Rainer Bonhorst / 16.11.2019 / 12:00 / Foto: DonkeyHotey / 22 / Seite ausdrucken

Brüssel als Wahlhelfer für Boris

Beliebt ist Boris Johnson in Brüssel ja nicht. Schon als Korrespondent für den Daily Telegraph hat er das Europäische Establishment mit seinen frechen und nicht immer akkuraten Berichten aus der EU-Hauptstadt geärgert. Als Galionsfigur des Brexit war er dann endgültig unten durch. Umso erstaunlicher ist es, dass Brüssel nun als Wahlhelfer für den ungeliebten Briten auftritt.

Wirklich? Naja, als unfreiwilliger Wahlhelfer natürlich. Aber das hat Tradition. Die EU-Kommissare haben mit ihren ständigen, oft kleinlichen Einmischungen in das Inselleben ja kräftig dabei mitgeholfen, im selbstbewussten Königreich eine Brexit-Stimmung zu schüren. Ohne diese unfreiwillige Mithilfe aus Brüssel wäre es wahrscheinlich gar nicht zum Brexit gekommen. Und nun tun sie es wieder. Mit plumper Hand helfen Eurokraten, Boris Johnson aufs Podest zu heben.

Wie schaffen sie das? Ganz einfach: Indem sie den Engländern ausgerechnet jetzt, mitten im Wahlkampf, ein Strafverfahren an den Hals hängen. Man kann sich vorstellen, wie eine solche Bombe in England ankommt. Die strafwürdige Tat: Johnson spielt die Komödie nicht mit, noch schnell vor dem Brexit einen Kommissar nach Brüssel zu schicken. 

Dabei hat Boris Johnson seine Gründe für die Zurückhaltung. Erstens wählen die Briten noch vor Weihnachten ein neues Parlament und damit eine neue (alte) Regierung. In so einer twilight zone zwischen zwei Regierungen ist die noch amtierende nach englischer Sitte tatsächlich in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt, wie Johnson betont. Aber die Eigenheiten der englischen Politik werden auf dem Kontinent allzu oft nur als Kuriosität wahrgenommen und nicht als Produkt einer lange gewachsenen Demokratie. Und dann ist da noch der gesunde Menschenverstand: Welchen Sinn hat es eigentlich, einen Kommissar für ein paar Monate nach Brüssel zu schicken, als Vertreter eines Landes, das dabei ist, sich aus Brüssel zu verabschieden?

Politischer Menschenverstand entfernte Verwandte

Aber Recht und Gesetz und der gesunde oder auch nur politische Menschenverstand sind bestenfalls entfernte Verwandte. Das EU-Recht verlangt in der Tat, dass jedes Mitgliedsland einen Kommissar nach Brüssel schickt. Egal ob die Mitgliedschaft kurz vor dem Verfallsdatum steht. Also hat Brüssel nach streng juristischer Logik gegen Britannien ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. 

Etwas Besseres hätte Boris Johnson im Wahlkampf gar nicht passieren können. Seht her, kann er nun allen Zweiflern sagen, Brüssel zeigt mal wieder sein wahres Gesicht. Die EU bestraft uns dafür, dass wir unseren traditionellen demokratischen Sitten und dem gesunden Menschenverstand folgen. Sie will uns zwingen, ein Heidengeld für eine Lachnummer auszugeben. Da hilft nur eins: Brexit. Nix wie weg. Besser heute als morgen. Wählt mich. Ich mach das schon.

Und die Liberaldemokraten, die für einen Verbleib in der EU plädieren, stehen da, wie begossene Pudel. In so einem Laden, der uns ständig auf die Nerven geht, sollen wir bleiben? Wollt ihr das wirklich? Die spinnen doch die Eurokraten.

Auf solche Fragen haben die europafreundlichen Liberaldemokraten sicher viele kluge Antworten. Aber Boris Johnson hat in dieser aktuellen Debatte klar den Platzvorteil. Brüssel hat ihm eine Steilvorlage geliefert. Er muss nur noch den Fuß hinhalten und zack. 

Ob er schon ein nettes Dankschreiben nach Brüssel geschickt hat? Oder hat er etwa ganz bewusst die Entsendung eines Kommissionskandidaten verweigert, um die Brüsseler zu dieser wunderbaren Strafmaßnahme zu provozieren? Zuzutrauen wäre es ihm. Er war lange genug selber dort und kennt seine Pappenheimer. Wenn das so ist, dann ist das ein gelungener Coup: Eine bevormundende und rachsüchtige EU – mehr kann sich ein Brexit-Wahlkämpfer kaum wünschen.    

 

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Leserpost

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Gerhard Rachor / 16.11.2019

Das ist ja hoch interessant, wo die EU auf geltende Regeln pocht, offensichtlich nur da, wo es ihr passt. Dagegen Maastricht, Schengen, Lissabon oder Dublin! Wurscht - das interessiert uns nicht!

Hans-PeterDollhopf / 16.11.2019

Boris und die Tories können am 12. Dezember verlieren. Der Marxist Jeremy Corbyn könnte mit Unterstützung der schottischen SNP aus dieser Wahl tatsächlich noch zum PM gekrönt werden, selbst wenn die Konservativen stärkste Partei würden. Sollte der aktuelle Vorsprung vor Labour noch im November auf sechs, sieben Prozent schrumpfen, dann wird Boris wohl den Bach runter gehen. Interessant ist, dass für Europas Wirtschaft Corbyn ein größerer Schaden wäre als der Brexit. Das Handelsblatt schrieb vor fünf Tagen: “‘Das kleinere Übel’ – Deutsche Wirtschaft bevorzugt Johnson statt Corbyn”. Gegen ihn schaut der kaputte Berliner Senat wie ein Waisenknabe aus. Selbst die politisch unreife LibDem-Führerin Jo Swinson garantierte, dass Corbyn in ihren Augen ein PM ein Katastrophenfall wäre und ihre Partei ihn niemals an die Macht hebeln würde. Vor Tagen traten hochrangige Labour-Abgeordnete, die früher selbst Regierungsmitglieder waren, aus der eigenen Partei aus und forderten die Wähler dazu auf, die Konservativen zu wählen, weil Corbyn an der Macht für GB das ultimative Sicherheitsrisiko darstelle. Und vorgestern berichtete der Daily Telegraph: “Top authors and actors refuse to vote for Jeremy Corbyn over failure to combat anti-Semitism”. Vierundzwanzig weltberühmte Autoren, darunter John Le Carré, ein großer Fan der EU und Remainer, sehen in Corbyns fanatischem Antisemitismus ein absolutes No-go. Trotzdem kann Corbyn PM werden, auch weil Nigel Farages Brexit Party mit den Tories um Wahlkreise konkurriert. Der größte Witz wäre es darum, wenn Farage noch weiter nachgibt und seine Kandidaten nicht antreten, dann aber Boris trotzdem verliert und Corbyn anschließend ein zweites Brexit-Referendum abhalten lässt.

Thomas Holzer, Österreich / 16.11.2019

Nicht nur die Verfahrenseröffnung! Hinzu kommen noch die dummdreisten Worte des Herrn Tusk, der anscheinend auch noch stolz auf diese seine öffentlichen Beschimpfungen des UK ist.

Stephan Bujnoch / 16.11.2019

Die Verfahrenseröffnung mag eine Steilvorlage für Boris sein, aber sie zeigt letztendlich, daß die Brexiteers aus ihrer Sicht recht haben. Diese EU ist ein Haufen überbezahlter, saturierter und abgehobener Idioten, denen schon lang jedes Gefühl für das Machbare und das zu Unterlassende abgeht. Sie werden mit ihrem “furor europensis” Resteuropa noch ruinieren, wie immer neue ohne Not geborene Verordnungen, welche die Industrie ins Ausland zwingen, belegen!

Stefan Riedel / 16.11.2019

Es kann gar keine neue alte Regierung geben. Es gibt keine Regierung in GB. Wenn 100 Abgeordnete gefehlt hätten, um den Brexit zu verhindern, dann wären 101 Torries übergelaufen. Sehr geehrter Herr Rainer Bonhorst, keine Panik! Es wird keinen Brexit geben. Wahlen, Referenden, who cares? Und Sie haben ja noch immer das u n a b h ä n g i g e Verfassungsgericht. Das wird es schon richten.

Uwe Schäfer / 16.11.2019

Da fällt mir nur ein: Glückwunsch Ihr Briten! Jetzt muss nur noch die Wahl gut ausgehen.

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