eigentlich nur so, daß sie schwere Folgen für die so Behandelten befürchten und Angst um sie haben. In meinem Freundes-und Bekanntenkreis sind auch Vorwürfe gegen die Verweigerer ausgeblieben, auch da war die Reaktion eher so, daß man sich sorgte um den Anderen. Einzig ein Arzt verstieg sich zu der Behauptung, Un"geimpfte” seien rücksichtslose Gefährder der anderen Patienten. Natürlich habe ich auch andere Reaktionen zugetragen bekommen von Freunden und Bekannten, die am Arbeitsplatz erheblichem Druck ausgesetzt wurden. Das ist dann aber auch eine andere, von Hierarchien und Vorschriften überprägte Situation, in der die einen den anderen meinen, Vorschriften machen zu können oder zu müssen, um betriebliche Abläufe zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen. So richtige Hardcore-Zwangsimpfungsfanatiker kenne ich nicht. Sobald ich solche erkennen würde, wäre ich für die Erkenntnis dankbar und würde sie in den Kreis derer aufnehmen, denen ich zukünftig mit äußerster Vorsicht begegne. Mein Freund kann so jemand niemals sein. Es wäre mir nicht mehr möglich, einem solchen Menschen mit vertrauensvoller Offenheit zu begegnen, was für eine Freundschaft Voraussetzung ist. Was den Faschismus betrifft: hervorstechendes Merkmal ist die Uniformierung, die Gleichschaltung, die Strukturierung der Gesellschaft, der Kollektivismus, der dem Einzelnen das Recht nimmt, sich anders als das vermeintliche Kollektiv zu verhalten und das auch kontrolliert, sowie die Aufforderung, sich gegenseitig zu bespitzeln. Das sehe ich als gegeben an in Sachen Covid. Ich hoffe sehr, daß wir die Umkehr noch schaffen.

E. Runge / 25.12.2021

Netter Versuch!!!

Rolf-G. Mellage / 25.12.2021

Was ist daran so schwierig, zu akzeptieren, dass es Leute gibt, die sich impfen lassen, und solche, die darauf verzichten? Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben, aber nicht andere einschränken (wollen).

F. Güttler / 25.12.2021

Eigentlich ist es ganz einfach. Man schaut sich die Daten im Zusammenhang mit Omikron an. Stellt fest, dass die Gefährdung überschaubar, bzw gering ist. Und scheißt auf die staatlichen Regeln. So machen wir das in der Familie. Und wenn die Polizei kommt? Ohne richterliche Durchsuchungsbeschluss kommen die bei mir nicht rein. Und für eine Ordnungswidrigkeit werden die den nicht bekommen!

Dieter Franke / 25.12.2021

Damit beim Weihnachtsessen die Coronisten nicht in die Defensive gelangen, hat die Journaille Hilfestellung angeboten. Im Focus gibt es unter dem Titel “Ihre Familie glaubt Fake News zur Impfung? Expertin sagt, wie Sie richtig reagieren”  Munition gegen “falsche Meinungen”. Und auch in Österreich hat man vorgesorgt. Die mit Regierungs-Anzeigen gepamperte Kronenzeitung liefert mit dem Titel “Argumente gefällig? So kommen Sie durch weihnachtliche Covid-Debatten” Unterstützung. In normalen Zeiten und Gesellschaften wäre das Realsatire, und die Satiriker hätten Hochkonjunktur.

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