Wie diese Woche bekannt wurde, hat die schwäbische Unternehmensgruppe Ravensburger, die verschiedene sogenannte Lizenztitel zu „Der junge Häuptling Winnetou“ vertreiben darf, nach Protesten entschieden, diese Artikel vom Markt zu nehmen.
Seit dem 11. August läuft in den deutschen und österreichischen Kinos „Der junge Häuptling Winnetou“. Der Kinderfilm ist, wenn man der Mehrheit der Rezensenten glauben mag, wohl etwas steif und schablonenhaft geraten. Er lässt offenbar kein Western-Klischee aus und zielt, wie Rochus Wolff auf filmdienst.de mutmaßt, in seinem Marketing wohl vor allem auf ein erwachsenes Publikum, das warme, nostalgische Erinnerungen an die Abenteuer des fiktiven Apachen-Häuptlings Winnetou hegt, und nun mit den Kids ins Kino geht, um diese in die von Karl May geschaffene Western-Märchen-Welt einzuführen, in die man selbst als Kind eingetaucht ist.
In den westdeutschen Verfilmungen des Karl-May-Stoffes, entstanden in den 1960ern, stellte noch der braungebrannte Franzose Pierre Brice den Winnetou dar, Drehs in den zerklüfteten Landschaften Jugoslawiens ersetzten die Notwendigkeit, mit größerem logistischen und finanziellen Aufwand im „echten“ Wilden Westen zu drehen, und jugoslawische Statisten durften die meisten der restlichen Indianer spielen – naheliegend, denn auch diese südosteuropäischen Völker sind oft braungebrannt, und ihr heldenhafter Partisanenkampf gegen die faschistische Besatzung 1941 bis 1945 hatte durchaus etwas Indianisches an sich. Für die Neuauflage von 2022 hat man in der autonomen spanischen Region Andalusien einen neuen Low-Budget-Wilden-Westen gefunden, und die „Rothäute“ werden von Deutschen dargestellt – plus ça change…
Aber wir leben heute im Zeitalter der woken Dauerempörung. Und so darf das Werk des sächsischen Hochstaplers, Kleinkriminellen und gerissenen Lebenskünstlers Karl May – der über das Verfassen von frei erfundenen Kolportageromanen über seine angeblichen Erfahrungen im Orient und der Neuen Welt schließlich zu einer bürgerlichen Existenz fand, und über das Christentum zu einem von Gedanken des Pazifismus und der Völkerverständigung geprägten Weltbild, das für seine Zeit fortschrittlich und aufgeklärt war –, nicht einfach das sein, was es ist: Fantasievolle, mitreißende, wenn auch oft ziemlich kitschige Unterhaltung.
Mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt
Wie diese Woche bekannt wurde, hat die schwäbische Unternehmensgruppe Ravensburger, die verschiedene sogenannte Lizenztitel zu „Der junge Häuptling Winnetou“ vertreiben darf, nach Protesten entschieden, diese Artikel vom Markt zu nehmen. Nach Angaben von ntv handelt es sich um ein Kinderbuch ab acht Jahren, ein Erstleserbuch, ein Puzzle sowie ein Stickerbuch, die sich auf das Fantasieuniversum des Films beziehen.
Auf Instagram teilt das Unternehmen mit:
„Wir haben die vielen negativen Rückmeldungen zu unserem Buch ‚Der junge Häuptling Winnetou‘ verfolgt und wir haben heute entschieden, die Auslieferung der Titel zu stoppen und sie aus dem Programm zu nehmen.
Wir danken Euch für Eure Kritik. Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht und das ist auch nicht mit unseren Ravensburger Werten zu vereinbaren. Wir entschuldigen uns dafür ausdrücklich.
Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung. Die Kolleg*innen diskutieren die Folgen für das künftige Programm und überarbeiten Titel für Titel unser bestehendes Sortiment. Dabei ziehen sie auch externe Fachberater zu Rate oder setzen ‚Sensitivity Reader‘ ein, die unsere Titel kritisch auf den richtigen Umgang mit sensiblen Themen prüfen. Leider ist uns all das bei den Winnetou-Titeln nicht gelungen. Die Entscheidung, die Titel zu veröffentlichen, würden wir heute nicht mehr so treffen. Wir haben zum damaligen Zeitpunkt einen Fehler gemacht und wir können euch versichern: Wir lernen daraus!“
Man müsste jedes Buch verbieten
Aus der (überwiegend verständnislosen) überregionalen Berichterstattung geht hervor, dass die Zahl der Instagram-Nutzer, die sich über die Winnetou-Titel und Paraphernalien empört hatten, wohl nicht besonders groß war. Viele Artikel über die Causa erwähnen, dass die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW), trotz nach eigener Aussage „sehr langer Diskussion“ und „absolut gespaltener“ Jury, dem Film schließlich das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen hatte.
Besonders lesenswert ist aus meiner Sicht ein scharfsinniger Kommentar des Berliner Morgenpost-Journalisten Jonas Erlenkämper, der unter anderem bemerkt, dass wenn man die Logik der empörten Woken konsequent weiterdenkt, man jedes Buch verbieten müsste, „das in einer vergangenen Epoche spielt und nicht ausdrücklich die größten Gräueltaten der damaligen Zeit behandelt. Geschichten über den Wikingerjungen Wickie könnten sich also bald erledigt haben, wenn die brandschatzenden Raubzüge der nordischen Krieger darin nicht im Vordergrund stehen.“
Konservativ ist gleich räächts
Es gibt allerdings nicht nur woke Verlage in Deutschland, sondern auch woke Einzelhandelsketten. Eine der wokesten davon ist Rewe, und diese wurde diese Woche von einem Twitter-Nutzer davon in Kenntnis gesetzt, dass in ihren Regalen das liberal-konservative Meinungsmagazin Tichys Einblick zum Verkauf ausliegt. Einige Rewe-Filialen werden zentral von der Rewe Group betrieben, andere von unabhängigen Franchisenehmern. Ob Tichys Einblick Teil des regulären Warensortiments bei Rewe ist, oder der Vertrieb auf individuelle Ermessensentscheidungen von Franchisenehmern zurückgeht, konnte ich leider nicht herausfinden.
Wie dem auch sei, konservativ ist gleich räächts, und darf daher nicht sein. „Um welchen Markt geht es denn genau? Dann würden wir da einmal nachhören. Danke!“, antwortete der offizielle Twitter-Account der Rewe Group pflichtschuldig dem Denunzianten. Komisch, denn 2020 hatte Rewe in einem ähnlichen Fall (meines Wissens juristisch korrekt) argumentiert: „Vor dem Hintergrund der uneingeschränkten Pressefreiheit dürfen Zeitschriften von uns nicht boykottiert oder aus dem Sortiment entfernt werden. Jeder Eingriff dieser Art ist eine Zensur und damit strafbar.“
Gesperrt wegen Kritik an mRNA-Impfstoffen
Auf Twitter wurde diese Woche Michael Immel, Sprecher der Corona-Protestpartei dieBasis in Mönchengladbach, gesperrt, wie seine Parteifreundin Mona Aranea mit einem bei Telegram geposteten Screenshot belegt. Der Grund für die Sperre war folgende auf die mRNA-Impfstoffe bezogene Aussage, die ich als medizinischer Laie nicht bewerten möchte: „Was wir aber wissen, ist, dass die Spikes toxisch sind und über das Blut – anders, als bei der natürlichen Infektion – in alle Organe gelangen.“ Die Sperre ist inzwischen aufgehoben.
Entsprachen nicht unseren Gemeinschaftsstandards
Auf Facebook wurde am Sonntag der Account der liberal-konservativen Bloggerin Anabel Schunke, die auch für Achgut.com schreibt, gesperrt. Als Begründung gibt das soziale Netzwerk schmallippig an: „Einige Ihrer früheren Beiträge oder Kommentare entsprachen nicht unseren Gemeinschaftsstandards.“ (siehe Screenshot auf Telegram)
„Grobe Karikatur der Weiblichkeit“
In Großbritannien wurde Cathy Boardman, Dozentin für Kulturwissenschaften an der Musikakademie BIMM Institute, entlassen, wie die Daily Mail letzte Woche berichtete. Boardman hatte vor Studenten am Uni-Standort Manchester bemerkt, dass das Auftreten von Dragqueens eine „grobe Karikatur der Weiblichkeit“ sei. Mit dem Begriff „Womanface“ zog sie Parallelen zwischen dem überzogenen, klischeehaft femininen Auftreten einiger Trans-Frauen und der rassistischen Praxis des Blackfacing. Jetzt wird ihr Transphobie vorgeworfen, sowie Homophobie, was seltsam ist, denn die Dozentin ist selbst lesbisch. Boardman meint: „Im Grunde genommen wurde ich gefeuert, weil ich meinen Job gemacht habe. Wir sollen die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Wenn wir das nicht tun, was ist dann der Sinn einer Universität?“ Sie will rechtlich gegen die Entlassung vorgehen.
Zitieren von Textpassagen inklusive N-Wort
Am privaten Claremont McKenna College im US-Bundesstaat Kalifornien wehren sich indessen drei Professoren gegen Sanktionen, mit denen sie belegt wurden, nachdem sie im Rahmen ihrer Lehre bekannte literarische Texte, die den verunglimpfenden, rassistischen Begriff „Nigger“ enthalten, zitiert hatten. Der Politikwissenschaftler Christopher Nadon ist für die Dauer eines hochschulinternen Untersuchungsverfahrens beurlaubt. Sein Vergehen war es, während einer Diskussion über literarische Zensur aus „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ zitiert zu haben, einem Roman mit einer klaren antirassistischen Botschaft.
Der Literaturwissenschaftler Robert Faggen wurde vom Claremont McKenna College verwarnt, weil er Studenten eine Aufnahme vorspielte, in der der Dichter Robert Lowell (ein weißer Unterstützer der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung) sein Gedicht „For the Union Dead“ vorträgt – auch dieses enthält, ohne rassistische Absicht, das sogenannte N-Wort.
Die dritte Person ist die Literaturwissenschaftlerin Eva Revesz, die wegen Zitierens von Textpassagen inklusive N-Wort aus dem Südstaaten-Drama „Die Farbe Lila“ entlassen wurde. Das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Werk wurde von der Afroamerikanerin Alice Walker verfasst.
Die drei Professoren werden in ihrer Auseinandersetzung mit dem College von der liberalen Bürgerrechtsorganisation Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE) unterstützt, die die Fälle auf ihrer Webseite vorstellt.
„Weiße Gäste sind in den Gemeinschaftsräumen nicht erlaubt“
Im kalifornischen Berkeley haben weiße Gäste keinen Zutritt zu den Gemeinschaftsräumen des „Person of Color House“, einem Wohnheim, konzipiert für bis zu 56 farbige Studenten, das von der als gemeinnützig anerkannten Wohnungsbaugenossenschaft „Berkeley Student Cooperative“ betrieben wird. Über die Story berichteten verschiedene Medien, darunter The College Fix, nachdem diese Woche ein Foto der „Regeln für Gäste“ des „Person of Colour House“ auf Reddit gepostet wurde.
In einem Abschnitt mit der Überschrift „Gäste in Gemeinschaftsräumen“ heißt es in dem abfotografierten Aushang: „Gäste sind in den Gemeinschaftsräumen erlaubt, aber achten Sie bitte darauf, ob sich bereits Mitglieder des Hauses in dem Raum befinden. Weiße Gäste sind in den Gemeinschaftsräumen nicht erlaubt (siehe Einleitung).“ In der Einleitung der Regeln steht unter anderem, dass viele Bewohner des Hauses eingezogen sind, „um weißer Gewalt und Anwesenheit zu entgehen“. Wenn Bewohner einen Gast mitbringen, sollen sie ihn im Hausgast-Chat ankündigen und vermerken, „ob er weiß ist“. Die „Berkeley Student Cooperative“ steht in keiner offiziellen Verbindung mit der renommierten University of California, Berkeley.
Sprecher für Forstpolitik rausgeworfen
Last but not least: In der kanadischen Provinz British Columbia hat die als mitte-rechts geltende Liberal Party ihren Sprecher für Forstpolitik John Rustad rausgeworfen. Das Vergehen des Politikers war es, den Artikel „A Clear Case of Hot, Hotter … Hoodwinked“ (Ein klarer Fall von Heiß, heißer ... Verarscht) aus dem Magazin Quadrant retweetet zu haben, der sich mit der Tatsache beschäftigt, dass es in den letzten zehn Jahren in Australien laut Satellitenmessungen keine signifikante Klimaerwärmung gegeben hat. Der Vorsitzende der British Columbia Liberal Party, Kevin Falcon, wirft Rustad vor, die Bemühungen der Partei beim Klimaschutz zu sabotieren. Rustad selbst meint, er habe mit dem Retweet nur ein Gespräch anstoßen wollen. Er gehört dem Provinzparlament nun als Parteiloser an. (Quelle: Saanich News)
Und damit endet der wöchentliche Überblick des Cancelns, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Mehr vom Autor dieser wöchentlichen Kolumne Kolja Zydatiss zum Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur lesen Sie im Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro Verlag, März 2021). Bestellbar hier. Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de.