Hans Scheuerlein, Gastautor / 05.08.2023 / 15:00 / 3 / Seite ausdrucken

Bobbi Humphrey: 50 Jahre „Blacks and Blues“

Beim Hören des dritten Albums der amerikanischen Jazz-Flötistin Bobbi Humphrey können einem Sonnenbrille, Swimming Pool, Liegestühle und Longdrinks in den Sinn kommen. Wer sich in Sachen Soul, Jazz und Funk etwas auskennt und sich stellenweise an die Musik des Jazz-Trompeters Donald Byrd in den frühen 70ern erinnert fühlt, liegt damit goldrichtig.

In Anbetracht der vielen echten und unechten – in ihren öffentlichkeitswirksamen Auswüchsen aber nicht minder fatalen – Krisen komme ich mir mit meinen 50-Jahres-Schallplattenbesprechungen zunehmend blöd vor. Aber woraus, wenn nicht aus dem Schönen, soll man denn sonst Freude und Optimismus schöpfen? Schönheit ist Balsam für die Seele und kann Glücksgefühle erzeugen wie auch Hoffnung und Zuversicht spenden. Sie ist ihrem Wesen nach etwas ganz anderes, in gewisser Hinsicht sogar das Gegenteil von Kitsch. Kitsch ist oberflächlich und wirkt unmittelbar. Wahre Schönheit dagegen liegt nicht selten im Verborgenen und offenbart sich erst nach und nach. Es gehört zum Wesen wahrer Schönheit, dass ihr eine gewisse Ambivalenz innewohnt; eine Art energetische Diskrepanz, aus der sie ihre ästhetische Strahlkraft bezieht. Und natürlich ist es eine höchst subjektive Angelegenheit, was jemand als „schön“ oder „hässlich“ (oder als „schön hässlich“) empfindet. Das Schöne entspringt primär der Natur – und durch sie vermittelt: den Künsten.

Insbesondere die Musik hat die phänomenale Eigenschaft, in uns eine tiefempfundene Entzückung auszulösen, die sich sogar körperlich manifestieren kann: Sie lässt uns eine Gänsehaut bekommen, macht uns einen Kloß im Hals und treibt uns die Tränen in die Augen – ja, kann uns sogar zum Weinen bringen. Das ist enorm; geradezu mysteriös! Deshalb bin ich der Überzeugung: Kunst muss schön sein (was auch immer im Einzelnen als „schön“ empfunden werden mag). Andernfalls vergeudet sie das in ihr angelegte Potenzial, Menschen tief in ihrem Innern berühren zu können. Ich glaube, es war der amerikanische Folksänger Phil Ochs, der einmal so etwas Ähnliches sagte, wie: „In hässlichen Zeiten ist Schönheit der einzig wahre Protest.“ Wohlan, so lasst uns denn der Schönheit frönen und neuen Kraftstoff tanken für die kritische, gut gerüstete Widerrede gegen das Unechte, Verkehrte und Hässliche.

Die fünfzigjährige Schallplatte, um die es heute gehen soll, ist vielleicht weniger dazu geeignet, die tiefliegendsten Emotionen zu triggern, als vielmehr den aktuellen Moment zu verschönern. „Blacks and Blues“ ist bereits das dritte Album der US-amerikanischen Jazz-Flötistin Bobbi Humphrey, die auf dem Plattencover nicht nur hübsch anzusehen ist, sondern auch die erste Frau war, die von dem legendären Jazz-Label Blue Note Records unter Vertrag genommen wurde (ist ja auch was Schönes!). Das war 1971, nachdem die 1950 im texanischen Marlin geborene Afroamerikanerin schon mit Jazz-Größen wie dem Flötisten Herbie Mann, dem Saxophonisten Julian Edwin „Cannonball“ Adderley oder dem Trompeter Lee Morgan zusammen gespielt hatte. Zuvor war kein Geringerer als Dizzy Gillespie bei einem Talentwettbewerb auf sie aufmerksam geworden und hatte ihr den Rat gegeben, schleunigst ihre Siebensachen zu packen und nach New York zu gehen.

Eine Clique von exquisiten Musikern

Schon am dritten Tag nach ihrer Ankunft im Big Apple stand sie mit Duke Ellington auf der Bühne. Und nach einem Auftritt bei der Amateur Night im legendären Apollo wurde sie von dem Musikproduzenten George Butler für das Blue Note-Label unter Vertrag genommen. Noch im selben Jahr erschien ihr Debütalbum „Flute In“, das in nur zwei Tagen von Butler im Studio von Rudy Van Gelder in Englewood Cliffs, New Jersey produziert wurde und bei dem auch Lee Morgan mit von der Partie war. Für ihre zweite Scheibe „Dig This!“, die im Sommer 1972 auf den Markt kam, konnten unter anderem der vielbeschäftigte Jazz-Bassist Ron Carter und der aufstrebende Schlagzeuger, Komponist und Arrangeur Alphonse Mouzon gewonnen werden.

Für die Aufnahmen zum dritten Album begab sich Humphrey zur Abwechslung an die Westküste der Vereinigten Staaten, nach Los Angeles, wo für sie die renommierte Sound Factory in Hollywood gebucht war. Das merkt man der Musik auf der Scheibe auch irgendwie an, als einem beim Hören durchaus Sonnenbrille, Swimming Pool, Liegestühle und Longdrinks in den Sinn kommen können. Wer sich in Sachen Soul, Jazz und Funk etwas auskennt und sich stellenweise an die Musik des Jazz-Trompeters Donald Byrd in den frühen Siebzigern erinnert fühlt, liegt damit goldrichtig. Denn wie dessen erfolgreichstes Album „Black Byrd“, das ebenfalls 1973 erschien und für lange Zeit die meistverkaufte Veröffentlichung des Blue Note-Labels war, wurde auch Humphreys „Blacks and Blues“ von den beiden Mizell-Brüdern produziert. Alphonso „Fonce“ Mizell und sein jüngerer Bruder Larry waren zu Beginn der Siebzigerjahre nach Kalifornien gegangen, um sich mit ihrer Musikproduktionsfirma Sky High Productions selbständig zu machen.

Sie konnten damit vor allem bei den renommierten Blue Note Records landen, wo sie eine ganze Reihe von Jazz-, Fusion- und R&B-Alben produzierten, die tonangebend für den Sound dieser Ära werden sollten. Fonce Mizell war zuvor Mitglied des vierköpfigen Songwriting- und Produktionsteams The Corporation gewesen, das Motown-Chef Berry Gordy 1969 eigens für seinen damaligen Neuzugang The Jackson 5 ins Leben gerufen hatte. Neben Gordy und Mizell gehörten dazu noch Freddie Perren und Deke Richards, die alle zusammen die frühen, großen Hits der Jackson-Brüder geschrieben und produziert hatten. Dazu zählen so wunderbare Songs wie „I Want You Back“, „ABC“ oder „The Love You Save“, bei denen mir jedes Mal das Herz aufgeht, insbesondere, wenn ich den kleinen Michael Jackson dazu singen und tanzen sehe. Es gibt für mich in der gesamten Popmusik nichts Schöneres!

Eines der Geheimrezepte der Mizell-Brüder war der Einsatz einer ganz bestimmten Clique von exquisiten Musikern. Dazu gehörten Leute wie der Pianist Jerry Peters, der Bassist Chuck Rainey, der Schlagzeuger Harvey Mason und die Gitarristen David T. Walker und Melvin Ragin alias Wah Wah Watson. Bis auf den Letztgenannten (leider!) waren alle auch bei „Blacks and Blues“ mit an Bord. Darüber hinaus wird bei fast jedem der sechs Albumtracks auch gesungen. Zumeist im Chor, der sich aus den beiden Mizell-Brüdern, dem Toningenieur Chuck Davis und dem alten „The Corporation“-Mitstreiter Freddie Perren zusammensetzt, der zudem auch noch den regelmäßig wiederkehrenden ARP Odyssey-Synthesizer bedient, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Scheibe zieht.

Zweimal als beste Instrumentalkünstlerin ausgezeichnet

Besonders prominent ist dieser gleich im Opener „Chicago, Damn“ zu hören, wo er nach dem groovigen Intro und der ersten gesungenen Strophe den Instrumentalpart übernimmt. Es dauert geschlagene 2 Minuten und 10 Sekunden, bis sich Humphrey das erste Mal die Ehre gibt und in ihre Flöte pustet. Schon beim Einstieg in ihre Improvisation hört man die Bekanntschaft zu Herbie Mann heraus. Und bestimmt war auch der große Hubert Laws ein prägender Einfluss. Humphreys Spiel ist allerdings melodischer; auf gewisse Weise vielleicht sogar femininer. Oder ist es einfach nur ihre Affinität zu R&B- und Doo-Wop-Melodien, die ihre Stilistik irgendwie luftiger, leichtfüßiger erscheinen lässt?

Wie auch immer. Es ist schlichtweg eine Freude, ihr dabei zuzuhören, wie sie sich in den Flow einklinkt und mit davontragen lässt. Das gilt in gleicher Weise auch für das zweite Stück „Harlem River Drive“, das insgesamt noch etwas flockiger daherkommt. Bei der dritten Nummer „Just a Love Child“ hat Humphrey dann ihr Debüt als Sängerin, das sie gekonnt und mit viel Charme meistert. Ihre Stimme klingt jung und quirlig. Eigentlich genauso wie ihr Flötenspiel, das im Titeltrack „Blacks and Blues“ und dem darauffolgenden „Jasper Country Man“ neue Höhepunkte erreicht. Herrlich, wie sich Humphreys förmlich von der Spielfreude der Band mitreißen lässt. Und mit dem eher getragenen letzten Stück namens „Baby's Gone“, bei dem sie sich auch noch mal als Sängerin zurückmeldet, endet ein rundes, in sich geschlossenes Album, das nicht nur ein Highlight im Schaffen der Mizell-Brothers darstellt, sondern auch zum größten Erfolg der Flötistin werden sollte.

Die Verkaufszahlen von „Blacks and Blues“ wurden sicherlich auch angefeuert durch Humphreys aufsehenerregenden Auftritt beim siebenten Montreux Jazz Festival, das im Juni und Juli 1973 über die Bühne ging. Das Konzert wurde im darauffolgenden Jahr als „Bobbi Humphrey Live: Cookin' with Blue Note at Montreux“ veröffentlicht. In den Jahren 1974 und 1975 folgten noch zwei Studioalben mit den Mizell-Brüdern, bevor Humphrey dann Blue Note verließ und zu Epic Records wechselte. Grund dafür war, dass sie trotz verhältnismäßig hoher Albumverkäufe nur wenig von den Erlösen sah. Vielleicht auch deswegen entschied sie sich, die Seiten zu wechseln und selbst im Musikbusiness tätig zu werden. Sie gründete eine Künstleragentur und einen eigenen Musikverlag. Nichtsdestoweniger wirkte sie als Gastmusikerin bei Aufnahmen so namhafter Kollegen wie Elton John, Marvin Gaye oder Stevie Wonder mit. Etwa zur selben Zeit erhielt sie vom renommierten Billboard Magazine zweimal die Auszeichnung als beste Instrumentalkünstlerin.

1994 brachte Humphrey ein Album namens „Passion Flute“ auf ihrem eigenen Label Paradise Sounds Records herausdas bis dato ihre letzte eigene Veröffentlichung bleiben sollte. In der Folgezeit trat sie insbesondere als Live- und Sessionmusikerin in Erscheinung und gab Konzerte rund um den Globus. Ihr Smooth Jazz, in dem sich Elemente aus Soul, Jazz, Funk und Fusion vermischen, wurde zwischenzeitlich von einer ganz neuen Generation von Musikern entdeckt, die Schnipsel aus ihren Stücken als Samples für ihre Grooves verwendeten. Die charakteristische Bassfigur ihres „Harlem River Drive“ gilt als eine der meist gesampleten Basslines des Hip-Hop-Genres. Barbara Ann „Bobbi“ Humphrey feierte im vergangenen April ihren 73. Geburtstag.

YouTube-Link zum Opener „Chicago, Damn“ – einfach mal laufen lassen, sich chillig irgendwo hinfläzen und von der Musik wegtragen lassen...

YouTube-Link zu Humphreys bekanntestem Stück „Harlem River Drive“ mit Bildern aus ihrer Karriere

YouTube-Link zum Titeltrack „Blacks and Blues“

 

Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.

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Günter Fuchs / 05.08.2023

So ist es Herr Scheuerlein, schöne Musik lässt mich das Land der „Blöden und Bekloppten” einigermaßen ertragen! Songs der “Harptones (I’ll Never Tell), Cardinals (The Door Is Still Open), Four Tops (Once Upon A Time) , Temptations (I Wish It Would Rain) Impressions (I Need To Belong To Someone)” oder ähnliche lenken ab von der poltischen Idiotie, die zur Zeit in diesem Land grassiert! Was den Jazz anbetrifft, ist für mich das “Dave Brubeck Quartet“ immer noch das “Maß aller Dinge”, aber „Harlem River Drive” ist auch sehr schön anzuhören, vielen Dank für den Hinweis!

Ludwig Luhmann / 05.08.2023

Really cool, aber doch ein bisschen stressig. Erinnert mich an den Soundtrack von “Three Tough Guys” von Isaac Hayes.

Bernhard Piosczyk / 05.08.2023

Übrigens, sehr empfehlenswert Joachim Ernst Berendt “Das Jazz Buch”. Für Jazz, Blues interessierte ein “muss”. Bobbi Humphrey kannte ich gar nicht. Spezial Wissen ?

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