Eine Zeit der Demut ist angezeigt – für Politiker, aber auch für politische Beobachter wie mich selbst. Ich habe Theresa Mays Entscheid, vorzeitige Wahlen anzuberaumen, gelobt – in der Meinung, sie habe damit das Richtige getan, um ihre Stellung gegenüber der EU in den Brexit-Verhandlungen zu stärken. Niemand erwartete damals, dass die Konservativen diese Wahlen verlieren könnten – obwohl sich diese Erwartung nur auf Meinungsumfragen stützte.
Nun ist das Gegenteil eingetroffen, die Konservativen haben am Donnerstag ihre absolute Mehrheit im Parlament verspielt, Theresa May ist schwer angeschlagen und es scheint offen, ob sie diese Niederlage politisch überlebt – wie sich dieses Debakel schliesslich auf die gestörten Beziehungen zur EU auswirkt: Es steht in den Sternen. Sicher ist, Brüssel jubelt, zum dritten Mal nach dem Trump-Schock, nach den Wahlen von Holland, Frankreich und jetzt in Grossbritannien, scheint es, dass die Technokraten Europas die populistische Rebellion überstanden haben; manch einer dürfte glauben, selbst der Brexit stünde nun zur Disposition.
Selbstverständlich haben die Wähler in Grossbritannien das mit ihrer Chaos-Wahl nicht ausgedrückt: Die Liberaldemokraten, die einzige Partei, die den Brexit rückgängig machen will, haben zwar zugelegt, aber nicht in dem Masse, dass man daraus ableiten könnte, die Mehrheitsverhältnisse hätten sich drastisch verändert, was den Brexit anbelangt. Auch Labour, der faktische, erstaunliche, glänzende Wahlsieger, will den Brexit vollziehen, wenn auch vielleicht "weicher", was immer das heissen mag. Nein, das Votum ist – und das wirkt ironisch – bei näherem Hinsehen eben doch ein Triumph der Populisten, wobei ich, wie man vielleicht weiss, diesen Begriff wertneutral verwende: Theresa May wurde dafür bestraft, dass sie den Wähler vorzeitig dazu aufgefordert hat, seinen anhaltenden Ärger mit dem Status quo unter Beweis zu stellen.
May hat in ihrer kurzen Amtszeit nichts erreicht, was diesen Ärger verringert hätte. Noch ist die wirtschaftliche Zukunft ungesichert, solange der Brexit nicht verhandelt ist; noch ächzt der verarmte Norden, noch gleicht der Sozialstaat einer Ruine, und im Kampf gegen den islamistischen Terror hat May keinen Sieg vorzuweisen, sondern nur Tote und Pannen – für die sie überdies persönlich verantwortlich ist. Sechs Jahre war sie als Innenministerin für die Sicherheit zuständig – wenn, wie sich herausgestellt hat, die meisten Terroristen der Polizei bekannt und trotzdem in der Lage waren, zuzuschlagen, ist das ein Versagen, das man May zuschreiben kann. Manche Wähler haben das getan.
Es rächt sich, seine Macht zu überziehen
Mit anderen Worten, es war Hybris, als ungeprüfte Premierministerin – ohne allzu umfangreichen Leistungsausweis und ohne Not – Wahlen herbeizuführen. Eine Überheblichkeit auch, die den Wähler reizen musste, einzugreifen. So gesehen, aus einer demokratiepolitischen Sicht, ist das Resultat auch zu begrüssen. Wenn eine Parteichefin so unbescheiden die ganze und nur die ganze Macht anstrebt – man redete von einer überwältigenden Mehrheit, die sozusagen bereitlag, ihr in den Schoss zu fallen –, dann muss der Wähler sich geradezu verpflichtet fühlen zu korrigieren. Wenn an der Macht, rächt es sich in reifen Demokratien immer, diese zu überziehen: May hat es getan – und die Briten haben sie dafür untergehen lassen.
Umso mehr als mancher Wähler offenbar durchschaute, dass dieser Entscheid mehr mit Taktik als mit einem politischen Anliegen zu tun hatte: So schwach war die Stellung Grossbritanniens gegenüber der EU nämlich nicht – denn was gibt es Härteres als ein Votum von Millionen von Wählern? 52 Prozent stimmten für den Brexit. Das hätte Theresa May reichen müssen – und zu Anfang hat sie in dieser Hinsicht ja auch alles richtig gemacht, indem sie auf jedes Interpretieren, Schönreden und Schwarzmalen verzichtete: Brexit heisst Brexit!, sagte sie – und Brüssel bebte, auch wenn sich dies nur darin zeigte, dass die Kommissare so angestrengt männlich auftraten wie Halbstarke, die sich Testosteron gespritzt hatten. Es wurde also geturnt, in die Seite geboxt und Muskeln gezeigt, man liess sich einen Bart wachsen und redete mit tiefer Stimme. Tatsächlich fühlten sich die Brüsseler zutiefst verunsichert. Dieses Gefühl dürfte May nun aus der Welt geschafft haben
Nein, May dachte wohl mehr an ihre eigene Stellung. Es dürfte ihr weniger darum gegangen sein, die EU mit einer grösseren parlamentarischen Mehrheit zu erschrecken, sondern viel mehr lag ihr daran, die eigene Partei endgültig in den Griff zu bekommen – nicht zuletzt jene schwer berechenbaren neoliberalen, konservativen oder euroskeptischen Kräfte des Thatcher-Flügels. Je grösser ihre Mehrheit im Parlament, desto weniger war sie auf diese Querulanten angewiesen, desto weiter öffnete sich der Manövrierraum nach links. Denn innenpolitisch hatte May Seltsames vor: Sie gehörte seinerzeit jener Schule an, die die Tories für eine "nasty party", für eine hässliche Partei hielten, eine herzlose, kalte, eben neoliberale Organisation, was man der grossen Margaret Thatcher anlastete. May war einst eine eher anti-thatcheristische Parteifunktionärin – woran man spätestens vor wenigen Wochen erinnert wurde, als die Konservativen ihr Wahlprogramm, ihr "Manifesto", vorlegten.
In manchen Fragen rückten die Tories auf Initiative von May und ihren Beratern hier unanständig weit nach links, als ob sie die Chance witterten, Labour nun definitiv zu begraben – jetzt, da die Linke unter einem linksextremen Parteichef, Jeremy Corbyn, sich programmatisch ins politische Nirwana verabschiedet zu haben schien. Als ob die britische Premierministerin die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel imitieren wollte, die die SPD erledigt hatte, indem sie die CDU zu einer halblinken Partei gemacht hat, schob May ihre Tories in der Sozial- und Wirtschaftspolitik nach links. Nicht einmal Steuererhöhungen schloss sie aus, was ihr ebenso zentristischer Vorgänger David Cameron immerhin noch getan hatte. Wer wirklich konservativ dachte in Grossbritannien, konnte nur mit zunehmendem Horror dieses Manifest des linksliberalen Wischiwaschis lesen – und am Wahltag blieb er konsequenterweise zu Hause, wie wir heute wissen.
Beton-Sozialisten und Umverteilungs-Champions können gewinnen
Wahrscheinlich müsste May nun zurücktreten. Denn sie hat alles nicht erreicht: Gegenüber der EU steht Grossbritannien nun gespalten und ohne Regierung da, schwächer schien das Land nie zuvor, die Tories sind gedemütigt und zerstritten, und Labour, die Partei, die dem sozialen Tod geweiht schien, hat sich viel, viel rascher erholt, als dies sämtliche Kommentatoren erwartet hatten. Auch das hat mit dem Triumph der Populisten zu tun, wenn auch der linken: Das Misstrauen gegenüber den etablierten politischen Eliten ist in allen Milieus so ausgeprägt, dass auf der linken Seite wohl nur mehr Leute wie Corbyn gewinnen können, also Beton-Sozialisten und Umverteilungs-Champions, linksextreme Traumtänzer und Terroristen-Freunde.
Bernie Sanders hat das in den USA angedeutet. Was man Corbyn aber zugute halten muss: Anders als May hat er politische Anliegen vorgetragen, er hat die grossen Fragen der Gegenwart gestellt und seine skurrilen Antworten gegeben. Gleichheit, Gerechtigkeit, eine andere, bessere Welt. May dagegen blieb oft unbestimmt, fast unideologisch, wertfrei, technokratisch. Damit gewinnt man keine Wahlen (mehr). In der Wüste des Ungefähren verdurstet jeder Politiker.
Hat die EU gesiegt? Brüssel, so scheint es, geht davon aus. Auch den Brexit – wie Trump – will man bereits im Orkus der Geschichte gesichtet haben. Was stört, gibt es nicht: Es ist vielleicht dieser merkwürdige Realitätssinn, der die EU-Eliten zu so einem gefährlichen Establishment macht. Als ob wir eines Beweises dieser Mangelerscheinung bedurft hätten, hat sich Martin Schulz sogleich zu Wort gemeldet, der höchst angeschlagene SPD-Chef, und erklärte, er hoffe, der Anti-EU-Kurs der Theresa May sei damit beendet, also gescheitert. Das ist fast ein Trost: Denn ich kenne kaum einen Politiker, der ein weniger gutes Gespür für Politik besitzt als Martin Schulz. Immerhin, möglich ist es: dass auch die mutigen Briten schon den Mut verloren haben und auf einen Brexit bauen, der alles beim Alten lässt.
Theresa May hat nicht hoch gepokert und verloren. Im Gegenteil. Sie machte, was so ohne Risiko schien, sie tat, was ihr alle Berater (und Journalisten) nahelegten, weil die Meinungsumfragen doch so günstig wirkten, weil man über Labour lachte, weil diese Wahl so unverlierbar war – bis sie verloren hatte. Demut gegenüber der launenhaften Realität – daran fehlte es auch.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung hier.