Das Jahr 2020 ist zu Ende und auch in seiner letzten Woche war die Gedankenpolizei aufmerksam wie eh und je. Der erste Ausgestoßene der Woche ist das Buch „24 Gesetze der Verführung“ des amerikanischen Autors Robert Greene. Das 2001 im englischsprachigen Original und 2002 auf Deutsch bei Hanser (Hardcover) und dtv (Taschenbuch) erschienene Werk ist laut „Börsenblatt“ kürzlich von diesen beiden Verlagen aus dem Sortiment genommen worden. Das Buch sei aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) verschwunden. Auch die Buchladenkette Thalia wolle es nicht mehr verkaufen.
Vorangegangen war laut Börsenblatt eine Protestkampagne der Radiosendung „Schwester Suffragette“ und des Blogs „Feministisches Lesen“, der sich „reichweitenstarke Persönlichkeiten wie Silvi Carlsson und Ines Anioli“, sowie „die junge feministische She Said Buchhandlung“ angeschlossen hätten. Diese Akteure hätten dazu aufgerufen, negative Bewertungen für das Buch zu schreiben, Nachrichten an dtv und Hanser zu schicken, eine Petition zu unterzeichnen sowie die Kritik an dem Buch weiter zu teilen.
Für die feministischen Kritiker ist „24 Gesetze der Verführung“ eine „Anleitung zu psychischer Gewalt“, die „in niemandes Hände geraten“ und in keinem Bücherregal stehen dürfe. Scharf verurteilt wurden laut Börsenblatt Textstellen wie:
„Schüren Sie Angst und Unzufriedenheit [...] Angespannte Disharmonie müssen Sie dem Geist Ihres Opfers einpflanzen.“
„Isolieren Sie das Opfer – Eine isolierte Person ist schwach. Indem Sie Ihr Opfer nach und nach absondern, machen Sie es Ihren Einflüssen leichter zugänglich.“
Oder:
„Mischen Sie Lust und Schmerz – Der größte Fehler beim Verführen ist, zu nett zu sein. [...] Lassen Sie das Opfer sich unsicher und schuldig fühlen. Zetteln Sie einen Streit, gar eine Trennung an – wenn Sie nach der Versöhnung wieder zu Ihrer früheren Freundlichkeit zurückkehren, wird Ihr Opfer Ihnen auf Knien danken. Je abgrundtiefer die Qualen, umso himmelhöher die Freuden. Erzeugen Sie Angst, um die Erotik zu steigern.“
„Eine Fundgrube der Belehrung und des Genusses“
Das alles muss einem nicht gefallen. Die fast 20 Jahre alten Marketingtexte der deutschen Verleger legen allerdings nahe, dass das Buch wohl vor allem zur Unterhaltung gedacht und nicht ganz ernst gemeint ist (ich selbst habe es nicht gelesen). Laut Hanser zeigt Greenes Werk „wie man mit Charme und Überzeugungskraft andere Menschen beeinflussen und auf Abwege bringen kann“. „Wenn er es in seinem Fach zu hoher Kunst bringt, kann der Verführer Imperien stürzen, Wahlen gewinnen und große Menschen in seinen Bann ziehen“, bewarb dtv das Buch. Greene ziehe „das ganze Wissen, das sich im Lauf der Weltgeschichte über diese Kunst angehäuft hat“ heran, „von Cleopatra bis John F. Kennedy, von Ovid bis Casanova, von Kierkegaard bis Freud“.
Als die deutsche Übersetzung 2002 erschien, wurde sie noch hoch gelobt. „Eine Fundgrube der Belehrung und des Genusses“, urteilte die „Welt“. „Ein Instrumentarium ausgefeilter Verführungs- und Manipulationsstrategien. Die Regeln dieses großen, zutiefst amoralischen Spiels durchschauen zu können empfiehlt sich allein aus Selbstschutz“, meinte eine Rezensentin des Frauenmagazins „Gala“. Sogar die linksliberale „Süddeutsche Zeitung“ schrieb wohlwollend: „Reflexionen und Instruktionen im Plauderton wechseln mit amüsanten Nacherzählungen exemplarischer Verführungsgeschichten und Verführerschicksale. [...] In die Geschichte der Überraschung und der Geduld führt Robert Greenes Bestseller-Anwärter auf vergnügliche Art ein.“
Doch, wie Hanser und dtv am 18. Dezember 2020 in einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten:
„Zeiten ändern sich. Die gesellschaftliche Debatte zu toxischen Beziehungen und psychischem Missbrauch hat zu Recht zugenommen, ebenso die Erforschung dieser Felder. Damit einher geht eine gestiegene Sensibilität – die einen solchen Umgang mit dem Gegenstand fragwürdig macht. Das geht auch uns so. Wir haben das Buch nun erneut betrachtet, in beiden Verlagen diskutiert und werden es nicht weiter verkaufen.“
Nun, die Zeiten ändern sich tatsächlich. Zugenommen hat vor allem die Politisierung und Moralisierung von allem und jedem, ausgehend von lautstarken, aktionistischen Kreisen, die ihr eigenes „progressives“ Weltbild bierernst nehmen. Man scheint dort ein seltsam mechanistisches Bild der menschlichen Psyche zu haben, demnach Menschen ständig irgendwelche äußeren Einflüsse nachäffen.
Sich linksliberal-„progressiv“ Wähnende
Interessanterweise waren es lange Zeit eher Konservative, die so dachten, und z.B. Moralpaniken um sogenannte „Killerspiele“ schürten. Heute sind es allerdings vor allem die sich linksliberal-„progressiv“ Wähnenden, in deren Weltbild kaum Raum für moralische Autonomie ist, also für die Vorstellung, dass (andere) Menschen in ihrem Denken und Handeln zumeist souverän sind, die Dinge selbst bewerten wollen und daher nicht alles glauben, übernehmen oder weiterverbreiten, was ihnen irgendwo begegnet.
Wie früher bei den Konservativen gebiert ein solches Denken einen zensorischen Paternalismus. Man ist von dem Drang beseelt, seine Mitmenschen vor den „falschen“, „schädlichen“ kulturellen Einflüssen abzuschirmen. Für die Aktivisten, die nun die Auslistung von „24 Gesetze der Verführung“ erwirkt haben, habe ich als studierter Psychologe allerdings eine Botschaft: Es gibt einfach einen bestimmten Prozentsatz von Menschen, die eine psychopathische Persönlichkeitsstörung, oder deren schwächere Form, die sogenannte dissoziale Persönlichkeitsstörung, haben. Auch die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die histrionische Persönlichkeitsstörung werden von Klinikern mit manipulativem Verhalten und emotionalem Missbrauch des sozialen Umfelds in Verbindung gebracht. Mit den Manipulationsversuchen dieser Menschen müssen alle anderen umgehen lernen, denn solche gestörten und z.T. tatsächlich gefährlichen Zeitgenossen wird es immer geben. „24 Gesetze der Verführung“ aus dem Bücherregal zu entfernen, wird daran nichts ändern.
In Großbritannien sollen indessen Fans des Fußballclubs Cambridge United politisch umerzogen werden. Wie die „Daily Mail“ erklärt, hatten „eine Handvoll“ Anhänger des Vereins, der in der vierten und damit untersten englischen Profi-Liga spielt, am 15. Dezember Spieler ausgebuht, die vor der Partie gegen Colchester United niederknieten. Diese Fans sollen nun für den Rest der Spielsaison Stadionverbote bekommen oder Seminare über „Diskriminierung und Gleichheit“ besuchen müssen, bevor sie wieder zurück dürfen (aufgrund der steigenden Covid-19-Fallzahlen werden Fußballspiele in der Grafschaft Cambridgeshire allerdings auf absehbare Zeit ohnehin vor leeren Rängen stattfinden).
Das Niederknien vor dem Anpfiff gilt als Sympathiebekundung mit der amerikanischen Protestbewegung Black Lives Matter (BLM) und ist in den vergangenen Wochen von britischen Fußballfans nicht immer gut aufgenommen worden. So wurden kniende Spieler u.a. beim Match Colchester – Grimsby Town, sowie bei einer Partie der Zweitligisten FC Millwall und Derby County ausgebuht.
Maoistisches Vorgehen
Die Fanorganisation „Millwall Supporters' Club“ hat erklärt, dass das Ausbuhen der Spieler nicht von Rassismus motiviert war, sondern von „Opposition gegen die politischen Ansichten der Black Lives Matter Organisation“. Zu den Zielen von BLM gehört u.a. die „Demontage des Kapitalismus“. Der britische Ableger fordert, Gefängnisse, Polizei und Einwanderungskontrollen abzuschaffen und hat in der Vergangenheit versucht, den Flugverkehr an Londoner Flughäfen zu stören, weil Schwarze die ersten Opfer der „Klimakrise“ seien.
Mich überrascht nicht, dass Menschen, die ins Stadion gehen, um Fußball zu sehen, sich gegen das Eindringen exzentrischer „progressiver“ Ideologie in einen weiteren, eigentlich größtenteils unpolitischen, Lebensbereich wehren. Aber wer BLM nicht vollumfänglich toll findet, gilt heute offenbar bereits als Rassist. „Fans sollen also den politischen Meinungen der Spieler ausgesetzt werden, dürfen aber ihre eigenen nicht ausdrücken“, kommentiert ein Leser namens Jeff-M bei der Daily Mail treffend das maoistische Vorgehen des Vereins.
Und auch in den USA haben sich, wie fast jede Woche, die Wokegardisten mit ihren absurden politischen Forderungen durchgesetzt. Das „Wall Street Journal“ (WSJ) berichtet vom Wüten einer radikalen Kampagne namens #DisruptTexts. „Ideologen der kritischen Theorie, Lehrer und Twitter-Agitatoren“ verlangten unter diesem Slogan die Säuberung von „klassischen Texten“ aus den Schullehrplänen. Anstößig seien aus Sicht der Aktivisten u.a. Autoren wie William Shakespeare, F. Scott Fitzgerald, Dr. Seuss, sogar der antike griechische Dichter Homer.
Laut WSJ konnten die Kulturrevolutionäre von #DisruptTexts kürzlich mindestens einen Erfolg verbuchen. Eine High School in Lawrence, Massachusetts, habe auf Druck der Kampagne Homers Versepos „Odyssee” aus dem Lehrplan genommen. Es lebe der Fortschritt! #DisruptTexts gibt übrigens auch den Erziehungsratgeber „Antiracist Baby“ heraus. Mutig! Der Kampf „gegen Rechts“ kann nicht früh genug anfangen. Sonst werden wir noch von Nazis in Latzhosen überrannt.