Das „große Unbekannte“ verschlägt uns an Orte, die wir niemals erwarten; es versetzt uns Stiche, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Es entzieht sich jeder Planung und man kann sich nicht dagegen abschirmen. Es verhält sich wie die Schlangen im Garten Eden: Man kann sie nicht aus dem Garten verbannen. Ebenso wenig kann man aus einem abgegrenzten Areal die Komplexität heraushalten, sie schleicht sich immer wieder ein. Oder versuchen Sie mal, Ihre Kinder vor dem Internet abzuschirmen: Das wird nicht gelingen, das Internet findet stets ins Kinderzimmer zurück.
Ein Beispiel für das „große Unbekannte“: Sie haben seit zehn Jahren eine Internet-Beziehung. Sie vertrauen Ihrem Partner. Sie wissen also, wo Sie stehen und wer Sie sind. Und Sie wissen recht gut, wohin Sie wollen. Eines Tages aber finden Sie heraus, dass Ihr Partner Sie betrügt. Nicht nur mit einer Person, sondern mit dreien – die ganzen zehn Jahre lang.
Der Schock dürfte groß sein. Dass Sie Hinweise darauf bisher ignoriert haben, spielt nun keine Rolle mehr. Jetzt, unter Schock, wissen Sie nicht mehr, wo Sie stehen. Sie wissen nicht einmal mehr, wo Sie früher standen, obwohl Sie ja tatsächlich immer dort waren. Aber jetzt plötzlich sind Sie derart außer sich, dass Sie nicht mehr wissen, wo das war. Eigentümlich: Das Verständnis der Vergangenheit ist jetzt gewissermaßen von der Gegenwart abhängig.
Jeder begegnet im Leben mehrmals dem Chaos
Sie wissen nicht, wie es weiter gehen soll, Ihre Welt steht Kopf. Sie glaubten, es ginge ans Heiraten; Sie dachten Sie wüssten, wer Ihre Frau oder Ihr Mann ist; Sie waren der Meinung, die Frauen oder die Männer etwas zu kennen; Sie glaubten, in einer vertrauensvollen Beziehung zu stehen: All das stellt sich nun als großer Irrtum heraus. Sie wissen nur noch, dass Sie zu vertrauensselig und leichtgläubig waren. Nichts von dem, was Sie bisher glaubten, gilt noch. Sie sind ins Chaos gestürzt.
Stellen Sie sich eine Reise von A nach B vor. Unterwegs kann durchaus etwas Unerwartetes eintreffen; aber Sie können es umfahren, deshalb ist es keine Katastrophe. Bis etwas Unüberwindliches auftaucht, mit dem Sie nicht umgehen können. Es wirft Sie derart aus der Bahn, dass Sie nicht mehr wissen, an welchem Punkt zwischen A und B Sie stehen. Wenn Sie wissen wollen, wo das ist, dann sage ich Ihnen: Sie stehen an einem Ort, einem tatsächlichen Ort, der in religiösen und mythologischen Überlieferungen beschrieben ist: Es ist das Chaos.
Die Taoisten beispielsweise glauben, dass die Welt aus Ordnung und Chaos erschaffen wurde. Ordnung ist der Ort, an dem geschieht, was man will; Chaos ist dort, wo man nicht weiß, was passiert. Sie mögen sich fragen, gibt es einen Weg, wie ich mich im Chaos verhalten soll? Die Antwort lautet: Besser wäre es, wenn es einen solchen gäbe. Denn Sie werden mehrmals im Leben dem Chaos begegnen. Jeder Mensch begegnet ihm in seinem Leben, und deshalb ist dies eine archetypische Geschichte.
Der eisige See unter dem hauchdünnen Eis
Es geht um den unterdrückten Untergrund in uns. Jenen entsetzlichen Ort, der unter all unseren Grundannahmen lauert. Es ist der eisige See unter dem hauchdünnen Eis, auf dem die Leute Schlittschuh laufen: Das Eis kann jederzeit brechen, der Untergrund kann jederzeit hochkommen. Im schwarz-weiß geschlungenen taoistischen Jin-Jang-Symbol steht die schwarze Figur für das Chaos, die weiße für die Ordnung. Die weiße Figur enthält einen kleinen schwarzen Punkt als Symbol dafür, dass Ordnung jederzeit in Chaos umschlagen kann und wird. Und umgekehrt: Aus Chaos kann jederzeit Ordnung entstehen.
Das kann auch durch Erkenntnis geschehen. Alkoholiker berichten davon, dass sie, nachdem sie ihren Tiefpunkt durchschritten haben, wie nach einer Katalyse die Welt mit anderen Augen sehen. Sie fühlen sich als neuer Mensch, aufgetaucht vom Untergrund, sozusagen dem Tod entronnen. Das kommt teilweise dadurch, dass die rechte Gehirnhälfte Muster aus den neuartigen chaotischen Situationen ableitet und Ersatzlandkarten erstellt, auf die man sich, falls nötig, bis zu einem gewissen Grad verlassen kann.
Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag „Dragons, Divine Parents, Heroes and Adversaries: A complete cosmology of being“. Hier geht’s zum Original-Vortrag auf dem Youtube-Kanal von Jordan B. Peterson.