Von Marko Martin
Es sind Fernsehkameras, die nach Katastrophen und Morden gern auf jenes Bild blenden: ein Blumenmeer voller Kerzen, davor ein Pappschild mit der Frage “Warum?”. So geschehen, als vor einigen Jahren ein Jugendlicher von Gleichaltrigen auf dem Berliner Kaiserdamm zu Tode gehetzt wurde. So geschehen, als die beiden Killer von Winnenden und Erfurt ein Massaker unter ihren Mitschülern angerichtet hatten.
Man könnte deshalb sagen: Ursachenforschung als zivilgesellschaftliche Tugend. Denn als in den Neunzigerjahren in Brandenburg Ausländer totgeschlagen wurden, hatte es keine solchen “Warum”-Schilder gegeben, dafür aber die sozialpopulistische Maschinengewehrstimme jener Ministerin Regine Hildebrandt, die “für all det” Arbeitslosigkeit und westliche Medienhysterie verantwortlich machte.
Was aber, wenn solch dreiste Täterexkulpierung nur die Schattenseite unserer großäugig-idealistischen “Warum nur”-Haltung wäre? In allen Fällen gab es danach “Expertengespräche”, um – wie es so bedeutungsschwanger hieß – “die wahren Ursachen zu hinterfragen”. Hatte man den Mördern vielleicht zu wenig “Freizeitangebote” gemacht oder waren sie im Gegenteil Opfer einer Überkonsumation von “Gewaltvideos”?
Geradezu logisch, dass derlei Küchenpsychologie – die wie unter Zwang die ausgelöschten Biografien der wahren Opfer negiert – nun auch ins Geopolitische diffundiert. Was nämlich treibt die steinigenden, kreuzigenden und enthauptenden IS-Mörder (oft beschönigend “Kämpfer” genannt) “wirklich” an?
Der amerikanische Essayist Paul Berman hat gerade in einem erhellenden Aufsatz im “Tablet Magazine” ein paar dieser vermeintlichen (und einander häufig ausschließenden) “Gründe” zusammengetragen: die langjährige amerikanische Unterstützung diktatorischer Nahost-Regimes, der von George Bush initiierte Sturz der Saddam-Hussein-Diktatur, die einst von den kolonialen Herren Sykes und Picot willkürlich gezogenen Grenzlinien – nicht zu vergessen der fehlende “social service” in den Herkunftsorten der fast ausnahmslos jungmännlichen IS-Schlächter.
Paul Berman – im Übrigen ein Erzliberaler, dem konservativer Sprech fremd ist – macht für diese sinnlosen Taten einen intellektuell fatalen Paradigmenwechsel verantwortlich. Für die alten Erzähler der Antike war nämlich das Böse noch eine anthropologische Konstante. Vom “privaten” Geschwistermord bis zum weitergehenden Ausrottungsfuror – abschreckend beschrieben. Ohne nach dem “Warum” zu fragen.
Mord und Totschlag existieren, weil auch der Zerstörungstrieb etwas “Menschliches” ist. Seit jeher wird das getan, was möglich ist, sofern keine schmerzhaften Strafen drohen. (Doch selbst bei Gefahr der Selbstauslöschung wird weiter vergewaltigt, gebrandschatzt und gemordet.) Dieser Illusionslosigkeit der Betrachtung blieben später sogar die mittelalterlichen Denker treu. Auch wenn sie das Böse Satan in die Schuhe schoben. Was aber wäre tatsächlich gewonnen, wenn wir zu dieser Sichtweise zurückkehrten?
Paul Berman, an den römischen Philosophen Seneca erinnernd, schreibt lapidar: “Stoizismus ist kein Fatalismus.” Mehr noch: Die Anerkennung der Existenz des Bösen setze gleichzeitig das bitter notwendige Gegenmittel frei: den freien Willen. Ausgenommen Extremstsituationen, vermag nämlich sehr wohl jeder selbst zu entscheiden, ob er nun zum Mörder werden möchte oder nicht.
Die emanzipatorische Volte einer solchen Betrachtungsweise sollte man sich gerade in Deutschland zu Herzen nehmen. Denn was bedeutet die hierzulande grassierende “Warum”-Fragerei nach den “wahren Ursachen”? Doch gewiss keine klammheimliche Sympathie mit dem IS.
Eher ist es wohl die noch immer wirksame (und zutiefst verständliche) Scham über das bis weit in die Fünfziger Jahre hineinreichende Nachkriegsgequatsche von “den bösen zwölf Jahren”, welche da “über uns gekommen” seien. Über jenes pseudometaphysische Nebelwerfen, das jegliche persönliche Verantwortlichkeit zum Verschwinden brachte.
Die traurige Pointe ist freilich, dass die darauffolgende “Ursachenforschung” trotz bester Absichten nun ebenfalls die Möglichkeit der freien Entscheidung relativierte: Was den Konservativen der Versailler Vertrag und die strangulierenden Reparationsleistungen waren, bedeutete für die Liberalen der “antiwestliche deutsche Sonderweg” und für dogmatische Linke das “kapitalistische Selektionsprinzip”.
Nachdem “das Böse” nicht mehr gestaltlos sein sollte, bekam es plötzlich derart viele Gesichter verpasst, dass die individuelle Verantwortlichkeit unterging: Jene strenge Frage aus den ersten Seiten der Bibel: “Kain, wo ist dein Bruder Abel?”
Zu Paul Bermans Verweis auf die Antike ließen sich nämlich auch noch jene Bibelverse hinzufügen, die dem sogenannten Alten Testament entspringen und noch nicht verzuckert sind vom späteren Versprechen einer Sündenvergebung. “Denn des Menschen Herz ist böse von Jugend an”, schrieb der Psalmist David, der im Übrigen alles andere als ein Griesgram war (jedoch aus eigener Herrschererfahrung wusste, wie verdammt leicht es ist, jenes Böse zu tun).
Als der deutsche Schriftsteller und Krisenreporter Hans Christoph Buch vor zwei Jahrzehnten an einer Straßensperre mitten im liberianischen Bürgerkrieg einen Freischärler fragte, warum dessen Leute unschuldige Kinder umbrächten, antwortete dieser mit einem knappen “Why not?”.
Buchs Freund, der französische Philosoph André Glucksmann, kam in den Folgejahren auf diese Episode immer wieder zurück, um der stets aufs Neue erstaunten westlichen Zivilgesellschaft ein mahnendes “Nichts Unmenschliches sei euch fremd” zuzurufen, damit man zumindest gedanklich gewappnet sei.
Wie es scheint, war die Warnung vergeblich, und so wird es wohl auch weiterhin in den öffentlichen Debatten jene einlullenden “Erklärungsversuche” geben, weshalb junge Westeuropäer plötzlich nach Syrien und in den Irak ziehen, um dort ihrer Mordlust freien Lauf zu lassen. Vielleicht aber sollte man sich besser an jenen Satz von Jorge Semprún erinnern: “Nicht nötig, die SS zu verstehen, es genügt der feste Wille, sie bis zu ihrer Niederlage zu bekämpfen.”
Wer dies mit Verweis aufs historische Vergleichsverbot als nicht adäquat empfindet, könnte zumindest dem amerikanischen Schriftsteller P.J. O’Rourke zuhören, der einst beim Anblick der mordenden libanesischen Hisbollah-Jungmänner angemessen lapidar notiert hatte: “Sie brauchen dringend Freizeitangebote und unser Verständnis. Oder eine 35-Zentimeter-Granate vom Schlachtschiff New Jersey.” Mehr ist dazu nicht zu sagen.