Von Michael Habs.
Dieser Essay folgt der Idee eines Freundes: Was wäre, wenn der Lauf der Welt weder durch eine höhere Macht vorherbestimmt wäre noch zufällig. Hinterfrage das Muster des Geschehenen, suche nach schlüssigen Erklärungen. In der Wissenschaft sprechen wir von Hypothesengenerierung und Plausibilitäten – Beweise folgen anderen Algorithmen.
Ende 2019 erkrankten in einer chinesischen Millionenstadt zahlreiche Menschen an einer Infektionskrankheit, die sich schnell ausbreitete und Leben forderte. Um die Vorgesetzten nicht zu beunruhigen und keine Unsicherheiten zu schüren, wurde routiniert nach den Prinzipien zentral regierter Staaten verfahren. Es wurde Normalität gelebt, alles blieb, wie es war, was nicht ins Bild passte, wurde ausgeblendet, vertuscht, andere Meinungen wurden unterdrückt oder so sanktioniert, dass das öffentliche Leben ungestört weiterlaufen konnte, über Wochen.
So ist aus dem lokalen Infektionsausbruch eine Endemie in China entstanden, und am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pandemie. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte wurde in dieser Notsituation ein nicht abschließend geprüfter Test weltweit als spezifischer Nachweis des neuartigen Virus eingesetzt, ohne dass bewiesen war, wie empfindlich er richtige oder falsche Ergebnisse produziert. Erstmalig wurde der Virusnachweis, nicht die Erkrankung, als wichtigster Risikoindikator etabliert. Bisher war es das Ziel jeder Seuchenbekämpfung, schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern, nicht die Ausbreitung des Krankheitserregers.
Bis heute wissen wir nicht, wann und wie das Virus entstanden ist, wie es sich verbreitet hat und ob wir es je wieder loswerden. Über 180 Staaten haben Erkrankungen und Tote im Zusammenhang mit dem Virus an die WHO gemeldet. Im November (KW 45) 2020 sind 50 Millionen Infektionen durch moderne biochemische Tests (Polymerase-Ketten-Reaktion) bestätigt, 1,3 Millionen Tote mit Erregernachweis dokumentiert, über 13 Millionen aktuell infiziert und 35 Millionen Menschen gelten als genesen.
Um der Virusausbreitung wirksam zu begegnen, hat der Staatsapparat in China drastisch reagiert und zugleich der Welt eine Blaupause geliefert, was zu tun sei. In China wurde der Überwachungsstaat öffentlich gemacht und durch die Pandemie als alternativlos inszeniert. Die personifizierte Anwendungssoftware als individualisierte Zugangskontrolle, um an die Bedarfe des täglichen Lebens zu kommen oder um Teilhabe am sozialen Leben zu haben, wurde ohne erkennbare Widerstände der Betroffenen institutionalisiert. Zugleich wurde die App mit einer Funktion ergänzt, die Wohlverhalten (aus der Perspektive von Staat und Partei) belohnt und Fehlverhalten abstraft.
Kampf der Staatschefs gegen den Staatsfeind Nr. 1
Viele andere Staaten haben sich ebenso dem Kampf gegen das Virus verschrieben, ohne Kollateralschäden von harten Maßnahmen abwägend zu berücksichtigen. Eine der wenigen Ausnahmen ist Schweden, das versucht hat, ein soziales Leben und das Weiterlaufen der Wirtschaft in Einklang zu bringen mit der Bekämpfung des Virus.
Der Notstandsmodus der Exekutive schaltet bis heute störende Vetospieler aus; auch die Parlamente demokratischer Staaten werden, zumindest vorübergehend, teilentmachtet. So entsteht ein Programm subtiler Erosion auch in etablierten Demokratien. Es interessiert das wahrgenommene Ergebnis und nicht mehr, wie es entsteht. Wählerumfragen bestätigen Regierungshandeln oder zeigen Korrekturbedarf auf. Meinungsumfragen und Machtkalküle der Handelnden ersetzten die Rolle der Parlamente; Gerichte vertreten im Nachhinein die Funktion der parlamentarischen Opposition. Völker lernen, dass bei ausgerufenen großen Krisen zentrale Machtfülle dem Parlamentarismus überlegen ist.
Das Infektionsschutzgesetz ermächtigt Regierung und Behörden, die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, des Brief- und Postgeheimnisses und die Unversehrtheit der Wohnung einzuschränken und Berufsverbote zu verhängen.
Die der englischen Sprache entnommenen Begriffe Shutdown, Lockdown und Social Distancing haben als Fachausdrücke eine hohe Akzeptanz und kaschieren die Ungeheuerlichkeiten exekutiven Handelns. Es ist wie bei Schimpfworten, muttersprachliche Äquivalente gehen nicht so einfach über die Lippen: Umfassende Arbeitsverbote, nationale und regionale Schließung aller Fabriken, Isolation von Alten, Schwachen und geistig oder körperlich behinderten Mitmenschen zum Selbstschutz; Verbot von Sozialkontakten mit Schließung oder zumindest Zugangsbeschränkungen für öffentliche Plätze, Parkanlagen, Kinos, Theater, Vergnügungseinrichtungen; Betreuungs- und Unterstützungsverbote für Kindergärten, Schulen und Wohnsitzlose. Auch Verbote, die zu starken Eingriffen in die Privatsphäre führen, werden mit Notstandsregelungen wegen Seuchenschutz angeordnet, kontrolliert und durchgesetzt.
Medien folgen freiwillig einer Meinungslenkung
Normalerweise wird in Ländern mit demokratischen Regierungsformen nicht gesetzeskonformes Handeln per Urteil der angerufenen Gerichte unterbunden. Häufig versucht jedoch die Exekutive, die ihr durch Sondergesetzgebung (z.B. Infektionsschutzgesetz) zugewachsene Macht zu erhalten, auszubauen und zu verlängern, indem sie Gesetze oder Durchführungsbestimmungen „geschmeidig“ modifiziert, um sie so der Rechtsprechung anzupassen.
Die kommerziellen Interessen der Informationsmedien und die politischen Bedürfnisse der Regierung haben eine große gemeinsame Schnittmenge. Die öffentlich-rechtlichen Medien und führende Zeitungs- und Zeitschriftenverlage folgen freiwillig einer Meinungslenkung, die als politisch korrekt verstanden wird: Es gilt in schwierigen Zeiten, Verunsicherung zu vermeiden, Einsichten in notwendige Maßnahmen zu vermitteln und das Vertrauen in die politische Führung zu stärken. Pressefreiheit und investigativer Journalismus sind normalerweise Kontrolleure politischen Handelns und wollen den kritischen Diskurs fördern.
Da die Bereitschaft der Leitmedien für den kritischen Diskurs weitgehend entfällt, versuchen in dieser „aufgewühlten Lage“ unterschiedlichste Gruppen, sich Gehör zu verschaffen durch Web-Präsenzen, TV- Auftritte, Podcasts, Beiträge in Print und sozialen Netzwerken oder auch in öffentlichen Demonstrationen. Diese Meinungen werden frühzeitig aus dem Diskurs gedrängt, indem Meinungsführer stigmatisiert werden als selbsternannte Experten, Verschwörungstheoretiker, politisch Radikale. Der Versuch, neben dem Mainstream Gehör zu finden, wird zum Teil über zweifelhafte Absender und Netzwerke betrieben, die der breiteren Öffentlichkeit unbekannt sind. Medialen Angeboten mit Einfluss auf die öffentliche Meinung wird es so leichtgemacht, Gruppierungen abzuqualifizieren und ihren Einfluss auf die Meinungsbildung zu marginalisieren.
Das Wissensmonopol manipuliert das Wissen
Den chinesischen Erfolg in der nationalen Bekämpfung des neuartigen Virus zu wiederholen, verlangt eine wissenschaftliche Politikberatung, die möglichst einfache und leicht vermittelbare Antworten bereithält, auch wenn niemand weiter von der Wahrheit entfernt ist, als derjenige, der vorgibt, alle Antworten zu wissen. Seit Beginn der Pandemie beherrschen Virologen die wissenschaftliche Meinungsführerschaft, gestützt von den Institutionen des Seuchenschutzes, wie WHO, CDC oder in Deutschland das RKI (Robert-Koch-Institut). Ihre Aussagen bilden die wissenschaftliche Basis zur Rechtfertigung des politischen Handelns.
Eine interdisziplinäre Diskussion findet in akademischen Zirkeln durchaus statt, ihre Wortführer artikulieren Unverständnis über die Lagebewertung und die daraus abgeleiteten Maßnahmen, über die Einseitigkeit in der Situationsanalyse und die mangelhafte Berücksichtigung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Handelns. Entsprechende Diskussionspapiere sind frei zugänglich, haben aber keinen wahrnehmbaren Einfluss auf das reale Geschehen.
Wie konnte es zu dieser verfahrenen Situation kommen? Geschichten sind leichter zu vermitteln als Fakten. Im Folgenden bietet sich ein Narrativ an, das fiktiv ist und zugleich attraktiv.
Die Entstehungsgeschichte des chinesischen Virus ist unklar. Das Virus wurde am Zusammenfluss des Jangtsekiang und des Han-Flusses geboren, in einer Millionenstadt, die als Chicago des Ostens beschrieben wird.
Es gibt zwei populäre Entstehungsgeschichten. Es handele sich um eine Zoonose, das heißt, durch Spontanmutation hat sich das Virus so verändert, dass der Mensch als neuer Wirt tauglich geworden ist. Nicht mehr Gürteltier und/oder Fledermaus sind als Orte der Virusvermehrung geeignet, sondern der Homo sapiens. Hierzu passt, dass im Nachhinein festgestellt wurde, der Seuchenausbruch sei von einem großen Markt mitten in der Stadt ausgegangen, in dem auch lebende Wildtiere gehandelt und vor Ort geschlachtet wurden.
Alternativ wird darauf hingewiesen, dass es in der Metropole ein Hochsicherheitslabor gibt, an dem mit Viren experimentiert wird. Dieser Fakt ist unbestritten, das Institut hat internationale Reputation und ist auch von amerikanischen Wissenschaftlern besucht worden. Teile der Forschung unterliegen strengen Geheimhaltungsregeln, und auch militärische Forschung soll es geben. Wird eine gezielt Mutation unterstellt, so könnte eine Biowaffe entstanden sein und Viren gewollt oder durch einen Unfall in die Umwelt gelangt sein.
Was immer zur Entstehung des chinesischen Virus geführt hat, es hat seinen Weg zum Menschen gefunden und sich rasch verbreitet. Das Virus ist humanpathogen, die Ansteckungsgefahr ist hoch, die Krankheitsverläufe sind sehr unterschiedlich. Meistens verläuft die Infektion unbemerkt, der Körper bildet Abwehrstoffe und die Sache erledigt sich von selbst. Insbesondere bei Personen mit Vorerkrankungen gibt es aber auch schwere Verläufe, die eine intensivmedizinische Betreuung erfordern. Die Krankheiten können sich über Wochen hinziehen, bei den über 80-Jährigen stirbt jeder 5. Patient.
Vom Vorteil zentralistischer Systeme
In China besteht ein umfassender Führungsanspruch der kommunistischen Partei, de facto besteht in der Volksrepublik ein autokratisches Einparteiensystem, so ist es in der Verfassung festgelegt. Der Parteivorsitzende Xi Jinping ist als „Oberster Führer“ mit unbeschränkter Machtfülle ausgestattet.
Als die Situation im Chicago des Ostens den Führungsgremien bekannt wurde und schließlich dem Spitzenzirkel der Macht vorgestellt wurde, musste eine passende Strategie dargestellt werden. Es galt, den Machtanspruch Chinas in der Welt zu untermauern, seinen Einfluss zu steigern, seine Expansionsbestrebungen zu fördern, seine Feinde zu schwächen und den „Obersten Führer“ in seiner strategischen Kunst herauszustellen.
Diese Zielvorstellung galt es in Einzelziele zu kaskadieren:
- Aus der Endemie in China musste eine weltweite Krise bisher einmaligen Ausmaßes entstehen.
- National musste die Infektion beherrscht werden und der volkswirtschaftliche Schaden geringer sein als der aller anderen führenden Industrienationen.
- Das chinesische Vorgehen musste als optimale Reaktion auf eine global lebensbedrohliche Pandemie erscheinen und Vorbildcharakter haben.
- Wirtschaftlich muss China gestärkt aus der Situation hervorgehen, der Handelskonflikt mit den USA muss in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit gewonnen werden.
Diese Strategien wurden in Maßnahmenbündel heruntergebrochen und exekutiert. Es wurde eine traditionelle chinesische Weisheit befolgt: Wissen, aber sich dem Nichtwissenden gleich verhalten, ist Weisheit.
Im Jahr 2019 wurden rund 1,5 Milliarden grenzüberschreitende Reiseankünfte erfasst, es gab 48 Millionen Flugreisen. Geschäftsreisen und der Tourismus boomten auch im Januar und Februar 2020, das heißt, noch über Wochen, nachdem das neuartige Virus im Dezember 2019 serologisch bestätigt war, lebte die Welt weiter, als sei nichts geschehen. Durch die Strategie des Schweigens, Leugnens und Vertuschens und mangelhafter Krisenprävention war es einfach, das erste Ziel zu erreichen. Auf der Schwäche Chinas wurde die Basis gelegt für eine überlegene Stärke.
Viruskrankheiten sterben aus, wenn sie keine neuen Wirte finden
Es gelang durch ein Bündel von Zwangsmaßnahmen, die Situation innerhalb weniger Monate zu meistern: umfassende Kontrolle der Bewegungen der Bevölkerung, Corona-Apps zur Isolation von Gefährdern, Kontrolle der Quarantäneregeln, Schließen von Orten, an denen sich viele Menschen auf engem Raum begegnen, totales Herunterfahren des sozialen Lebens.
Bei der Pandemiebekämpfung zeigte sich, dass die Krankheitswelle China unvorbereitet traf. Dieser Kollateralschaden wurde zwar kleingeredet, war aber nicht vollständig zu verbergen. Das Gesundheitssystem war auf die Epidemie ungenügend vorbereitet, es gab viele schwere Erkrankungen, auch bei den mangelhaft geschützten Gesundheitsberufen. Die im Zusammenhang mit dem chinesischen Virus berichteten Todesfälle waren dem Staatsziel anzupassen, die Souveränität der Parteiführung ist bei jeder Gefahrenlage zu demonstrieren. Anfang November 2020 meldet China (1,4 Milliarden Einwohner) kumuliert 4.634 Todesfälle, im Vergleich dazu Deutschland (82 Millionen Einwohner) 11.435, die USA (328 Millionen Einwohner) 243.390.
China ist die erste Wirtschaftsnation, die wieder auf den Wachstumsweg zurückfindet. Der Weltwährungsfonds schätzt für 2020 das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts für China auf +1% (2021 + 8,2%), für die USA auf minus 8% (2021 + 4,5%), für Deutschland auf – 7,8% (2021 + 5,4%).
China hat beim den Umgang mit der Krise der Welt gezeigt: Ein zentralistischer Staat, wenn er gut geführt wird, reagiert überlegt, zielgerichtet, effizient. Er stellt das Wohl der Gemeinschaft über das Wohl des Einzelnen und ist siegreich. Die chinesische Führung hat angeboten, mit dem Wissen und den Erfahrungen seiner Eliten schlechter aufgestellten Staaten zu helfen, chinesisches Know-how weiterzugeben und so den Multilateralismus zu stärken. Stellt man das Vorgehen in den Rahmen des Staatszieles, die unangefochtene Wirtschaftsnation Nr.1 zu werden, so wirkt der Umgang mit dem chinesischen Virus wie ein Baustein, um das übergeordnete Ziel zu erreichen.
Zahlreiche Staaten haben die Blaupause zum Umgang mit dem chinesischen Virus aufgegriffen und adaptiert an ihre Rahmenbedingungen umgesetzt. Mancher demokratisch gewählte Politiker hat so gehandelt, als sei das „süße Gift“ der eigenen Machtfülle eine Droge, die vergessen macht, welchen Rechten und Pflichten er unterworfen ist.
Möchte man einen chinesischen Masterplan vermuten, fällt einem das älteste Buch über strategische Kriegsführung ein: The Art of Wor / Über die Kriegskunst von Sunzi (ca. 500 v. Chr.). Einer der Aphorismen von Sunzi lautet: Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.
Die Brücke in die Zukunft. Alarmismus in Deutschland
Vorsicht sofort! Heute besteht der Eindruck, vieles ist viel schlimmer als im Sommer gedacht, es ist Herbst in Europa, die bedrohliche Lage wird den Bürgern täglich vor Augen geführt. Experten berechnen aus den mitgeteilten Infektionszahlen Worst-Case-Szenarien: Es ist nicht mehr 5 Minuten vor 12, es ist ernst, bitterernst. Wenn es so weiterläuft, wird auch das deutsche Gesundheitssystem überlastet.
In mehr als der Hälfte aller Landkreise ist die 7-Tage-Warnmarke von 25 Infektionen pro 100.000 Einwohner überschritten. Wichtige Quellen für die Ausbreitung des Erregers sind private Feiern und weiterhin Alten- und Pflegeheime. Die Mutter der Nation bittet eindringlich, vernünftig zu sein, freiwillig alle Sozialkontakte zu reduzieren, möglichst keine Treffen, Feiern, Restaurantbesuche, kein Urlaub – auch nicht im eigenen Land. Sie appelliert an die Bürger: Wenn jetzt die Mitbürger versagen, muss der nationale Notstand ausgerufen werden und Lockdown. Shutdown und soziale, das meint räumliche Distanz zu Dritten behördlich angeordnet und durchgesetzt werden. Wir, die verantwortlichen Politiker, wollen das nicht – und wären daran auch nicht schuld.
Um die reale Lage besser einschätzen zu können, werden seit dem Spätsommer ca. 1.300.000 Tests pro Woche durchgeführt. Die Rate positiver Testergebnisse ist in den letzten 8 Wochen von 0,74 auf 7,3 Prozent angestiegen, im März zu Beginn des Ausbruchs lag sie bei über 9 Prozent. Leider gibt es falsch positive Testergebnisse, deren Zahl mit Zunahme der Testungen und der jahreszeitlich bedingten Erkältungskrankheiten ansteigt. Wissenschaftliche Publikationen aus China legen nahe, dass die Rate falsch positiver Ergebnisse, bei optimaler Durchführung der Tests, zwischen 1 bis 5 liegt. Werden keine Risikogruppen getestet und keine wiederholten Testungen durchgeführt, entstehen viel mehr falsche Virusnachweise als korrekte. Das liegt daran, dass es nach wie vor, mit Ausnahme von Hochrisikogruppen, in allen untersuchten Kohorten immer deutlich mehr Personen gibt, die das Virus nicht in sich tragen als infektiöse Virusträger. Bei seltenen Ereignissen sind „falsch positive“ Ergebnisse ein Problem.
Im Herbst beginnt in Europa die Influenza-Saison, es wäre also eine Doppelbelastung zu erwarten, die bisher nicht zu sehen ist: Jedes Jahr untersucht das RKI ab der 40. Kalenderwoche Abstriche von Patienten mit Grippesymptomen auf Influenza. In den vergangenen Wochen (KW 40 bis 44) ist die Rate von Patienten mit neu aufgetretenen Atemwegsinfekten stabil (ca. 3,3 %) und geringer als im Vorjahr. In KW 44 wurden in 21 /41 Proben des RKI respiratorische Viren, darunter 19 Fälle mit Rhinoviren (46%) nachgewiesen, in 2 Proben SARS-CoV-2, in keinem Fall Influenzaviren. Externe Labors haben 14 Fälle von Influenzanachweisen an das RKI gemeldet. Den Versuch, das Influenza-Virus durch Massentest in der Bevölkerung zu erfassen gibt es nicht.
In Deutschland gibt es kumuliert seit Beginn des Ausbruchs 685.500 nachgewiesene Infektionen (0,8 Prozent der Bevölkerung) und 11.298 Tote mit positivem Test auf das chinesische Virus (Stand 8.11.2020). In den Kliniken befinden sich zu Ende der 44. Kalenderwoche 2.904 Patienten mit Nachweis des chinesischen Virus in intensivmedizinischer Betreuung, von ihnen werden 1.605 künstlich beatmet. Das Land verfügt über 27.506 Betten auf Intensivstationen, davon sind 17.848 mit Patienten belegt, für die eine andere Diagnose gestellt wurde. 7.506 Betten sind frei, die Notfallreserve, d.h. Betten, die innerhalb von 7 Tagen zusätzlich aktiviert werden können, liegt bei 12.494. Befürchtungen, das deutsche Krankenhauswesen könnte zu wenig Kapazitäten bereitstellen, beruhen auf Worst-Case-Szenarien.
Die Zukunft des chinesischen Virus
Der Nobelpreisträger für Physik von 1922 Niels Bohr sagte: Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.
Damit das chinesische Virus beherrschbarer wird, gibt es verschiedene Optionen. Die verordneten, martialischen Beschränkungsmaßnahmen zeigen Wirkung (chinesischer Plan), dann sollte das Virus theoretisch keine neuen Wirte mehr finden und stirbt aus oder der Selektionsdruck führt dazu, dass nur Viren überleben, die im Regelfall vom Wirt toleriert werden können.
Wenn „ein Leben mit dem Virus“ als Ziel formuliert ist, unter bestmöglichen Bedingungen für ein unbehindertes Zusammenleben, steht der Schutz der Risikogruppen im Vordergrund, das Sozial- und Gesundheitssystem sollte entsprechend ausgebaut sein.
Andererseits ist ein Modell für den wirtschaftlichen Umgang mit der Infektion entstanden, bei dem viele Stakeholder profitiert haben (politische Systeme, wissenschaftliche Institutionen, Hersteller von Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen). Diese Erfahrung lässt erwarten, dass es zahlreiche Geschäftsideen geben wird, das neuartige Geschäftsfeld zu optimieren.
Die Rolle Chinas – Erfolgsmodell für wen?
Um das Gedankenspiel weiterzuentwickeln, dass China die Pandemie als nationale Chance frühzeitig erkannt und die Situation zu seinen Gunsten genutzt hat, nehmen wir Chinas geopolitisches und wirtschaftspolitisches Machtstreben als Fakten. Im Projekt „Neue Seidenstraße“ will China im eurasischen Ausland in den nächsten Jahren 900 Milliarden US $ in Pipelines, Kraftwerke, Schienen- und Straßennetze und Flughäfen investieren. 2019 hat China Direktinvestitionen von 124 Milliarden in Firmenbeteiligungen eingebracht, um jeweils mehr als 10% Stimmrechte oder Anteile zu erwerben. Das entspricht derselben Größenordnung, in der das gesamte Ausland sich in China engagiert hat.
Müssen wir diese globale Vernetzung fürchten? Das hängt vom eigenen Rollenverständnis ab und vom Vertrauen in die chinesischen Führungsqualitäten. Solange nationalstaatliche Erwartungen der Wähler die Politik bestimmen, ist es schwer vorstellbar, der chinesischen „freundschaftlichen“ Umarmung etwas entgegenzusetzen. Chinesische Politik stellt Wertvorstellungen anderer Länder hintan und priorisiert ökonomische Ziele. Wenn nicht einmal die Europäische Union mit China auf Augenhöhe Interessenausgleiche verhandeln kann, ist ein Verhandlungserfolg einzelner Staaten wie Deutschlands unwahrscheinlich.
Andererseits macht wechselseitige Vernetzung es weniger attraktiv, die zu schädigen, aus deren Leistung ich mir Vorteile und Gewinn verspreche. Wer mit einer friedlichen und auskömmlichen Ko-Existenz ohne Streben nach einer Vormachtstellung einverstanden ist, müsste nur von der Hoffnung überzeugt sein, dass der Bauer die Kuh nicht schlachten wird, solange die ihm die Milch liefert. Leider lehrt ein Blick in die Geschichte Chinas, dass Gewalt als politisches Mittel zum Alltag gehört. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Das Böse lebt nicht in der Welt der Dinge. Es lebt allein im Menschen.
Epilog:
Konfuzius (551–479 v. Chr.) sagt: Lernen, ohne zu denken, ist vergebliche Mühe!
Prof. Dr. med. habil. Michael Habs ist Naturwissenschaftler mit Arztausweis. Nach der Habilitation in Heidelberg (DKFZ) arbeitete er in der Pharmaindustrie und unterrichtete an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Toxikologie und (Phyto-)Pharmakologie. Seit 5 Jahren bezieht er Altersruhegeld und berät Verbände und Unternehmen wissenschaftlich und strategisch, wenn ihm interessante Themen angeboten werden.