Ja, der November. Während ich schreibe, blendet mich ein makellos blauer Himmel durch das Fenster, und sähe der Garten unten nicht so trostlos aus, ich könnte glatt in die Versuchung geraten, mich mit Shorts und T-Shirt in den Liegestuhl zu lüngeln. Oder mit dem Mini hinaus in die Farbenpracht der herbstlichen Ardennen. Leider habe ich den treuen Oldie vor drei Wochen geschrottet. Aber das ist eine andere, sehr traurige Geschichte und wäre als Antidepressivum so geeignet wie Kokain als Schlafmittel.
In kaum einem Monat ist ein gutes Antidepressivum angebrachter als im November. Denn auch wenn der Herbst sich momentan von seiner schönsten Seite zeigt – wir alle wissen, was kommen wird. Vereiste Windschutzscheiben, verspätete Busse und Bahnen, verrenkte Gesäße, verstauchte Knöchel, verdrehte Knochen und Sehnen, versäumte Verabredungen...Ich will das hier nicht weiter ausführen. Und denken Sie bloß nicht an die obligatorischen Bilder der Gleitet-für-Deutschland-Kanzlerin auf Skiern. Denken Sie an rosa Elefanten.
Wer nicht gerade seine Koffer packt, um den Winter dort zu verbringen, wo jetzt das Frühjahr beginnt, der wird kaum daran vorbei kommen, im nächsten April, vielleicht sogar noch im Mai, vor sich hinzudenken, der Winter könne sich jetzt aber mal so langsam trollen.
November, auch gerne Schicksalsmonat genannt. Ein Blick in den Kalender der Weltgeschichte beseitigt alle Zweifel. Kaum ein anderer Monat kann da mithalten, und manche Tage im November sind geradezu überfrachtet mit Ereignissen. Nehmen wir nur den 9. November:
St. Pontianus wird nach seiner Verurteilung zur Zwangsarbeit in einem Steinbruch auf Sardinien erschlagen. Die Schlacht von Gammelsdorf findet statt. Tokugawa Yoshinobu dankt ab. Theodor Roosevelt wird im Seegefecht bei den Kokosinseln kampfunfähig gemacht. Kambodscha gewinnt („sofort, unverzüglich“) die Unabhängigkeit von Vaudeville mit 3:1 und wird die erste Fußgängerzone Deutschlands, und eine Serie von Unglücksfällen beendet das Schicksal vieler Stummfilmkollegen.
Schusswechsel mit George „Babyface“ Nelson
Und das ist nur der 9.! Man kann sich denken, was an den übrigen 29 Tagen los ist. Darunter auch zahlreiche Geburtstage und Ableben. Snub Pollard wird zum Beispiel an einem 9. November geboren, ebenso Peter Hahne und Susan Tedeschi und nicht zu vergessen Albrecht Achilles, Kurfürst von Brandenburg, von ihm liegt leider kein Clip vor, so wie auch nicht von der Aufteilung des Frankenreiches unter Theuderich, Chlodomer, Childebert und Chlothar am 27. November und dem Schusswechsel zwischen George „Babyface“ Nelson (Dillinger-Bande) und zwei FBI-Beamten am gleichen Tag.
Hinter dem 9. November müssen sich die übrigen Tage immerhin nicht verstecken. 16. November geboren: Diana Krall, 17. November geboren: Gordon Lightfoot, 18. November gestorben: Lennie Tristano, 19. November gestorben: Pete La Roca, Gato Barbieri, 28. November geboren: Cab Calloway, gestorben am 19. November, Animal, Ofra Haza, am 19. November geboren, und Benoît Mandelbrot, 20. November. Schließlich am 30. November Lionel Stander, der gesegnete 86 Jahre alt wurde, obwohl er sechsmal verheiratet war und sechs Kinder hatte. Beschließen wir den Reigen der November-Prominenten mit Tiny Tim, der am 30. November seine metabolischen Prozesse für immer einstellte.
Zu allem Unglück wird auch noch der geistesschwache portugiesische König Alfons VI. durch seine Frau Maria Francisca Elisabeth von Savoyen und seinen Bruder Peter zum Verzicht auf die Regentschaft gezwungen. Er verliert seinen Abschiedskampf gegen Reiner Calmund (geboren am 23. November), schreibt einige Wochen später „Die Teufelskäthe“, eine Oper von Antonín Dvořák und überlebt sich um ein gutes Jahrzehnt.
Wollen wir über die vielen dem November verbundenen Künstler nicht die Weltgeschichte vergessen. Nehmen Sie die Woche von 20. bis 27. November 1841: Im Salmonellen-Vertrag zwischen Heinrich Carl von Schimmelmann und dem Osmanischen Reich wird alles verboten. Die Kleinbahn Niebüll–Leverkusen wird offiziell zur künftigen Hauptresidenz der britischen Monarchen. König Erbslöh von Bhutan erfindet auf seiner zweiten Südseereise das Butangas und besitzt seither die älteste Parfum-Fabrik der Welt. Silvio Francesco besteigt die Sechs-Meter-Marke, wird ägyptische Gottsucherin, gewaltsam durch preußisches Militär aufgelöst und zwangsitalianisiert.
Oder die gleiche Woche 1792: Die verbliebenen Ritter des Dritten Kreuzzugs entdecken Holzkohle sowie das Edelgas Xenon, übersehen dabei aber sträflich die Knaus-Ogino-Verhütungsmethode. Diese wird erst 1565 von Pierre Chanel in einem Einakter uraufgeführt. Mechthild von Bayern erblindet und besteigt als Thor XII. den Stuhl Petri, was zu heftigen Haiangriffen führt und 3:0 gegen Brasilien endet. Der erfolglose Postkartenmaler und Eckensteher Paule Carobubo benennt sich in Pablo Picasso um. Er wird in späteren Jahren zum erfolgreichsten Postkartenmaler und Eckensteher der Welt. Schließlich der 3. November 1892: Ludwig Hirschhorn und Theodor Grob erfinden im Hackerbräuhaus die schönen Künste, und Adolf von Troddeln wird Gnostiker.
Knapp dem November entkommen
Zurück erneut zu einigen weiteren Kindern des November. Mein Liebling unter ihnen ist ohne Frage der große Rodney Dangerfield, der an einem 21. November die Bretter, die die Welt bedeuten, erblickte. Ich liebe diesen Mann, ich liebe, wie er spricht, wie er sich bewegt, wie er guckt und wie er sich kleidet und wie er sich selbst gnadenlos in seinen Scherzen niedermacht („Als ich klein war, sind meine Eltern sehr oft umgezogen. Ich habe sie aber immer wiedergefunden.“) Ich besitze ein persönliches Autogramm von Rodney Dangerfield, und hätte ich keines, würde ich locker meine Napoléon-Briefsammlung dafür eintauschen, wenn ich denn eine hätte.
Gleich doppelt dem November entstammen Ana Vidovic (*8.11.) und Francisco Tárrega (*21.11.), und dieser Tatsache verdanken wir Musik wie diese. Großartige Musik verdanken wir auch Paul Desmond, geboren am 25. November, er ist der Komponist des Jazzklassikers „Take five“. Hier einmal nicht in der Originalversion mit Dave Brubeck, sondern mit Helge Schneider, der ein ungefähres Vierteljahr vor November geboren wurde.
Knapp dem November entkommen ist Marty Feldman, der an einem 2. Dezember starb. Seit wenigen Wochen findet man auf Youtube seinen erzkomischen, lange Zeit verschollenen Spielfilm „Every Home should have one“, auf deutsch: „Haferbrei macht sexy“, und wenn Sie des Englischen einigermaßen mächtig sind, schauen Sie ihn unbedingt an. Nicht nur, dass der Film vor Gags bloß so funkelt, er bietet auch in Mode und Ambiente ein perfektes Abbild der Swinging Sixties. Außerdem gibt es wenige Sekunden full frontal nudity und die sensationelle Julie Ege als Kindermädchen sowie einen lüsternen Vikar.
So ereignisvoll der November ist (Welttoilettentag, Internationaler Männertag!) – so sehr muss man sich wundern, dass auch die anderen Monate zumindest einige wenige Ereignisse von internationalem Ruf zu bieten haben. Überhaupt nichts zu tun mit dem elften Monat des Jahres hatte zum Beispiel J. J. Cale, der wurde im Dezember geboren und schlug in einem Juli zum letzten Mal die Saiten an. Auch Khatia Buniatishvili verbindet nichts mit dem Nebelung, sie ist an einem gewiss sonnigen Junitag geboren; von Lola Astanova weiß man nur das Geburtsjahr, aber da sie in der einstigen Sowjetunion geboren wurde, tut das genaue Datum nichts zur Sache, dort war schließlich immer November. Doppelt schwer getroffen hat es Anastasia Huppmann, die ist nicht nur ebenfalls in der Sowjetunion geboren, sondern auch noch am 16. November. Dass sie so meisterhaft den Flügel beherrscht, ist daher einen besonderen Applaus wert.
Die mehrfarbige Briefmarke in Tütensuppenform
Sie sehen, liebe Leser: Ich könnte noch monatelang über den November, seine Menschen, Schicksale und Ereignisse berichten. Denken wir nur an Hans Kalldewey, der auf Usedom während seines Trainings für die Seepferdchenprüfung eine fast dreißig Meter hohe, fleischfressende Pflanze entdeckte, es aber nicht mehr melden konnte; erinnern wir uns an Gottfried von Bouillon, der als erster Mensch die mehrfarbige Briefmarke in Tütensuppenform auf den Markt brachte. Gedenken wir Egbert von Achenberg, der die Harpyien von Thessaloniki ins Heimat- und Kinderstrommuseum Ybbs brachte.
Vergessen wir gnädig den Migrationsmönch Smegma Swidbert, er warf einst Anfang November über ostdeutschen Äckern Kartoffeln ab, die sich im ganzen Nordosten des Königreichs Ungarn ausbreiteten. Er wurde verhaftet, gevierteilt und des Landes verwiesen. Zum Nachfolger wurde Jacobus Cornelis Swijghuijsen Groenewoud gewählt. Dieser wirft Jahre später britische, niederländische und deutsche Truppen über westdeutschen Äckern ab und wird unter Hausarrest gestellt. Der Adabei Max-Bürobote von Bayern wird durch Brandstiftung ein Raub der Flammen. Widubrand von Miraculi, der fränkisch-italienische Hausmeier Mark Twains (geboren am 30. November), wird Wirt. Ja, so war das damals.
Ich entlasse Sie, liebe Leser, in den heutigen Novembersonntag mit einem Stück Musik, dessen Komponist vor wenigen Tagen seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Ich hoffe, in bester Verfassung, denn es handelt sich, nicht nur nach meiner unmaßgeblichen Meinung, um einen der größten Tonsetzer des 20. und 21. Jahrhunderts. „Ist er überhaupt menschlich?“ schreibt ein Kommentator, „Wirklich? Es ist durchaus möglich, zwei, vielleicht drei großartige Kompositionen für die Ewigkeit zu schreiben. Aber dieser Kerl hat nur Meisterwerke geschrieben!“ Da ist etwas dran, und wer einmal ein Livekonzert von Ennio Morricone miterlebt hat, weiß, dass dieser italienische Groß-Großmeister (* 10. November 1928 in Trastevere, Rom) weitaus mehr als „nur“ ein Komponist unvergesslicher Filmmusiken ist. Ennio komponierte die Soundtracks zu mehr als 500 Filmen, 30 davon waren sogenannte Spaghettiwestern; Filme, die ihre Popularität ganz wesentlich Morriciones kongenialer Musik verdanken und weniger den gleichnamigen Nudeln.
Duelle, unterlegt mit Musik
Warum? Nun, denken Sie nur an die zahlreichen, vor Spannung berstenden Duelle, unterlegt mit einer Musik, die in ihrer Gravität in nichts hinter den Akteuren vor der Kamera zurück steht. Oder an Filmanfänge wie den von Sergio Corbuccis Meisterwerk „Il Grande Silenzio“ oder von „Companeros“ des selben Regisseurs (). Der vielleicht berühmteste Filmanfang, bei dem Morricione seine Hände im Spiel hatte, ist die 13-minütige Eröffnungsszene von „Spiel mir das Lied vom Tod“. Sie kennen den Film? Sie fragen sich: „Wieso Morricone? In den 13 Minuten ist doch gar keine Musik zu hören!“ Richtig. Dafür aber eine Geräusch-Collage, die auf Anregung Morricones entstand. Und die hat es in sich. Lauschen Sie, lauschen Sie! Lauschen Sie der Fliege, den knackenden Fingergelenken, dem Wind, dem tropfenden Wasser, dem knarrenden Holz, dem eintreffenden Zug... Eine Anekdote erzählt, ein Assistent Leones habe vorgehabt, die quietschende Windmühle vor dem Dreh zu schmieren, worauf der Regisseur ihm erklärte, er werde ihn in diesem Falle töten. Ob sich das im November ereignete? Leider nein, es war im Mai, einem Monat, von dem es so gar nichts zu erzählen gibt. Vor allem nicht im November in einem Antidepressivum.
P.S. Und da Sie sich so tapfer bis hier durchgearbeitet haben, schenke ich Ihnen noch Beethovens Klavierkonzert No 1 in C Dur Op 15, gespielt von der unvergleichlichen Khatia Buniatishvili, begleitet vom Israel Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Zubin Mehta). Weder er noch Khatia haben etwas mit dem November zu tun.
P.P.S. Sollten Sie noch nicht erschöpft sein: Nehmen Sie dies.