Gastautor / 21.10.2021 / 15:00 / Foto: Olaf_Kosinsky / 15 / Seite ausdrucken

Das Wahlergebnis – eine Chance zur überfälligen Wahlrechtsreform

Das deutsche Wahlrecht hat zu einer Aufblähung des Parlaments geführt. Jetzt sitzen 735 Abgeordnete im Bundestag. Zeit, über eine Wahlrechtsreform nachzudenken.

Von Jörn Kruse.

Das Wahlergebnis vom 26. September 2021 bietet die unverhoffte Chance zu der seit langem überfälligen Reform des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, das bisher zur Aufblähung des Parlaments geführt hat. Dies basiert auf der Annahme, dass die CDU/CSU der neuen Regierung nicht mehr angehören wird und sie insofern auch nicht das Abstimmungsverhalten der Bundestagsmehrheit bestimmen bzw. blockieren kann. Die CDU und die CSU sind nämlich die „Hauptschuldigen“ dafür, dass es bisher nicht zu einem vernünftigen Wahlrecht gekommen ist. Der Bundestag hat eine geplante Größe von 598 Sitzen. Nach der Wahl von 2002 wuchs diese auf 603 Abgeordnete, 2004 auf 614, 2009 auf 622, 2013 auf 631, 2017 auf 709 und jetzt auf 735 Abgeordnete.

Die Aufblähung des Bundestages erfolgt nicht nach rationalen Funktionskriterien, sondern hängt allein von den länderspezifischen Relationen von Erst- und Zweitstimmen bei einzelnen Wahlterminen ab. Allerdings ist absehbar, dass dieser Effekt weiter zunehmen wird, wenn die beiden früheren Volksparteien weiterhin Zweitstimmenanteile verlieren, ohne dass sie länderspezifisch hinreichend viele Direktmandate einbüßen, falls das ungewöhnliche deutsche Wahlrecht nicht reformiert wird. 

Die Ziele des Wahlrechts von 1953 bestanden darin, (1) im Grundsatz ein Verhältniswahlsytem zu kreieren und (2) den Wählern eine gewisse Mitbestimmung zu gewähren, welche Kandidaten ins Parlament gelangen (Personalisierung). Diese Ziele waren damals (und sind heute immer noch) nachvollziehbar und unter demokratischen Gesichtspunkten vernünftig.

Die Umsetzung in ein selbstgebasteltes Wahlsystem war allerdings dysfunktional. Es wurde eine ungewöhnliche Kombination von Erst- und Zweitstimmen eingeführt. Die ursprüngliche Idee war es, die eine Hälfte des Parlaments mit direkt gewählten Wahlkreiskandidaten zu besetzen und die andere Hälfte mit Kandidaten von den Landeslisten der Parteien, aber gleichwohl für den Bundestag insgesamt das Verhältniswahlprinzip zu erfüllen. Bei den heutigen 299 Wahlkreisen gelangte man so zu 598 Sitzen.

Bezüglich einer Personalisierung versagt das Bundestagswahlrecht auf ganzer Linie, das heißt sowohl bei den Landeslisten als auch bei den Direktkandidaten (Wahlkreiskandidaten).   

Wahlkreiskandidaten  

Eine Personalisierung wird durch die Erststimmen für die Wahlkreiskandidaten nicht erreicht, weil aufgrund des Überwiegens der Parteipräferenzen der Wähler die Erststimmen de facto durch die Zweitstimmen determiniert werden – sofern die präferierte Partei eine Chance hat, den Wahlkreis zu gewinnen. Anderenfalls ist die Erststimme ohnehin irrelevant. Wenn jemand als Direktkandidat gewählt wird, sagt das nichts über seine politische Qualität oder seine Beliebtheit aus –  es sein denn, er hätte ausnahmsweise weit mehr Stimmen als seine Partei Zweitstimmen im Wahlkreis. Seine Wahl hängt fast allein von dem betreffenden Wahlkreis ab. In der Regel würden seine Parteifreunde dort ebenfalls gewählt werden – oder eben nicht.   

Bisher werden die Direktkandidaten ausschließlich von ihren regionalen Parteiorganisationen bestimmt, ohne dass die Wähler darauf einen Einfluss hätten. Die vermeintliche Auswahlmöglichkeit zwischen den Direktkandidaten verschiedener Parteien ist für das deutsche Politiksystem weltfremd und irrelevant, da die Parteipräferenz deutlich dominiert.

Von einer „Personalisierung“ durch die Erststimmen könnte nur dann gesprochen werden, wenn die Wähler dabei zwischen zwei oder mehr Kandidaten ihrer präferierten Partei wählen könnten. Wenn das Verfahren so geändert würde, dass die Parteien jeweils mehrere Direktkandidaten pro Wahlkreis aufstellen, erhielte diejenige Partei das Mandat, die in diesem Wahlkreis insgesamt die meisten Erststimmen erhalten hat. Von dieser Partei kommt dann derjenige Direktkandidat in den Bundestag, auf den die meisten Erststimmen entfallen sind. 

Deutschland ist in viele kleine Wahlkreise gegliedert, sodass diese durchschnittlich relativ wenige Wähler (ca 200.000 Wahlberechtigte) umfassen. Dennoch kann von Bürgernähe nicht die Rede sein, da 75% der Wähler nicht einmal bei den großen Parteien die Namen der Direktkandidaten kennen. Das Argument der „Wahlkreisarbeit“ der Abgeordneten kann ebenfalls nicht überzeugen, da diese sich in der Regel nicht an normale Bürger/innen richtet, sondern lediglich eine Pflege der Beziehungen zu den eigenen Parteifreund/innen im Wahlkreis darstellt, die sie bei ihrer nächsten Nominierung zum Kandidaten/in unterstützen sollen. Wenn die Wahlkreise klein sind, gibt es auch nur eine vergleichsweise geringe Zahl von aktiven Parteimitgliedern (0,3% der Bevölkerung), die über sämtliche Kandidaten entscheiden.

Noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass damit innerhalb der Parteien nur eine sehr kleine Rekrutierungsbasis vorhanden ist und nur ein geringer Wettbewerb um Wahlkreismandate besteht. Zusätzlich sorgt sehr häufig die regionale Parteispitze zusammen mit der Seilschaft des bisherigen Mandatsinhabers (nicht selten auch ihre vom Parlament bezahlten Mitarbeiter) für die erwünschte Wiederwahl, sodass die Zugangsbarrieren für andere potenzielle Bewerber sehr hoch sind. [1] In der Regel kann man (analog zu ökonomischen Märkten) davon ausgehen, dass sowohl hohe Zugangsbarrieren als auch ein reduzierter interner Wettbewerb für die durchschnittliche Qualität der Abgeordneten – und damit des Parlaments – von Nachteil ist.

Landeslisten-Kandidaten  

Auch über die Landeslisten entscheiden ausschließlich die Parteien selbst, ohne dass die Wähler die Reihenfolge beeinflussen könnten. In einigen Bundesländern kommen nur wenige oder gar keine (z.B. Bayern) Kandidaten von den Landeslisten ins Parlament, weil bereits alle Plätze von den Direktkandidaten besetzt sind. In den meisten Ländern erhalten vorrangig solche Kandidaten einen aussichtsreichen Listenplatz, die auch die Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis sind. Die problematischen Effekte der zu kleinen Wahlkreise sind für die Parlamentszusammensetzung dadurch noch gravierender, als deren Zahl erwarten lassen würde. Außerdem bestehen oft Proporzansprüche verschiedener Teilgruppen (z.B. nach Region, Geschlecht, Konfession etc.). Jede derartige Segmentierung senkt die Wettbewerbsintensität und damit durchschnittlich auch die Qualität.

Ursachen der Parlamentsaufblähung: Überhangmandate 

Das Kernproblem der Parlamentsaufblähung entsteht durch die Überhangmandate, die eine sonderbare Regelung des deutschen Wahlgesetzes darstellen. Wenn eine Partei X in einem bestimmten Bundesland L mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen zustünde, kommt es zu sogenannten Überhangmandaten, da die Partei X alle „überzähligen“ Direktmandate behalten darf. Dies würde dann zu überproportional vielen Abgeordneten von Partei X aus Bundesland L führen, was für die anderen Parteien eine Benachteiligung bedeuten würde. Um dies zu vermeiden, hat man für diese sogenannte Ausgleichsmandate eingeführt, um den Parteienproporz wiederherzustellen.

Dies hat wiederum den Effekt, dass die Größe des Parlaments ansteigt, was alle Beobachter als unerwünscht bezeichnen. Mit steigender Größe des Bundestages steigen nicht nur die Kosten verschiedener Art (Diäten, Mitarbeiter, Räume und vieles mehr). Ab einem Bereich sinkt auch die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zu viele Abgeordnete wirken dann kontraproduktiv für die Parlamentsprozesse. Eine „optimale Größe des Parlaments“ zur Erreichung seiner besten Leistungsfähigkeit lässt sich nicht präzise bestimmen, da es von verschiedenen Faktoren abhängt. Als Maßstab nicht plausibel ist die oft angeführte Relation zwischen der Bevölkerungszahl und der Parlamentsgröße. Je ausgeprägter jedoch die föderale Struktur des Staates (wie in Deutschland) ist, desto weniger plausibel ist ein sehr großes zentrales Parlament, da dann viele legislative Aufgaben von den Landesparlamenten erledigt werden. Ich würde vermuten, dass die für die Funktionalität optimale Größe des Bundestages ungefähr zwischen 400 und 600 Abgeordneten liegt.     

Alle Versuche, durch (halbherzige) Wahlrechtsreformen die Größe des Bundestages zurückzuführen, sind in der Vergangenheit an dem egoistischen Widerstand vor allem von CSU und CDU (aber auch von der SPD) als Überhangmandatsgewinner im Bundestag gescheitert. Das ist nicht völlig selbstverständlich, da sich ja das quantitative Verhältnis der Parteien zueinander dadurch gar nicht verändern würde, weil dieses allein von den Zweitstimmen abhängt. Es tangiert lediglich die kurzfristigen Interessen einzelner Abgeordneter, die ihre direkte Wiederwahl in Gefahr sehen. Das Verhalten bestärkt aber die Meinung derjenigen, die von einem Selbstbedienungsladen sprechen, in dem die politische Klasse sich mit Abgeordnetendiäten, Fraktionsgeldern, Mitarbeiterstellen etc. versorgt.  

Drei niederschwellige Reformoptionen

Eine rationale Lösung des Problems ist jedoch deutlich einfacher, als man aufgrund früherer Reformversuche annehmen könnte, die im Wesentlichen an Einzelegoismen gescheitert sind. Selbst wenn man aus Reformscheu die merkwürdige Kombination von Erst- und Zweitstimmen erhalten möche, bieten sich drei einfache Lösungsmöglichkeiten an. [2]

1. Bundesweiter Ausgleich der Mandate

Eine einfache und plausible Reformoption besteht darin, die Überhangmandate länderübergreifend auszugleichen. Das bedeutet, dass die Anzahl der Listenmandate einer Partei auf Bundesebene um die Anzahl ihrer Überhangmandate reduziert wird. [3]  Auf diese Weise bleibt die Parlamentsgröße immer konstant und die Proportionalität zwischen Zweitstimmen und Parlamentssitzen ist gewährleistet. Allerdings sind dann Länder mit Überhangmandaten im Bundestag überrepräsentiert. 

2. Wegfall der Überhangmandate

Die simpelste Lösung ist der gänzliche Wegfall der Überhangmandate. Dann erhält eine Partei X im Bundesland L maximal so viele Direktmandate, wie es ihrer Abgeordnetenzahl nach den Zweitstimmen entspricht. Die Mandatszuordnung zwischen den Direktkandidaten erfolgt nach der Reihenfolge der prozentualen Anteile ihrer Erststimmen in den Wahlkreisen.

3. Reduzierung der Zahl der Wahlkreise

Eine weitere Möglichkeit ist die deutliche Reduzierung der Zahl der Wahlkreise. Man könnte z.B. jeweils zwei oder drei Wahlkreise zu einem einzigen zusammenfassen. Wenn bei konstanter Parlamentsgröße statt der bisherigen 299 nur noch 100 oder 150 Direktmandate existierten, würde die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten drastisch absinken.  

Das Argument, Direktkandidat/innen hätten bei kleineren Wahlkreisen eine engere Beziehung zur Bevölkerung, geht fehl, weil schon jetzt den allermeisten Wähler/innen die Direktkandidat/innen weitgehend gleichgültig sind, da ihre Wahlentscheidung nur von ihrer Parteipräferenz abhängt. Außerdem wissen viele von ihnen, dass die Erststimmen und die Direktkandidaten für die parteiendominierte Politik im Parlament weitgehend irrelevant sind.

Ein System vieler kleiner Wahlkreise führt innerparteilich zu reduzierter Konkurrenz um die Direktkandidaturen und zu hohen Zugangsbarrieren für Newcomer, das heißt zu Wettbewerbsvorteilen für die etablierten Mandatsinhaber/innen. Es erleichtert nämlich die „Pflege der Beziehungen“ zu den eigenen Parteifreunden, die über ihre nächste Nominierung entscheiden. Außerdem könnten Listenkandidat/innen den Kontakt zu den Wählern in gleicher Weise pflegen wie Direktkandidat/innen.

Ein Vorteil von weniger und dafür größeren Wahlkreisen mit jeweils einer größeren Zahl von Parteimitgliedern und Kandidaten besteht also zusätzlich zur Vermeidung von Überhangmandaten in der Stärkung der parteiinternen Konkurrenz um Kandidaturen, was positive Auswirkungen auf die durchschnittliche Qualität der Abgeordneten und damit des Parlaments haben wird.

Abschaffung der Trennung von Erst- und Zweitstimmen  

Das eigentliche Problem ist die grundlegende Fehlkonstruktion der Erst- und Zweitstimmen. Dass die Trennung und die schwer nachvollziehbare Kombination von Erst- und Zweitstimmen immer noch als Tabu betrachtet wird, ist nur schwer verständlich, wenn man bedenkt, dass das Ziel des Wählereinflusses auf die Personen der Abgeordneten ohnehin nicht erreicht wird und viele Wähler/innen die Bedeutung beider Stimmen verwechseln. Die Trennung in Erst- und Zweitstimmen sollte deshalb abgeschafft werden.  

Besser wäre ein Wahlsystem, das die Wähler/innen auch wirklich verstehen und das deutlich größere und weniger zahlreiche Wahlkreise vorsieht. Angenommen, man untergliederte Deutschland in 50 Wahlkreise. Dann zögen bei 500 Abgeordneten durchschnittlich zehn Kandidat/innen aus jedem Wahlkreis ins Parlament ein. Die Zahl der Mandate jeder Partei im Bundestag würde wie bisher nach den Verhältniswahlprinzip bestimmt. Bei jeder Partei würde die Zuordnung der gewonnenen Sitze auf die einzelnen Wahlkreise nach einem analogen Verfahren errechnet, sodass diejenigen Wahlkreise relativ viele Abgeordnete erhalten, in denen die betreffende Partei viele Stimmen bekommen hat.

Man könnte die Partizipation der Bürger/innen mittels Stimmzettel noch deutlich stärken, wenn man ihnen durch die Möglichkeit zur Präferierung einzelner Kandidat/innen (Personalisierung) einen Einfluss auf die von den Parteien vorgeschlagenen Wahlkreislisten einräumte, wie das in der Demokratischen Reformkonzeption vorgeschlagen wird. Die Umrechnung von Wählerstimmen in einzelne Sitze und Mandatsinhaber erfolgt in drei logischen Stufen: [4]

Stufe 1: Sitzverteilung nach Parteien im Parlament

Die Gesamtzahl der Sitze im Parlament wird vorher vom Wahlrecht festgelegt und durch das Wahlergebnis auch nicht mehr verändert. Für eine gute Repräsentierung der Bürger ist grundsätzlich ein reines Verhältniswahlsystem mit den schon bisher üblichen Rundungsregeln (z.B. nach Hare-Niemeyer oder Sainte-Laguë) am besten geeignet. [5] 

Stufe 2: Regionale Vertretung im Parlament durch Wahlkreise

Wenn man Deutschland in 50 Wahlkreise mit durchschnittlich ca. 1,2 Mio. Wahlberechtigten gliedert, wird (bei einem Parlament mit 500 Sitzen) jeder Wahlkreis im Durchschnitt von zehn Abgeordneten im Parlament vertreten. Für jeden Wahlkreis erstellen die Parteien eine Wahlkreisliste mit einer Reihenfolge ihrer einzelnen Kandidaten, über die auf regionalen Parteitagen oder (noch besser) durch ein Mitgliedervotum entschieden wird.

Die Zuteilung der Zahl der Mandate der Partei X auf den Wahlkreis A-Landstadt erfolgt proportional zum Anteil der X-Stimmen in A-Landstadt an der Gesamtzahl aller X-Stimmen in Deutschland. Die adäquate Rundung erfolgt in einem Verfahren analog zu Hare-Niemeyer o.ä. Danach steht fest, wie viele Kandidaten der X-Partei aus dem Wahlkreis A-Landstadt ein Parlamentsmandat erhalten.

Stufe 3: Welche Kandidaten gelangen über die Parteilisten ins Parlament?

Anschließend wird ermittelt, welche Personen die einzelnen Mandate jeder Partei einnehmen werden. Die Wähler können die Wahlkreislisten ihrer präferierten Partei mehr oder minder stark verändern, das heißt, das Wahlsystem hat tatsächlich eine personalisierte Komponente. Jeder Bürger hat (ein oder) mehrere Stimmen und kann diese entweder pauschal einer Partei geben oder einzelne Kandidaten individuell wählen. Maßgeblich für die Parlamentsmandate eines Wahlkreises ist die Reihenfolge der Kandidaten nach den „modifizierten Kandidatenstimmen“ (MKS):

            MKSi = LZi + PSi * c

Dabei ist LZi eine Listenpunktzahl nach Maßgabe der Platzierung des Kandidaten Ki auf seiner Wahlkreisliste (z.B. 10.000 Punkte für Platz 1, 9.900 Punkte für Platz 2 etc.). PSi ist die Zahl der Stimmen, die jeder einzelne Kandidat Ki persönlich erhalten hat. Der Parameter c (0 ≤ c ≤ …) dient dazu, die relativen Gewichte der beiden Arten von platzierungsrelevanten Faktoren (Listenplatz und Personenstimmenzahl) vom Gesetzgeber festlegen zu können. Dieser Faktor wird wiederum nach der Stimmenzahl der einzelnen Parteien j differenziert (cj).

Es ist für die Partizipation der Bürger und ihres Einflusses auf die personale Zusammensetzung des Parlaments erforderlich, dass der Parameter c (bzw. cj) so hoch festgesetzt wird, dass die personenbezogenen Stimmabgaben der Bürger die MKS-Listenreihenfolge in durchschnittlichen Wahlkreisen und bei einem üblichen Wählerverhalten effektiv beeinflussen können. Dann werden einerseits die Wähler einen relevanten Einfluss auf die Parlamentsabgeordneten haben und andererseits werden alle Listenkandidaten von ihrer Partei vorselektiert, das heißt nach den üblichen politischen Kriterien für abgestuft geeignet gehalten.

Grundsätzlich: Wer entscheidet über das Wahlrecht?

Wenn man das Problem des verfehlten deutschen Wahlrechts und vor allem der Unfähigkeit zu einer vernünftigen Reform noch etwas grundsätzlicher betrachtet, stellt sich die Frage: Warum entscheiden die gleichen Parteien und Politiker des Bundestages über das Wahlrecht, die von den Regeln selbst betroffen sind und dabei spezifische Interessen haben. Damit leistet man dem Missbrauch bzw. der Blockade aus egoistischen Motiven Vorschub, wie das in Deutschland seit Jahrzehnten der Fall ist. In der Demokratischen Reformkonzeption wird über das Wahlrecht von einem „Bürgersenat“ entschieden. [6] Das ist ein fachkundiges Gremium, das von den Bürgern gewählt wird und vor allem von den Parteien unabhängig ist.

 

[1]  Vgl. Kruse (2021), Bürger an die Macht. Wie unsere Demokratie besser funktioniert, Stuttgart, S. 55ff

[2]  Vgl. Kruse, Jörn (2021), Bürger an die Macht. Wie unsere Demokratie besser funktioniert, Stuttgart, S. 152ff.

[3]  Dies funktioniert allerdings nicht für die CSU, die nur in Bayern antritt, so dass dort die Regelung aus (2.) greifen müsste.

[4]  Vgl. Kruse (2021), Bürger an die Macht. Wie unsere Demokratie besser funktioniert, Stuttgart, S. 157ff

[5]  Ganz unabhängig davon ist die Frage einer Sperrklausel. Je höher diese ist (z.B. 5% oder gar noch mehr) desto stärker wird die Repräsentativität  und die demokratische Legitimation des Parlaments eingeschränkt. Zum Wahlrechtsdilemma zwischen der Repräsentativität des Parlaments und der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Regierung siehe Kruse (2021), Bürger an die Macht, Stuttgart, S. 109ff.

[6]  Vgl. ausführlicher Kruse (2021), Bürger an die Macht. Wie unsere Demokratie besser funktioniert, Stuttgart, S. 225ff und S. 177ff.

 

Prof. Jörn Kruse ist emeritierter Professor für Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er war Berater für verschiedene Ministerien und Regulierungsbehörden sowie für private Unternehmen und Verbände, außerdem Mitgründer der AfD und deren Fraktionsvorsitzender in der Hamburgischen Bürgerschaft, trat später aber aus der Partei aus.

Foto: Olaf_Kosinsky CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Dr Stefan Lehnhoff / 21.10.2021

Wie schön, wenn einer auf der Titanic weiß, wie man die Sitzordnung im Speisesaal optimieren kann. Das bestehende Wahlrecht und noch mehr die Realität ist eh nicht verfassungsrechtlich ok. Aber das GG ist nicht wehrhaft genug. Wir brauchen endlich eine gute Verfassung! Der Rest sind Details.

H.J. Hirsch / 21.10.2021

Für mich als Wähler wäre es interessant, wenn ich zwei von mir bevorzugten Parteien z.B. jeweils eine 1/2 Stimme geben könnte oder auch die Möglichkeit einer Partei 2/3 Stimme und der zweiten 1/3 Stimme zukommen zu lassen. Damit könnte ich als Wähler zumindest indirekt auch meinen Koalitionswunsch einfließen lassen. Vielleicht wäre es auch eine Möglichkeit für neue/kleine Parteien eher die 5% Hürde zu überwinden. Ich denke die Auszählung sollte auch nicht allzu kompliziert sein.

Dietmar Schubert / 21.10.2021

Punkt 2 führt zu einer Benachteiligung von Wahlkreisen, in dem die Stimmen gleichmäßig über die Kandidaten verteilt werden. Das führt dazu, dass unter Umständen Wahlkreise (bei gleicher Anzahl Wahlberechtigter) eine unterschiedliche Anzahl Kandidaten ins Parlarment schicken. Viel einfacher, bei 50 Wahlkreisen und 500 Mitgliedern im Bundestag, entsendet jeder Wahlkreis die 10 Gewählten mit den meisten Stimmen. Das ist einleuchtend und repräsentativ für jeden Wahlkreis.

Ottmar Zittlau / 21.10.2021

Wahlkreiskandidat und ein guter Listenplatz sind die garantierte Eintrittskarte in den BT….allein eine Trennung hier würde einiges bewirken, sogar eine Abwahl eines unliebsamen Politikers! Leider gibt es keine Trennung und leider gibt es kein politisches Bestreben (außer Lippenbekenntnissen!) überhaupt etwas zu ändern! Ein schönes Beispiel hier war mal der Gedanke HH und SH parlamentarisch zusammenzulegen. Der damalige SH-Landtagspräsident brachte es treffsicher auf den Punkt (sinngemäß):  “Wir sollten unbedingt darüber nachdenken und dieses Vorhaben in 3 Jahren angehen!” Hintergrund dieser Aussage war schlicht, dass dieser Herr in drei Jahren aufhören wollte, um in den Ruhestand zu gehen. Das Ende vom Lied kennt jeder, Thema durch, einfach vergessen und nie wieder angesprochen!! Meine Vermutung, Thema aussitzen, wird sich sicherlich auch hier durchsetzen!

Werner Geiselhart / 21.10.2021

Warum denkt keiner an das Mehrheitswahlrecht, keine Listen, kein Gemauschel, eindeutiges Ergebnis, einfach auszuzählen. Von mir aus 500 Wahlkreise, die Kandidaten müssen sich bewähren und dem Wähler zeigen. Und wer als Kabinettsmitglied etc. Mist gebaut hat, wird halt einfach nicht wieder gewählt. Es wäre alles so einfach.

Jiří Pastýř / 21.10.2021

Warum nicht gleich Mehrheitswahlrecht unter Beibehaltung der Wahlkreise? Schon Helmut Schmidt hat diese Idee favorisiert. Das “Kartell der Mittelmäßigkeit” (G.Schröder d.Ä.) könnte gebrochen werden und die politische Auseinandersetzung wieder aus den Hinterzimmern vor das Volk kommen. Auch wären extreme Minderheiten (Grüne, SED, AfD) nur sehr schwach im Parlament vertreten und würden nicht, wie derzeit die Grünen, die politische Agenda komplett bestimmen und anführen…

Roland Stolla-Besta / 21.10.2021

„Jetzt sitzen 735 Abgeordnete im Bundestag“! Tatsächlich? In den TV-Nachrichten sieht man meist nur so um die 100 Personen sich herumlümmeln und mit ihren Smartphones spielen. Ich sehe in unserem Parlament mittlerweile nur noch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für zu versorgenden Parteihanseln. Die Hälfte an Herumsitzern täts auch, es wird ja eh alles schon in Ausschüssen beraten und erledigt.

Martin Josef / 21.10.2021

Wie viele Standpunkte und Lösungsansätze gibt es zu Sachfragen? Ich schätze nicht mehr als 20, in jedem Fall aber deutlich weniger als 100. Damit können alle erdenklichen Meinungen bequem von 100 Vertretern ohne Verlust der Nuancen repräsentativ vertreten werden. Diese können alle Lösungsansätze genauso repräsentativ vertreten wie 735, aber wesentlich effizienter dabei zu Ergebnissen gelangen. Es kommt bei Lösungen nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an. Bei deutlich weniger Abgeordneten kommen schnellere und bessere Ergebnisse zustande, denn die vorbereitende Arbeit wird eh nicht von Abgeordneten, sondern von Fachleuten gemacht, muss (kann!) dann aber bei 100 Vertretern ohne Verlust der Qualität viel weniger debattiert werden. Bei 100 Abgeordneten sind 5050 Direktkontakte möglich. Bei 735 dagegen 270.480, über 50 Mal so viele. Die deutsche Krankheit ist, Entscheidungen auf die Bundesebene zu hieven, die auf die lokale oder Länderebene gehören.

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