Roger Letsch / 21.12.2017 / 17:33 / Foto: Tim Maxeiner / 8 / Seite ausdrucken

Bitte nicht stören – Staatsgläubigkeit auf Sendung

Von Roger Letsch.

Die deutsche Medienlandschaft ist derzeit führerlos; ihr fehlt die offizielle Regierungsagenda, an der entlang sie senden und schreiben könnte. Stattdessen kapriziert man sich immer auf’s Neue auf die drei Eckthemen, die noch unter der letzten Regierung zur gemeinschaftlichen Züchtigung freigegeben wurden: Trump, AfD und Brexit (und ganz neu auch noch ein bisschen Kurz). Das geht immer, da machst’ nix falsch – und ausgerechnet die Macht des demokratischen Parlamentarismus kommt in dieser Art der politischen Betrachtung leider nicht gut weg.

„Das britische Parlament hat Theresa May vorgeführt: Die Premierministerin musste erstmals erleben, wie sich ihre eigenen Leute bei einer Brexit-Entscheidung gegen sie stellen“, schreibt etwa der Spiegel über die Entscheidung des britischen Unterhauses, nicht jeden Deal der Premierministerin kommentarlos durchwinken zu wollen, sondern über die Tauglichkeit jedes „Deals“ mit der EU das Parlament abstimmen zu lassen. Kübelweise fließt die deutsche mediale Häme, May habe ihren Laden nicht im Griff, sei geschwächt, denn „ihre eigenen Leute“ stellten sich gegen sie. Ein Parlament, das seine Regierung kontrolliert – in deutschen Augen eine Ungeheuerlichkeit!

Hier wird auf beschämende Weise deutlich, was man in Deutschland – und dort besonders bei seinen selbsternannten Leitmedien – unter Demokratie versteht und worin man die Rolle eines Parlaments sieht. Denn wenn ein solches nicht als Abnickverein eine Simulation von Einheit und Größe darstellt und nicht nur Ort für unverbindliches politisches Geplänkel ohne Konsequenzen ist, reagiert man irritiert. Die wirklich wichtigen Entscheidungen werden in Deutschland von der Regierung getroffen, der das Parlament vorher Plazet erteilt haben soll. Die Briten sehen das offensichtlich anders.

Der alte deutsche Traum von Größe, der sich in vergangenen Zeiten in territorialer Expansion oder ideologischen Wahnvorstellungen erging, wird heute in Form von Einfluss, Wichtigkeit und dem Platz des deutschen Regierungschefs in der Rangliste der Mächtigen gemessen. So reagiert man auf das britische Ansinnen, Mays Verhandlungen einer finalen parlamentarischen Prüfung zu unterziehen, mit Unverständnis und der Wahrnehmung von Schwäche, wo doch eigentlich Stärke zu erkennen ist. Demokratische, parlamentarische Stärke. In der deutschen Interpretation beruht ein funktionierendes demokratisches politisches System jedoch nicht auf inhaltlicher Stringenz und klaren Ideen, sondern nur auf einer bedingungslosen numerischen Überlegenheit, ohne die sich unsere ewige Kanzlerin in keine Schlacht wagt, und sei sie noch so klein.

Demokratieverständnis einer „Mehrheit auf Vorrat“

Dieses Demokratieverständnis einer „Mehrheit auf Vorrat“ – das deutsche Wort dafür ist „Koalitionsvertrag“ –  scheint auch der Grund dafür zu sein, dass unsere Medien so verzweifelt die bisher glücklosen Versuche begleiten, eine Regierung zu bilden, anstatt sich auf das zu fokussieren, was unsere Wahl im September eigentlich hervorgebracht hat – ein beschlussfähiges und repräsentatives Parlament.

Dass wir nämlich ein (theoretisch) funktionierendes Parlament haben, fällt den wenigsten auf, nicht zuletzt den Parlamentariern selbst, die sich derzeit in kindischen Abwehr- und Verweigerungsschlachten an der AfD abarbeiten, und Beschlüsse weitgehend nur dort zustande kommen, wo es um die Erhöhung der Diäten oder um die Verlängerung von Einsatzmandaten für die Bundeswehr geht.

Zwar wird man nicht müde zu versichern, die „abtrünnigen“ Wähler der AfD zurückgewinnen zu wollen, die, verführt und vom rechten (linken) Wege abgekommen, nur darauf warten würden, dass die echten Politiker sie endlich „abholen“ und „mitnehmen“. Gleichzeitig zeigt man diesen Wählern jedoch die volle Breitseite der Verachtung, indem man die Fraktion der AfD bei gemeinsamen Beschlussfassungen – etwa bei der Verbesserung des Opferschutzes bei Terroranschlägen – einfach mit dem Hinweis übergeht, man würde prinzipiell nicht mit ihnen zusammenarbeiten, ganz gleich, um was es ginge. Diese Haltung erinnert mich an ein Bonmont aus dem letzten Jahr. Ein Politiker, dessen Name mir leider entfallen ist, sagte sinngemäß: „Und wenn die AfD sagt, heute sei schönes Wetter, müssen wir sagen: Nein, heute ist sehr schönes Wetter!“ Durch derlei kindische Spielchen wird das Wetter aber weder draußen noch im Parlament besser.

Doch zurück nach England und ins Unterhaus, wo es Mays Kontrahenten gelungen war, auch einige Abgeordnete der Tories dazu zu bringen, gegen die Premierministerin zu stimmen. Dies zeigt deutlich, was geschehen kann, wenn Abgeordnete in der Tat nur ihrem Gewissen verpflichtet und keiner Fraktionsdisziplin unterworfen sind. Auch scheinbar sichere Mehrheiten nützen dann nichts, weil die Bindungskräfte des parlamentarischen Prinzips in Großbritannien offenbar stärker sind als die der Parteien. In Deutschland ist es leider genau umgekehrt. So stimmt ein durchschnittlicher Hinterbänkler im Bundestag eher für den Weltuntergang, als sich im Widerspruch mit seiner Parteiführung zu befinden.

Funktionierende Medien machen Meinung kenntlich

„Törichte Konsequenz ist der Kobold kleiner Geister.“ Dieser Satz von Winston Churchill, geäußert als Antwort auf Vorwürfe über sein doppeltes „crossing the flor“, im Parlament – Churchill wechselte zweimal seine Parteizugehörigkeit ­– beschreibt in geradezu prophetischer Weise auch das Dilemma, in dem sich die aktuelle deutsche Politik befindet. Die Ursache für die Verschiebung und Zersplitterung der politischen Kräfte in Deutschland – was letztlich erst dazu geführt hat, dass die bewährte Art der Regierungsbildung in Deutschland nicht mehr funktioniert – wird weiterhin konsequent ignoriert oder umgedeutet.

Als Außenminister Gabriel bei Maybrit Illner davon sprach, dass die Menschen im Lande nicht „mit Liberalisierung und Privatisierung“ zurechtkämen und sich dies nun in der Politik widerspiegele, musste er sich nicht einmal das Lachen verkneifen. Denn ausgerechnet was die Liberalität unserer Gesellschaft angeht, sehen wir seit Jahren nur Rückschritte. Überall werden persönliche und auch unternehmerische Entscheidungen durch staatliche Regelung und Kontrolle ersetzt, immer mehr Wahlmöglichkeiten werden mit dem Hinweis abgeschafft, Regierung und staatliche Regulierungsbehörden wüssten es ohnehin besser.

Und selbst dort, wo es diese Wahl noch gibt, wird durch moralisierenden Druck und einen zu allem Hass bereiten, auf Linie gebrachten Mob aus NGOs und Journalisten (eine Chimäre aus Journalist und Aktivist) der Wille einer statistischen Mehrheit durch Beschimpfung, Ausgrenzung und Stigmatisierung exekutiert, wobei man in diesem Tun und Nichtlassenkönnen selbst vor Regierungschefs befreundeter Nachbarstaaten nicht halt macht.

So bewies es uns eindrucksvoll WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich. Eine funktionierende Demokratie erkennt man eben nicht daran, dass sie Mehrheiten bilden kann, sondern daran, wie sie mit Minderheiten umgeht. Funktionierende Medien erkennt man übrigens daran, dass ihre Führungsebene es schafft, Meinungen als solche kenntlich zu machen und ohne Pöbeleien zu transportieren.

Macrons sanfter Feldherrenhügel der Eloquenz

Indes kennt das Tremolo des Blätterwaldes in Sachen Brexit nur eine Schlussfolgerung: Die werden sich schon noch wundern, diese Briten! Und bereuen! Deshalb sollen sie bluten und zahlen! Der Tonfall ist klassische Scheidungsmusik, wie sie ein „verlassener Partner“ zu allen Zeiten angestimmt hat. Schuld hat nämlich immer der andere. Die Frage ist doch aber, ob Deutschland sich am Ende wirklich weniger „wundern“ wird, wenn die Briten erst mal weg sind. Der französische Präsident liefert seit Monaten eine Europarede nach der andern ab und spricht vom sanften Feldherrenhügel der Eloquenz von einer glänzenden Zukunft im europäischen Superstaat. Gemeinsamer hier, noch enger dort, Euro-Budget und EU-Finanzminister. Solchen Plänen hätte früher ein rechtzeitiges „shut up“ aus London die Spitze gebrochen, während heute alle Stimmen, die solchem Ansinnen skeptisch gegenüberstehen, diskreditiert werden. In Deutschland mehren sich die Stimmen, die dem französischen Ansinnen nur zu gern ein sanftes „oui“ zur Seite stellen möchten, allen voran Martin Schulz, der von den „Vereinigten Staaten von Europa“ träumt.

Auf eine neue Regierung wird man in Deutschland wohl noch eine Weile verzichten müssen, doch das ist nicht weiter schlimm. Schlimm ist, dass der gewählte deutsche Bundestag es nicht schafft, eine nur noch amtierende Regierung so unter Druck zu setzen, dass sich die Regierungsbildung beschleunigt und durch ein klares „Nein“ zum Macron’schen Traum von der fiskalen Super-EU die Weichen für die nächsten vier Jahre richtig gestellt werden – zu solchen Anstrengungen scheinen unsere Abgeordneten jedoch weder willens, noch in der Lage zu sein. In Großbritannien holt sich das Parlament die Kompetenzen zurück, die es bei der Durchsetzung nationaler Politik verloren hat. In Deutschland lässt es hingegen keine Gelegenheit aus, solche Chancen zu verpassen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt hier.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Stephan Müller / 22.12.2017

Das Verständnis der Mainstreammedien in Deutschland von Demokratie ist skandalös. Ich finde es sehr bemerkenswert, wie viele Intellektuelle das einfach so hinnehmen. Die verzerrte Wiedergabe der gesellschaftlichen Prozesse in USA, GB, neuerdings auch in A lassen eigentlich nur einen Schluss zu: Man fühlt sich berufen, eine Diktatur nach eigenem Gusto herbeizuschreiben oder zu schwafeln. Warum gehen so wenige Intellektuelle auf die Palme angesichts dieser klaren Bemühungen, die Demokratie abzuschaffen?

Wilhelm Lohmar / 22.12.2017

Zu der Twitterei von Frau Mikich: Gar nicht wird gar nicht zusammengeschrieben. Deutsche Rechtschreibung sechs. Setzen.

Martin Lederer / 21.12.2017

"Der alte deutsche Traum von Größe":In Schweden, dem anderen "Besserland" reden höchste Politiker ohne jeden Selbstzweifel von Schweden als "humanitarian superpower".Ich habe eine persönliche Theorie: Schweden war einmal eine militärische Großmacht (ähnlich wie Deutschland dann später). Schweden kann es nicht mehr sein, Deutschland darf es nicht mehr sein.Eventuell ist dieses "Bessermenschentum" eine Sublimation dafür, dass man anderen nicht mehr den Schädel einschlagen kann oder darf?Länder wie Finnland oder Polen, die um ihre schiere Existenz als Volk und Nation kämpfen mussten, haben so ein moralischen Übermenschentum nicht.

R. Bunkus / 21.12.2017

"Kübelweise fließt die deutsche mediale Häme, May habe ihren Laden nicht im Griff, sei geschwächt, denn „ihre eigenen Leute“ stellten sich gegen sie." - Der freie und demokratische Wettbewerb und politische Diskurs hat in Deutschland schon lange und fast überall keinen guten Stand. Man denke nur an Parteitage oder schon kleine Parteiversammlungen vor Ort. Der Wettbewerb um die besten Ideen wird von den Medien als "zerstritten" quittiert, eine echte (Aus)Wahl von Führungspersonen, die auch Richtungsentscheidungen beinhalten, als "Kampfkandidatur". Es ist schon soweit gediehen, dass bereits im Vorfeld von öffentlichen Versammlungen darum gebeten wird, etwaige Widerworte zu unterlassen, um nach außen bitte schön ein Bild der Geschlossenheit abzugeben. Herzlichen Glückwunsch Einheitspartei Deutschland!

Viola Heyer / 21.12.2017

Unvorstellbar, dass noch vor genau 10 Jahren Spiegel und FAZ in Leitartikeln vor der Islamisierung Europas und der angestrebten muslimischen Weltherrschaft warnten. Der Ex-Kanzler Schmidt und jahrzehntelange Zeit-Herausgeber sagte sogar: "Wir können nicht mehr Ausländer verdauen, das gibt Mord und Totschlag. Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze. Es war ein Fehler, dass wir Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten." Wie sich die Zeiten geändert haben ist unerklärlich.

Dr. Inge Frigge-Hagemann / 21.12.2017

Vielen Dank Herr Letsch für diesen sehr guten Artikel. Ich habe einige Zweifel, ob die 'Altparteien', NGOs und zahlreiche Medien in absehbarer Zeit zum 'gesunden Menschenverstand' zurückfinden.

Frank Müller / 21.12.2017

Sollten also Politiker wie Johnson und Farage uns Deutschen ein Vorbild sein? Und wenn's schon nicht weniger plakativ als "Scheidungsmusik" sein darf: GB verhält sich wie die Braut, die zwar ausziehen, aber doch das Haus behalten will.

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