Zitate zur Freiheit
„Vernunft ist innere Freiheit“ (Stanislaw Lem)
Ich lese den Satz als Siebzehnjähriger und winke ab: Vernunft ist die Antithese zur Freiheit. Vernunft kommt kariert und mit zwei Hemdtaschen, Vernunft trägt Spuren von Brunnen-Kreide an den Fingerkuppen, Vernunft fordert, dass man zur Begrüßung steht, Vernunft achtet auf sorgfältige Mitarbeit.
Aber sorgfältige Mitarbeit ist die Umkehrung meiner Freiheit, die besteht aus sorgfältiger Dekonstruktion. Ich lege die Fingerfertigkeit eines Origami-Falters an den Tag dabei, ziehe von zu Hause aus, baue Grammatikfehler in mein Englisch ein, dekonstruiere die Erziehungsidee meiner Eltern, indem ich benutzte Teller in den Müll werfe und mir neue im Versandhandel kaufe. Ich umkurve Vernunft. James Dean, denke ich, kann auch aus Neuwied kommen und Pickel haben, und überall in den Kleinstädten und Kinderzimmern mit PC sind es James Deans, die aus Nerdbrillen heraus wirklich vernünftig Nö sagen zum Karierten.
Ich lese den Satz als Siebenunddreißjähriger und habe eine Packung Brunnen-Kreide gekauft, um auf einer Kindertafel ein Modell des Sonnensystems aufzuzeichnen. Dabei komme ich durcheinander: Mein Sohn behauptet, es gäbe acht Planeten, ich sage, es sind neun. Ein Planet steht durchgestrichen auf der Tafel. Der Pluto. Wir führen eine lange Debatte. Der Pluto kann ja nicht verschwunden sein. Es bleibt ein Rätsel. Wir einigen uns, den Pluto in Klammern zu setzen.
In der Zwischenzeit habe ich mich informiert. Die Umlaufbahn des Pluto ist elliptisch, ein Kriterium gegen den Planetenstatus, und um ihn herum gibt es mehrere sogenannte Trans-Neptun-Objekte namens Plutinos. Seit Jahren tobt eine Debatte darüber, ob der Pluto ein Planet ist oder irgendetwas anderes. Schließlich hat sich die International Astronomic Union im Jahr 2006 dafür entschieden, dem Pluto den Planetentitel abzuerkennen und stattdessen eine neue Kategorie zu erfinden: Zwergplaneten.
Wir betrachten die Planeten, zeichnen sie neu auf und sortieren sie um. Wir setzen den Pluto in die Mitte. Nehmen den Zwerg wieder auf. Ich schneide das Zitat von Stanislaw Lem auseinander und klebe es neu zusammen zu meinem Zwergsatz: Innere Freiheit ist Vernunft. Den stecke ich mir in die zweite Hemdtasche.
Ein Zitat zur Freiheit schließt jede Ausgabe der liberal ab. Dieser Text von Christian Ulmen stammt aus unserer Ausgabe 2/2012, im aktuellen Heft sinniert der großartige Andreas Rebers (der bitte hoffentlich die “Anstalt” im ZDF übernehmen soll) über die ein Zitat von Walter Ludin: “Wer die Weite der Freiheit nicht kennt, findet die Enge des Gefängnisses gemütlich.” Erhältlich am Bahnhofsbuchhandel oder online hier.