Als George Bush, der Jüngere, vor zwanzig Jahren bekanntgab, dass er Soldaten nach Afghanistan schicken wird, holte ich mir ein altes Buch aus dem Regal: „Caravans“ (Karawanen in der Nacht) von James Michener. Der historische Roman spielt in Afghanistan und erzählt (nicht nur, aber sehr deutlich) vom totalen Scheitern der Briten am Hindukusch. Uns wurde zwar vom SPD-Verteidigungsminister Peter Struck erzählt, dass wir unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigen. Eine schöne Begründung für die deutsche Teilnahme an dem militärischen Ausflug nach Afghanistan. Aber da offenbar keiner James Michener oder ein Geschichtsbuch gelesen hat, ahnte man nicht, dass dies ein sehr langer, sehr teurer, sehr tödlicher und am Ende vergeblicher Ausflug sein würde. Am Hindukusch, das lehrt nicht nur Michener sondern auch die Geschichte, ist kein Blumentopf zu gewinnen.
Schon ein paar Jahre vorher, also auch vor der Michener-Lektüre, habe ich einen ähnlichen Eindruck gewonnen, wenn auch nur anekdotisch, aber immerhin persönlich. Das war bei einer journalistischen Reise Anfang der Achtziger Jahre nach Pakistan, an die Grenze nach Afghanistan: Beim Besuch der dortigen Flüchtlingslager in und um Peschawar, in denen die afghanischen Pathanen, wie wir damals die Paschtunen nannten, auf ihre Kampfeinsätze jenseits der Grenze warteten. Sie trugen den schönen Namen Freiheitskämpfer, weil sie, unterstützt von den Amerikanern, gegen die russischen Besatzer ihres Landes kämpften. Und ich muss sagen: Beim Betrachten dieser knochenharten, bärtigen Burschen aus den unzugänglichen Gebirgstälern Zentralasiens habe ich mir gedacht: Na, ihr Russen, ob das mit eurem Afghanistan-Abenteuer mal gut geht?
Natürlich sind die Russen genauso gescheitert wie seinerzeit die Briten. Auch wegen der amerikanischen Unterstützung der Freiheitskämpfer, aber mehr noch, weil diese Kämpfer nicht kleinzukriegen sind. Nun war die Freiheit, die die Pathanen erkämpften, keine Freiheit für alle. Die Frauen Afghanistans hatten unter der kommunistischen Oberaufsicht eine nie gewohnte Freiheit erlebt. Sie konnten studieren, unverschleiert umherlaufen und, wenn ihnen der Sinn und die Beine danach standen, kurze Röcke tragen. Als die Freiheitskämpfer wieder das Kommando übernahmen, war es aus mit der Freiheit der Frauen. Sie wurden zurück in die Burka und in das streng islamische Sittengefängnis verfrachtet.
Afghanistan sollte zu einem Hort der Demokratie werden
Das hat den Rest der Welt nicht weiter gestört. Afghanistan kam erst wieder in den Fokus, als Osama Bin Ladens islamistische Terror-Truppen im Jahr 2001 das World Trade Center zerstörten und Washington angriffen. 3.000 Tote, eine ins Herz getroffene Nation und ein verwirrter Präsident. Zur Verwirrung gehörte auch, dass George Bush zunächst den Umweg über den Irak nahm, ein politisches Privatvergnügen, das viele Menschenleben kostete und wenig brachte.
Das offizielle Ziel, den Oberterroristen Bin Laden zur Strecke zu bringen, wurde ewig lange nicht erreicht und vorübergehend fast ganz aus den Augen verloren. An die Stelle dieser zielgenauen Jagd trat das sogenannte Nation-building. Afghanistan sollte zu einem Hort der Demokratie und der Frauenrechte werden. An diesem hehren Ziel wurde seither zwanzig Jahre lang gearbeitet, wieder mit einem hohen Preis an Menschenleben. Und wieder vergebens. Die Afghanen scheinen sich mit der westlichen Demokratie so wenig anfreunden zu können wie seinerzeit mit dem Kommunismus und davor mit den britischen Herrschaften. Jetzt wartet auf die Bevölkerung eine korrupte heimische Regierung, die nicht lange gegen die bitter entschlossenen Taliban wird bestehen können. Taliban – das ist der heutige Schreckensname der vormaligen Freiheitskämpfer.
So ein Projekt Nation-building ist immer problematisch und dies ganz besonders in einem Land wie Afghanistan mit seinen uralten, islamischen und vorislamischen Traditionen. Die heutigen Demokratien haben sich allesamt selber erschaffen müssen. Mit einer Ausnahme, der deutschen. Westdeutschland hatte das Glück, nach einem idiotischen Krieg und der passenden Niederlage in die Demokratie befohlen worden zu sein. Aber auch das gelang nur, weil Deutschland vorbereitet war. Mindestens zwei denkwürdige Versuche, der von 1848 und der von 1918, haben Deutschland demokratisch angefixt und nach dem Nazi-Desaster überreif für eine Alternative gemacht. (Die Ostdeutschen, mit immerhin der gleichen Vorgeschichte, haben es deutlich später aus eigener Kraft geschafft.) Aber sonst? Der arabische Frühling ist im Sande verlaufen, obwohl Bushs Soldaten schließlich an Stelle von Osama Bin Laden diesen fürchterlichen Kerl Saddam Hussein aus einem Erdloch gezogen haben. (Bin Laden wurde 2011 in der Operation Neptune nicht in Afghanistan sondern in Pakistan gestellt und ins Jenseits befördert. Wie viele Jungfrauen dort sehnsüchtig auf ihn warteten, weiß man nicht.)
Was im Inneren nicht erreicht wird, wird nie wirklich erreicht
Aber auch nach dem Ende Bin Ladens konnte man von Afghanistan nicht lassen. Das Nation-building sollte ja dazu dienen, den Westen ein für allemal vor einem weiteren 11. September zu schützen. Auch wollte man den Drogenhandel unter Kontrolle bringen, ein fast so aussichtsloses Unterfangen wie das Demokratie-Projekt selber. Ob Opium, ob schwarzer Afghane: Die Materiallieferungen für westliche Rauschbedürfnisse sind nicht das einzige, aber ein kaum zu unterdrückendes Lebenselexier der Hindukusch-Wirtschaft.
So kann man sagen: 20 blutige Kriegsjahre in Afghanistan, die – anders als in den USA – bei uns nie offiziell als Kriegseinsatz bezeichnet wurden, enden nun mit einem Rohrkrepierer. 20 Jahre und kein bisschen weiter. Die Soldaten vor Ort haben ihr Bestes gegeben, aber ihr Auftrag war hoffnungslos. Das größte Bedauern muss den afghanischen Frauen gelten, die nach dem Abzug der westlichen Truppen am meisten zu verlieren haben. Sie haben nach der kurzen Kommunistenzeit noch einmal, und diesmal sogar ausgiebiger, Emanzipation und Freiheit schnuppern dürfen. Nun wird es wohl wieder zurückgehen in das Serail.
Aber auch in dieser traurigen Angelegenheit muss man sagen: Selbst die Befreiung der Frauen kann auf Dauer nicht allein von außen erreicht werden. Die Frauen in Europa und Amerika waren zwar nie so unterdrückt wie ihre Geschlechtsgenossinnen unter dem Islam. Aber die Unterdrückung war übel genug. (Heute gibt es allenfalls noch Nachhutgefechte, zuweilen an kuriosen Fronten.) Ihre Befreiung aber mussten sich die Frauen des Westens selber erkämpfen – unter Spott und Opfern. Die Frauen (nicht nur) Afghanistans haben es ungleich schwerer. Aber was im Inneren nicht erreicht wird, wird nie wirklich erreicht. Den afghanischen Vollbartträgern ein gründliches Brainwashing zu verabreichen, wäre eine lohnende Aufgabe, die aber noch schwieriger ist als das Nation-building und der Kampf gegen die Klatschmohnfelder.
Der erste Knacks im britischen Weltreich
Kurz und gut: Ein paar Stündchen Michener-Lektüre hätte dem einen oder anderen zwanzig Jahre bitterer Erfahrung ersparen können. Wer es lieber literarisch wertvoller haben möchte, kann sich auch Theodor Fontane vornehmen, der in seiner Ballade „Das Trauerspiel von Afghanistan“ etwas zugespitzt schrieb: „Mit dreizehntausend der Zug begann. Einer kam heim aus Afghanistan.“
Das Gedicht galt dem 1842 endgültig gescheiterten Versuch der Briten, Afghanistan zu knacken. Daraus wurde der erste Knacks im britischen Weltreich. Aber welcher Politiker lässt sich schon von Romanen oder Gedichten beeinflussen? So war es wohl unausweichlich, dass Russland 1979 sein Unglück dort versuchte. Nach zwei Jahren verließen die Kommunisten frustriert und geschlagen das Land. Amerika und die NATO-Truppen haben der russischen Zwei noch 'ne Null drangehängt. 20 Jahre! Und wer weiß, ob Joe Biden nach, wie er klar ausspricht, „Amerikas längstem Krieg“ das Rückzugssignal gegeben hätte, wenn sein viel geschmähter Vorgänger Donald Trump ihm mit seiner eigenen Ankündigung politisch nicht den Weg geebnet hätte. Aber das ist eine andere Geschichte.