Vera Lengsfeld / 03.05.2020 / 16:00 / 6 / Seite ausdrucken

Briefe aus Katyn

Das Massaker von Katyn gehört zu den größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges. Auf direkten Befehl von Stalin wurden zwischen dem 3. April und dem 11. Mai 1940 etwa 4.400 Kriegsgefangene, Generäle, Offiziere und Soldaten in einem Wald bei Katyn, einem Dorf, 20 Kilometer westlich von Smolensk, erschossen. Das war Teil eines Massenmordes an 22.000 bis 25.000 Berufs- oder Reserveoffizieren, Polizisten und Intellektuellen, die zu den Vorkriegseliten der Zweiten Polnischen Republik gehörten. Die schiere Zahl lässt die individuellen Menschen mit ihren Sehnsüchten und Hoffnungen verschwinden.

Nach ersten Exhumierungen 1943, die unter internationaler Beobachtung stattfanden, weil die Nationalsozialisten den nachweisbaren Fakt der sowjetischen Täterschaft propagandistisch auszuschlachten gedachten, brauchte die Sowjetunion nach Kriegsende ein anderes „offizielles“ Obduktionsergebnis. Deshalb wurden die Leichen der polnischen Offiziere im Oktober 1945 erneut exhumiert und untersucht. Sieben Schädel hatte man ans Institut für Rechtsmedizin in Breslau gebracht. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass einer der Schädel einer Frau gehörte. Aus Angst vor dem NKWD und den polnischen Sicherheitsbehörden wurde diese Tatsache nicht bekanntgemacht. Erst im Mai 1997 wurde das Geheimnis enthüllt. Die polnische Schriftstellerin Maria Nurowska hat dieser Frau und ihren Kameraden in ihrem neuen Roman „Briefe aus Katyn“ ein Gesicht gegeben. Sie erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, der Pilotin Janina Lewandowska, Europameisterin im Fallschirmspringen, rebellische Tochter des Generals Dowbor-Musnicki, eines der erfolgreichsten und geachtetsten Militärs Polens.

Bei Kriegsausbruch bietet Janina Lewandowska ihre Flugfähigkeiten der polnischen Armee an, wird aber – kaum hat sie die passende Einheit erreicht – von den vorrückenden sowjetischen Truppen gefangen genommen. Maria Nurowska erzählt ihre Passion in Form von Tagebuchaufzeichnungen, die Janina Lewandowska im Gefangenenlager als Briefe an ihren Mann angefertigt hat. Mieroslaw Lewandowski, auch Flieger, flog mit Kameraden den ersten Einsatz der polnischen Luftwaffe gegen die angreifende Wehrmacht. Er wurde abgeschossen, konnte aber notlanden und sich verwundet in Sicherheit bringen.

Im Roman gibt es zwei Erzählstränge: Die Berichte von Janina aus dem Lager und vom letzten Transport nach Katyn sowie die Flucht Mieteks aus dem besetzten Polen nach Frankreich, seine Teilnahme am Luftkampf gegen die Deutschen in England und seine Suche nach Janina nach Kriegsende.

„Hoffentlich ist es kein verfluchter Ort“

Dank der hohen Erzählkunst Nurowskas, bekommt man nicht nur eine gute Vorstellung von den Zuständen im sowjetischen Kriegsgefangenenlager, sondern auch vom Schicksal der polnischen Freiwilligen in der britischen Armee. In Frankreich angekommen, erlebt Mietek, wie schlecht das Land auf den Krieg vorbereitet und wie gering seine Lust ist, sich zu verteidigen. Frankreich kann mit polnischen Freiwilligen nichts anfangen. Mietek wird deshalb weiter nach England geschickt, wo er nach vielem Hin und Her mit anderen Polen in speziellen Verbänden in die Kampfeinheiten der Royal Airforce eingegliedert wird. Trotz ihrer Verdienste will das Königreich nach Kriegsende die Polen so schnell wie möglich wieder loswerden. Sie werden gedrängt, nach Polen zurückzukehren, obwohl das inzwischen zum sowjetischen Einflussbereich gehört und die Angehörigen der Heimatarmee, die im Untergrund gegen die deutsche Besatzung gekämpft hat, brutal verfolgt werden. Wer bleibt, ist Bürger zweiter Klasse und bekommt keine Arbeit, oder nur eine Tätigkeit, die von den Briten verschmäht wird. Dies gehört zu den nach wie vor unaufgearbeiteten Geschichten des Zweiten Weltkrieges, der erst wirklich überwunden sein wird, wenn die ganze Wahrheit bekannt ist.

Die vorletzte Station von Janina ist Koselsk, eine kleine Stadt im Oblast Kaluga. Drei Kilometer von Koselsk entfernt befindet sich das russisch-orthodoxe Kloster Optina Pustyn, benannt nach dem Räuber Opta, der hier im 15. Jahrhundert als Makarios (russisch Makari) eine Einsiedelei gründete. Der Ort war für seine Schönheit berühmt. Er zog viele berühmte Persönlichkeiten an, wie Nikolai Gogol und Fjodor Dostojewski, aber auch Rasputin, der unheimliche Mönch, was Janina schreiben lässt: „Hoffentlich ist es kein verfluchter Ort“. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde das Kloster geschlossen, 1987 der Russisch-Orthodoxen Kirche zurückgegeben und wiedereröffnet. Bei Wikipedia findet man keine Erwähnung, dass in der Zwischenzeit das Kloster vom NKWD als Lager genutzt wurde.

Die Verhältnisse im Kloster waren von grauenvoller Enge geprägt. An die 500 Männer schliefen in einem Saal auf dreistöckigen Pritschen. Die Luft war zum Schneiden dick, und der Gestank, der von Körpern ausgeht, die kaum gewaschen werden können, ist schwer erträglich. Janina bekommt einen eigenen Verschlag unter einer Treppe, was sie als großes Glück empfindet. Außerdem trägt sie ihren Piloten-Overall, der sie vor der grimmigen Januarkälte schützt. Das Essen ist knapp bemessen, aber erträglich. Im Lagerkiosk kann man Lebensmittel kaufen, wovon die Inhaftierten Gebrauch machen können, denn man hat ihnen nicht das Geld abgenommen.

Hier ist tatsächlich die Blüte der polnischen Intelligenz versammelt. Es gibt Vorträge, Lesungen, Konzerte, Diskussionen, Seminare, Sprachkurse. Die Lagerleitung duldet all diese Aktivitäten, weil sie helfen, die Gefangenen ruhig zu halten. Alle Gefangenen werden sorgfältig registriert und ausgiebig verhört. Als Janina an der Reihe ist, stellt sie fest, dass der NKWD-Offizier ganz genau weiß, wer sie ist, obwohl sie versucht hat, mit falschen Angaben ihre Identität zu verschleiern.

Hoffnung auf die Alliierten

Bei der Exhumierung ihrer Leichen hat man zahlreiche Tagebücher, Briefe und andere Aufzeichnungen der Ermordeten gefunden. Manche Notizen reichen bis zum Erschießungsplatz. In diesen Aufzeichnungen wird Janina, die „Fliegerin“, häufig erwähnt. Ihre Würde, mit der sie die Gefangenschaft ertrug, ihre Bereitschaft, Mithäftlingen in seelischen Krisensituationen zu helfen oder Kranke zu pflegen, waren bald legendär. Sie wurde im Lager von den Generälen wegen ihrer vorbildlichen Haltung feierlich zum Unterleutnant befördert.

Häufig wird auch ein kleiner Hund erwähnt, der Janina zugelaufen war und der bald zum Liebling der Gefangenen wurde. Wegen seiner Neigung, den Wärtern an die Hosenbeine zu gehen, durfte er nicht frei herumlaufen. Kurz vor der Deportation gelang es ihm, zu entwischen. Auf der Suche nach Janina lief der Hund einem NKWD-Offizier über den Weg, den er prompt attackierte, was er mit dem Leben bezahlte.

Es war immer klar, dass es sich bei diesem Kloster um ein Durchgangslager handelte. Der Hautgesprächsstoff bestand also darin, was die Sowjets mit ihnen machen würden. Die Generäle waren überzeugt, dass alle bald entlassen, oder den Alliierten übergeben werden würden. Die Polen konnten nicht ahnen, dass die Alliierten kein Interesse an ihnen hatten.

Anfang April begannen die Deportationen. Kurz zuvor hatte es eine allgemeine Impfung gegen Cholera gegeben, was die Zuversicht verstärkte, dass sie übergeben oder entlassen werden. Warum sollte man die teuren Impfungen sonst verschwenden? In Wahrheit handelte es sich um ein perfides Täuschungsmanöver, um die Gefangenen ruhig zu halten. Jeden Tag gingen nun Transporte ab. Einige russische Offiziere boten an, die Wertsachen der Gefangenen aufzubewahren, damit sie beim Transport nicht beschädigt würden.

Janina musste am 21. April mit ihren Kameraden einen Waggon für Viehtransporte besteigen, der jetzt von den Sowjets für Gefangene benutzt wurde. Sie bekamen keinerlei Auskunft, wohin die Reise ging. Am Morgen des 22. April sahen sie goldene Kuppeln in der Morgensonne glänzen, von denen einer der Gefangenen wusste, dass sie zur orthodoxen Kirche von Smolensk gehörten.

„Wir waren alle sehr aufgeregt, als es uns gelang, aufgrund der Richtung, in die der Schatten fiel, unsere Fahrtrichtung zu bestimmen: Nordwesten. Kameraden, rief jemand, wir fahren nach Polen.“ Aber nach wenigen Kilometern hielt der Zug erneut, diesmal auf freier Stecke. Das Aussteigen begann. Die Gefangenen standen auf freiem Feld, das schon den Geruch des Frühlings ausstrahlte. Die Sonne schien. Es war wunderschön.

Dann kamen die seltsamen Busse mit den übermalten Fenstern. Beim Einsteigen wurden den Gefangenen Uhren, Füllfederhalter, Eheringe und andere Wertgegenstände abgenommen. Ein Offizier hatte seine Uhr in weiser Voraussicht ins Mantelfutter eingenäht. Da wusste Janina, dass sie gerade ihr „zweiunddreißigstes Wanderjahr in dieser Welt“ begonnen hatte, als sich der Bus in Bewegung setzte. Man hat sie an ihrem Geburtstag erschossen. Erst im November 2005 wurde ihr Schädel im Grab ihrer Familie in Lusowo in allen Ehren beigesetzt.

Maria Nurowska: Briefe aus Katyn

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Leserpost

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P. Wedder / 03.05.2020

@alma Ruth 1939 schlossen Hitler und Stalin einen Nicht-Angriffspakt. Noch im selben Jahr marschierten beide Länder getrennt in Polen ein und brachen damit jeweils internationales Völkerrecht. Polens Bündnispartner Großbritannien kam nicht zu Hilfe. Intellektuelle und hohe Militärs galten aufgrund ihrer Bildung als Gefahr für den Besetzenden. Diesem „Überfall“ auf Polen ist ein Großteil der Abneigung der Polen ggüber der Sowjetunion zu „verdanken“. Erst Juni 1941 brach Hitler den Angriffspakt.

Konrad Kugler / 03.05.2020

Ich hole etwas aus: Antisemitismus ist eine Ideologie und hat mit Vernunft wenig zu tun. Israel betrachtet die Bibel als Grundbuch. Die Araber würden die Israeli ins Meer treiben, wenn sie könnten. Die ganze Welt würde höchst indigniert zuschauen. Der Apostel Paulus sagt: Jede Regierung kommt von Gott. Jesus sagte zu Pilatus: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie Dir nicht von oben (dem Kaiser und dem von Gott) gegeben worden wäre. Seit Jahren beschäftigt mich die Frage: Womit haben sich die Russen Lenin und Stalin verdient, die Deutschen Hitler und die Polen nicht nur Stalin und Hitler, sondern auch noch eine verrückt gewordene imperialistische Regierung? Der Nationalismus war sogar beim Klerus entartet. Dazu kamen in letzter Zeit seriöse Informationen über das Verhalten der Polen gegenüber der deutschen Minderheit seit 1919 bis 1939, die in ihrer Fülle unerträglich sind. Eine unglaubliche Verhetzung durch die Intelligenz führte zu unmenschlichem Verhalten. Hat Stalin aus anderen Motiven aber indirekt die polnische Intelligenz dafür gestraft?

Holger Schönstein / 03.05.2020

Ich werde das Buch checken.

Karla Kuhn / 03.05.2020

“Das Massaker von Katyn gehört zu den größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges. ”  Es ist gut, Frau Lengsfeld, daß Sie auf das (eine) Verbrechen von diesem Schwerverbrecher Stalin hinweisen. Für mich ist es nicht zu fassen, daß dieser Lump noch bis zu seinem Tode in der UdSSR nach seinem Gusto wüten konnte. Und in der DDR wurde der noch geehrt. Allerdings würde ich es anders betiteln, “.......MIT zu den größten Kriegsverbrechen .....”  Denn das größte war und ist für mich das unvorstellbare Martyrium an den Juden, von denen ca. SECHS Millionen vergast oder anders ermordet wurden.

giesemann gerhard / 03.05.2020

Erschütternde Geschichte - kommt sowas bald wieder?

alma Ruth / 03.05.2020

Ich dachte, die Alliierten benahmen sich nur mit den Juden so schweinisch. Daß sie sich mit Polen, die gegen die Deutschen kämpften, auch so verhielten, wußte ich nicht.  Warum? kann mir jemand das erklären? Wie auch immer, so dankbar ich den Allierten auch bin, und ich bin ihnen sehr dankbar, die Verantwortlichen für solche Unmenschlichkeiten sollen ewig in der tiefsten Hölle schmoren. Irdisch kann man sie ja nicht mehr bestrafen. alma Ruth

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